Kindesentwicklung: »Auge um Auge« hat Priorität
Wie du mir, so ich dir: Nach dem Prinzip handeln Kinder bereits im Vorschulalter. Doch diese »direkte Reziprozität« entwickelt sich zunächst ziemlich einseitig, wie eine Reihe von Experimenten in »Psychological Science« zeigt. Demnach zahlen Kinder schon früh ein erfahrenes Unrecht mit gleicher Münze heim – nicht aber eine Wohltat.
Das Team um Entwicklungspsychologin Nadia Chernyak von der University of California in Irvine ließ vier- bis achtjährige Kinder am Computer mit vier virtuellen Avataren zusammenspielen, bei denen es sich vermeintlich um andere Kinder handelte. Zunächst halfen die Avatare den jungen Versuchspersonen, oder sie stahlen ihnen etwas. In der folgenden Spielphase konnten die Kinder nun ihrerseits den Wohl- oder Übeltätern etwas geben beziehungsweise wegnehmen. Im Lauf der fünfteiligen Experimentreihe zählten Kinder und vermeintliche Mitspieler mal zur gleichen, mal zur gegnerischen Gruppe, oder sie gehörten gar keiner Gruppe an.
»Schon die Jüngsten waren hoch motiviert, eine erfahrene Ungerechtigkeit zu korrigieren, und wandten sich dabei überzufällig oft gegen den Übeltäter«, berichten die Forschenden. Sie hatten allerdings erwartet, dass auch die Jüngeren ihren Förderern in der nächsten Runde Gutes tun würden. Doch das, so schreiben sie, ließ sich in keinem der Experimente belegen. Die Kinder zeigten sich nur selten erkenntlich, selbst gegenüber ihrer eigenen Gruppe. Und das, obwohl sie offenkundig zu gezielten reziproken Handlungen in der Lage waren, wie die Racheaktionen zeigten.
Chernyak und ihre Kollegen schließen daraus: »Bis zum Alter von sieben Jahren scheinen Kinder noch nicht zu begreifen, dass sie einen Gefallen erwidern sollten.« Sie verhielten sich daraufhin zwar altruistischer – nur nicht gezielt gegenüber dem Wohltäter. Umgekehrt erwarteten sie selbst auch keinen direkten Dank. Dabei wüssten Kinder schon mit dreieinhalb Jahren um die Norm der positiven Reziprozität, erklären die Forschenden. Aber sie könnten diese Norm noch nicht auf die eigene Person beziehen.
Das Fazit der Autoren: Hinter »Auge um Auge« und »Hilfst du mir, so helf ich dir« stecken zwei unterschiedliche psychologische Mechanismen. Rache habe Priorität, um weiteren Ungerechtigkeiten vorzubeugen. Für Eltern besteht also kein Grund zur Sorge, wenn die Jüngsten gezielt Rache üben, aber gute Taten nicht erwidern.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.