Direkt zum Inhalt

Teilchenphysik: Seltener Teilchenzerfall könnte auf neue Physik hindeuten

Am CERN haben Fachleute den bisher seltensten Teilchenzerfall gemessen. Dieser trat häufiger auf als von theoretischen Modellen vorhergesagt. Ist das ein Hinweis auf neue Teilchen?
Eine Visualisierung einer Teilchenkollision mit Spuren der Zerfallsprodukte
Seltene Teilchenzerfälle könnten Hinweise auf neue Physik liefern.

Die Fachleute am NA62-Experiment suchen regelrecht nach der Nadel im Heuhaufen: Nur bei etwa einem von zehn Milliarden Zerfällen geht ein bestimmtes Teilchen namens Kaon in ein Pion und ein Neutrino-Antineutrino-Paar über. Damit zählen solche Ereignisse zu den seltensten Zerfällen der Physik – und sie könnten wertvolle Hinweise auf neue exotische Teilchen liefern, welche die bisherigen theoretischen Beschreibungen der Teilchenphysik erweitern.

Forschende am CERN haben etwa eine Billion Kaon-Zerfälle untersucht und konnten erstmals 51 dieser extrem seltenen Aufspaltungen in Pion und Neutrino-Antineutrino-Paar nachweisen, wie sie in einem Seminar berichteten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um Fehlmessungen handelt, beträgt den Fachleuten zufolge eins zu zehn Millionen – damit haben sie den Goldstandard von »5σ« statistischer Signifikanz geknackt, ab der eine Entdeckung in der Teilchenphysik als gesichert gilt. »Die Messung macht diesen Kaon-Zerfall zum seltensten je eindeutig nachgewiesenen Zerfall«, sagt die Teilchenphysikerin Cristina Lazzeroni von der University of Birmingham. Und tatsächlich fanden die Forscherinnen und Forscher eine kleine Abweichung von der Theorie: Sie beobachteten eine um etwa 50 Prozent höhere Zerfallsrate als erwartet.

Seit 2016 zeichnen die Fachleute am CERN die Daten aus dem Super Proton Synchrotron (SPS) auf, einem mit knapp sieben Kilometer Umfang verhältnismäßig kleinen Beschleunigerring der europäischen Forschungseinrichtung. Mit den extrem hohen Energien, den der riesige Beschleuniger Large Hadron Collider erzeugt, kann der SPS nicht mithalten, aber das muss er auch nicht. »In der Hochenergiephysik gibt es zwei Möglichkeiten, neue Entdeckungen zu machen«, erklärte der 2018 verstorbene Physiker Ferdinand Hahn in einem Video des CERN. »Die eine besteht darin, zu den größtmöglichen Energien zu gelangen und neue Teilchen zu erzeugen – so, wie der LHC das Higgs-Teilchen entdeckte. Ein anderer Weg besteht darin, sehr seltene Prozesse zu untersuchen.« Letztere Strategie verfolgen die Fachleute am NA62 genannten Experiment.

Neue Teilchen könnten Zerfälle erhöhen

Die im SPS erzeugten Kaonen fliegen dabei durch einen 270 Meter langen Aufbau, der von Detektoren umgeben ist. Die Teilchen bestehen aus Quarks – den Grundbausteinen von Atomkernen, aus denen sich auch Protonen und Neutronen zusammensetzen. Im Gegensatz zu Letzteren enthalten Kaonen aber nicht drei, sondern lediglich zwei Quarks. Für das NA62-Experiment waren Kaonen aus einem Anti-Strange-Quark und einem Up-Quark interessant. Denn wie theoretische Physiker berechneten, haben diese eine Wahrscheinlichkeit von etwa 8,6·10–11, in ein Pion (bestehend aus einem Up- und einem Anti-Down-Quark) sowie ein Neutrino und ein Antineutrino zu zerfallen.

Solche Zerfälle könnten sich allerdings häufiger ereignen, wenn es mehr Teilchen gäbe als im bisherigen Standardmodell der Teilchenphysik gelistet. Zum Beispiel könnten hypothetische Partikel, wie sie die Supersymmetrie (ein Bestandteil der Stringtheorie) vorhersagt, dazu führen, dass Kaonen über diese neuen Teilchen weitere Möglichkeiten erhalten, in ein Pion und ein Neutrino-Antineutrino-Paar zu zerfallen, wie die theoretischen Physiker Tomáš Blažek und Peter Maták 2014 gezeigt haben.

Das Standardmodell der Teilchenphysik

Das Standardmodell enthält alle bisher bekannten Elementarteilchen. Links oben sind die sechs Quarks Up (u), Down (d), Charm (c), Strange (s), Top (t) und Bottom oder auch Beauty (b) verzeichnet. Sie können jeweils drei verschiedene Farbladungen besitzen (Rot, Grün oder Blau). Diese Ladung bestimmt, wie sie an Gluonen (g) koppeln, die selbst zwei Farbladungen tragen. Neben der durch die Gluonen vermittelten starken Kernkraft unterliegen die Quarks der schwachen Kernkraft und dem Elektromagnetismus. Ihre elektrische Ladung beträgt entweder 2/3 oder –1/3 der Elektronenladung. Die Masse der sechs Quarks variiert stark, vom leichtesten Up-Quark mit 2,2 MeV/c2 bis zum schweren Top-Quark mit über 170 GeV/c2.

Außerdem gibt es sechs verschiedene Leptonen: das Elektron (e), das Myon (μ), das Tauon oder Tau (τ) und für jedes dieser Teilchen ein dazugehöriges Neutrino (ν). Sie unterliegen alle der schwachen Wechselwirkung, und bis auf die drei Neutrinos haben sie eine negative Elektronenladung. Wie bei den Quarks schwankt auch ihre Masse: von 511 keV/c2 des leichten Elektrons bis zu mehr als 1,7 GeV/c2 des schweren Tauons. Die Masse der Neutrinos ist tatsächlich so klein, dass sie bisher noch nicht bestimmt werden konnte.

Quarks und Leptonen bilden zusammen drei Teilchenfamilien, die sich bis auf ihre Massen nicht voneinander unterscheiden. Sie wirken damit wie drei praktisch identische Kopien; diese Symmetrie lässt sich durch die Gruppentheorie beschreiben.

Neben den Gluonen befinden sich in der rechten Spalte die übrigen Teilchen, welche die drei Grundkräfte des Standardmodells übermitteln. Das W+-, das W- und das Z-Boson sind für die schwache Kernkraft verantwortlich, die radioaktive Zerfälle bewirkt. Das Photon übermittelt die elektromagnetische Kraft. Für die vierte Grundkraft, die Gravitation, wird vermutet, dass ein Graviton existiert. Das Higgs-Boson unterscheidet sich von seinen Artgenossen. Es hängt nicht mit einer fundamentalen Kraft zusammen, sondern verleiht den Teilchen ihre Masse. Außerdem unterliegt es der schwachen Wechselwirkung.

Um das Standardmodell zu vervollständigen, kommen noch die Antiteilchen der Quarks und der Leptonen hinzu, die sich lediglich durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung von den ursprünglichen Partikeln unterscheiden.

Grund für die Suche nach solcher »neuer Physik« ist das Wissen, dass das aktuell verwendete Standardmodell nicht vollständig ist. Zwar kann die Theorie bisher fast alle Beobachtungen extrem gut erklären, aber sie lässt auch manche Fragen offen. Zum Beispiel sagt das Standardmodell voraus, dass Neutrinos masselos sind. Experimente zeigen indes, dass diese Teilchen durchaus eine Masse haben – wenn auch eine winzige. Und noch weitere Ungereimtheiten deuten darauf hin, dass es eine Physik jenseits des Standardmodells gibt.

»Das könnte neue Physik sein, muss aber nicht«Babette Döbrich, Physikerin

Indem die Fachleute am NA62 Experiment die zwischen 2016 und 2022 gesammelten Zerfallsdaten analysiert haben, konnten sie 51 der seltenen Kaonzerfälle nachweisen, was einer Zerfallsrate von etwa 13·10–11 entspricht. Damit liegen die beobachteten Zerfälle um etwa 50 Prozent höher, als theoretische Berechnungen vorhersagen. Die Abweichung fällt noch nicht in einen statistisch signifikanten Bereich – es müssen weitere Messungen gemacht werden, um wirklich von Hinweisen auf neue Physik sprechen zu können. »Wir messen eine Zerfallsrate, die leicht höher ist als erwartet«, bestätigt die Physikerin Babette Döbrich vom Max-Planck-Institut für Physik, die an dem Experiment beteiligt war. »Das könnte neue Physik sein, muss aber nicht. Wichtig ist, dass wir jetzt weiter gute Daten sammeln, um ein noch präziseres Ergebnis zu bekommen.«

Das NA62-Experiment läuft unterdessen weiter. Die Forscher und Forscherinnen untersuchen aktuell die ab 2023 aufgezeichneten Daten und hoffen, deutlichere Abweichungen vom Standardmodell zu finden. Die nächsten Ergebnisse werden voraussichtlich im Jahr 2025 vorgestellt.

  • Quellen

»New measurement of the K+ -> pi+nunu decay by the NA62 Experiment«, CERN-Seminar am 24.09.2024

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.