Raumfahrt: Boeing geht auf Drachenjagd
Update, 22. Dezember 2019: Der Starliner ist gelandet. Am Sonntag setzte er in White Sands, New Mexico, auf. Damit hat die Raumkapsel ihre erste, unbemannte Test-Mission absolviert. Die Mission war wie geplant am 20. Dezember um 12:36 Uhr deutscher Zeit gestartet. Doch der Starliner geriet auf einen falschen Kurs und konnte die Internationale Raumstation ISS nicht mehr erreichen. Der Jungfernflug wurde daher vorzeitig beendet.
Today, @BoeingSpace’s #Starliner spacecraft safely returned to Earth with a bullseye landing. Although the spacecraft didn’t reach its intended orbit and dock to the @Space_Station, it did complete many test objectives for our @Commercial_Crew program: https://t.co/1jWkMI5oA6pic.twitter.com/SEm2iKUviR
— NASA (@NASA) December 22, 2019
Schnellstmöglich sollen US-Astronauten wieder von amerikanischem Boden ins All reisen. Wohin, ist nahezu egal – zur Internationalen Raumstation ISS, zum Mond, womöglich gar zum Mars. Hauptsache, es klappt. Denn seit dem Ende des Shuttle-Programms im Jahr 2011 sind die USA abhängig von Russlands Sojus-Raketen. Viele Vertreter der großen Weltraumnation halten das nicht nur für kompliziert, sondern für untragbar.
Boeing will es richten. Am Freitagmittag, 20. Dezember 2019, hat die Firma ihren Starliner, auch CST-100 genannt, in den Weltraum geschickt. Der Start erfolgte planmäßig um 12.36 Uhr deutscher Zeit. An Bord einer Atlas-V-Rakete reist die kegelförmige, weiß glänzende Kapsel von Florida aus zur ISS, um dort Samstagmittag um 14.27 Uhr am Harmony-Modul anzudocken. Die Mission lässt sich unter anderem im Livestream der NASA anschauen.
Bis zu sieben Menschen hätten theoretisch Platz in dem Gefährt, doch dieser Testflug ist unbemannt. Allein an Bord: der Testdummy Rosie, benannt nach der fiktiven feministischen Ikone »Rosie the Riveter«, die im Zweiten Weltkrieg Frauen für die Rüstungsindustrie gewinnen sollte. Ihr Motto: »We Can Do It!«
Boeing muss nachziehen
Der markige Spruch soll von Stärke zeugen, steht aber zugleich für Boeings durchaus heikle Lage – »Wir können das schaffen!«. Zwar hat das Unternehmen vor 50 Jahren erstmals Menschen zum Mond gebracht; tatsächlich ist ohne Boeing noch kein Astronaut ins All geflogen, die Firma hat jahrzehntelang alle wesentlichen Raketen und Raumschiffe entwickelt. Doch die Traditionsfirma, die heute der weltgrößte Hersteller von Luft- und Raumfahrttechnik ist, hat in den vergangenen Jahren große Konkurrenz im Raumfahrt-Business bekommen: SpaceX, Milliardär Elon Musks privates Raketen-Start-up.
Zwischenzeitlich war SpaceX zwar wegen mehrerer Pannen in Bedrängnis geraten, die Zukunft des Start-ups war fraglich. Mittlerweile aber ist die Firma mit den in Teilen wiederverwertbaren Raketen ein gern gebuchter Dienstleister. Nicht nur das: Musk und sein Team haben ihre Raumkapsel namens Crew Dragon bereits Anfang März 2019 erfolgreich automatisch an die ISS andocken lassen.
Boeing will nun nachziehen. Muss nachziehen. Im Auftrag der amerikanischen Weltraumagentur NASA sollen beide kommerzielle Firmen den USA wieder die Vorherrschaft in der bemannten Raumfahrt sichern – und wollen daran ordentlich verdienen. Als Auserwählte des Commercial Crew Program (CCP) haben sie seit 2014 den Auftrag, Astronauten-Taxis zu entwickeln, damit Menschen künftig schnell, sicher und zugleich deutlich kostengünstiger als bislang ins All fliegen können. Die Firma, die als erste eine Crew zur ISS fliegt, darf sich zahlreicher Aufträge sicher sein. Es ist ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft.
Boeing will Touristen ins All fliegen
Der Starliner ist bereits für zwei Testflüge und sechs Missionen zur ISS gebucht. Insgesamt fünf Meter ist er hoch, viereinhalb misst er im Durchmesser. Obwohl sieben Menschen in den Starliner passen, würden auf NASA-Missionen nur maximal fünf Personen mitfliegen, heißt es in einer Info-Broschüre. Sollten es nur vier sein, steht der fünfte Platz zum Verkauf: Staatliche Organisationen sowie kommerzielle Firmen können dafür bezahlen, Astronauten ins All zu schicken. Oder Privatpersonen, die als Tourist das Weltall erkunden wollen und nicht wissen wohin mit ihrem Geld.
Bis zu 90 Millionen Dollar könnte ein Platz in dem Gefährt kosten, heißt es in einem NASA-Bericht, der im November 2019 erschien. Eine Reise mit SpaceX hingegen sei für 55 Millionen Dollar zu haben. Doch Boeing widersprach: »Wir sind zuversichtlich, dass unser Durchschnittspreis unter dem von der NASA genannten Betrag liegt.« Aus Wettbewerbsgründen gebe man jedoch keine spezifischen Informationen preis.
Lässt sich der Druck regulieren? Ist die Luke widerstandslos zu öffnen?
Eigentlich sollte Starliner längst in Betrieb sein, doch weder 2018 durfte der unbemannte Teststart stattfinden noch im April 2019 wie zuletzt erhofft. Unter anderem die Rettungs- und Landesysteme hatten Probleme bereitet. Im November schließlich gelang ein wesentliches Manöver: Beim Pad-Abort-Test in New Mexico hob die Kapsel ab, um sich in wenigen Kilometern Höhe zu drehen, diverse Fallschirme ab in etwa neun Kilometern Höhe auszulösen und hinab zum Boden zu gleiten, wo sie auf Luftkissen aufsetzte, ohne zu zerschellen – schließlich sollen künftig Menschen an Bord sein.
»Der Testflug wird uns wertvolle Daten über das Verhalten des Starliners während jeder Phase des Flugs liefern«
Trip Healey, Mission Manager
Funktioniert die Kommunikationstechnik? Verbindet sich die Kapsel mit der Raumstation? Lässt sich der Druck regulieren, und ist die Luke widerstandslos zu öffnen? Solch große Fragen gilt es unter anderem mit Hilfe der ISS-Crew zu klären. Doch letztlich will das Boeing-Team sein Gefährt bis ins letzte Detail verstehen. »Der Testflug wird uns wertvolle Daten über das Verhalten des Starliners während jeder Phase des Flugs liefern und damit beweisen, dass er eine Crew zur Space Station und sicher zurück nach Hause bringen kann«, wird Trip Healey im CCP-Blog zitiert, er ist der Mission Manager der NASA.
Dazu gehört auch zu klären, wie bequem es sich im Starliner eigentlich reisen lässt. Hier kommt Rosie ins Spiel. Der Dummy ist mit zahlreichen Sensoren ausgestattet, die kritische Werte überwachen und sammeln. Dazu zählt die Belastung, die G-Kräfte, die auf die Tech-Puppe einwirken. Stimmen die Werte, wird Boeings Crew-Flight-Test deutlich wahrscheinlicher.
Die Besatzung steht schon bereit, löblicherweise mit weiblicher Besetzung: Michael Fincke, Chris Ferguson und Nicole Mann trainieren seit rund einem Jahr dafür, in der Boeing-Kapsel zur ISS zu reisen. Sie proben Weltraumspaziergänge, lernen, wie sich im All experimentieren lässt, und gewöhnen sich daran, sich im Raumanzug zu bewegen.
Der Starliner soll ihnen deutlich weniger Arbeit machen als die Spaceshuttles – das Raumfahrzeug ist darauf ausgerichtet, ohne menschliche Einwirkung anzudocken, abzulegen und zu landen. Die manuelle Steuerung ist allein als Backup gedacht. Eine weitere Neuerung: Man will nicht auf Wasser, sondern auf hartem Boden sanft landen. Die Kapsel soll nämlich wiederverwertet werden. Bis zu zehn Missionen soll jedes Gefährt absolvieren, das spart Zeit und Kosten.
Doch erst muss der Starliner beweisen, was er kann. Selbstständig andocken. Selbstständig ablegen. Gen Erde reisen. Eine Woche nach dem Start soll das Gefährt wieder landen. In der Vergangenheit hat sich so manche technische Entwicklung als komplizierter dargestellt als erhofft; gerade in der Raumfahrt. Mitentscheidend für den Erfolg des Testflugs sind aber nicht nur funktionierende Kommunikationstechnik, sorgfältig programmierte Computer und sich rechtzeitig öffnende Fallschirme, sondern etwas ganz Alltägliches: das Wetter. Wäre es zu windig gewesen, die Wolkendecke zu dicht oder ein Gewitter zu nah, hätte der Start verschoben werden müssen.
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