Küstenschutz: Bröckelnde Bastion
"Oh, ich hab solche Sehnsucht/Ich verliere den Verstand/Ich will wieder an die Nordsee/Ich will zurück nach Westerland", so sang einst augenzwinkernd die deutsche Punkrock-Band "Die Ärzte" in ihrer erfolgreichen Hommage auf die Insel Sylt. Eine Sehnsucht, die sie mit vielen Menschen teilen, gilt doch das sandige Eiland als hochpopuläre Urlaubsdestination an Schleswig-Holsteins Gestaden. Wind und Wellen untergraben jetzt aber das Inselfundament wie seit Jahren nicht mehr.
Das nordfriesische Traumreiseziel Sylt muss diesen Winter einmal mehr um seine Existenz bangen. Schließlich nagt eine der aktivsten Sturmsaisons der vergangenen Jahrzehnte an der sandigen Substanz der Insel. Schon vor Orkantief Kyrill – das überraschend glimpflich vorüberzog – hatte eine ganze Kette an Stürmen die Sylter Strände abgetragen: Insgesamt sechs Meter Strand rissen Wind und Wellen in die See, sodass nach Aussage von Stefanie Schultz vom Westerländer Ordnungs-, Sozial- und Umweltamt bereits jetzt das gesamte schützende Materialpolster abgetragen ist: "Allein vor Westerland verlor die Insel bereits mehrere 100 000 Kubikmeter Sand – so viel wie ansonsten die gesamte Westküste verkraften muss." Mancherorts wurde der Strand sogar gleich um mehrere Meter tiefer gelegt: "Bei Hochwasser sind deshalb vorerst keine Strandspaziergänge mehr möglich", schließt Schultz noch an.
Der Puffer fällt aus
Damit fallen die Strände als Puffer aus, welche die nahen Dünen und damit schon den Inselkern schützen. Eigentlich rollen die Wellen auf den sanft ansteigenden Vordünen je nach Wetterlage mehr oder weniger gemächlich aus und brauchen dabei zumindest einen Großteil ihrer Energie auf. Folglich erodieren sie die anschließenden Hauptdünen kaum mehr, das Innere Sylts bleibt unangetastet. Nun aber können die Wellen bei Hochwasser ungehindert auflaufen, die Dünen an ihrem Fuß untergraben, bis sie einstürzen, und schließlich das nachrutschende Material ins Meer schleppen. Mehrere Sandkliffabbrüche wurden bereits gemeldet. Auf Dauer könnte dieser an und für sich natürliche Prozess Sylt an bestimmten Schwachstellen, etwa im Bereich der Nord- wie der Südspitze, zerbrechen und ihre berühmte Silhouette nachhaltig verändern oder sogar die Insel ganz zerstören. Damit würde ein weiteres Relikt der früheren Westküste Schleswig-Holsteins verschwinden. Denn das Eiland entstand erst durch die großen Sturmfluten von 1362 und 1634 – die Großen Mandränken –, als die Nordsee große Teile der Marschen dauerhaft überflutete und Sylt so vom Festland trennte.
Seitdem modellierte die Erosion die Insel von einer runden in eine gestreckte Form um, da die Strömung einen Teil der abgetragenen Sande längs der Küste transportiert und an den Spitzen wieder anhäuft. Größere Mengen des abgespülten Sandes lagern sich zudem kurzfristig im unmittelbaren Küstenvorfeld im Meer ab und erfüllen zumindest hier noch ihre Schutzfunktion, so Bernd Probst vom Küstenschutzreferat des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume. Als Wellenbrecher bremst dieses Riff auf Zeit auflaufende Fluten und mildert damit ihre Folgen etwas ab. Nachfolgende Orkane hinterlassen deswegen relativ geringere Schäden als die ersten Sturmtiefs jeder Saison.
Und diese Barriere ist auch dringend nötig. Denn wie Probst und Schultz unisono erklären, kann dem gegenwärtigen Treiben eigentlich nur tatenlos zugesehen werden: "Wegen der laufenden Sturmsaison sind keine technischen Sandvorspülungen bis zum Frühjahr möglich." Jeder weitere Sturm kostet substanzielles Sandmaterial. Peter Harry Carstensen, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, hat deshalb bereits versprochen, die finanziellen Mittel für den Erhalt Sylts in diesem Jahr zu verdoppeln: Statt etwa 3,5 Millionen Euro sollen nun 7 Millionen Euro aufgewendet werden, um das Eiland über den Sommer hinweg erneut winterfest zu machen.
Gesetzliche Verpflichtung zum Inselschutz
Immerhin hat das Land die gesetzliche Verpflichtung, die Insel zu erhalten – auch wenn dies seit 1972 mehr als 140 Millionen Euro gekostet hat und die Vorzugsbehandlung Sylts die Bewohner anderer Sandinseln Nordfrieslands wie Amrum oder Föhr bisweilen verärgert. Doch neben der rein rechtlichen Situation lohnen sich diese Investitionen auch volkswirtschaftlich, merkt Bernd Probst an: Das Steueraufkommen Sylts liegt sehr hoch und trägt damit einen überproportionalen Teil zur Deckung des Landeshaushalts bei – 650 000 Touristen im Jahr hinterlassen eben auch eine Menge Geld.
Außerdem diene Sylt als Bollwerk für die dahinter liegende Festlandsküste sowie das schützenswerte Wattenmeer, ergänzt Stefanie Schultz. Ginge die Insel verloren, könnte sich die Nordsee die wertvollen Schlickflächen und Salzwiesen des Nationalparks Stück für Stück holen, die Sicherheit der Festlandsbewohner und ihrer Infrastruktur gefährden und damit die aufzuwendenden Kosten für den Erhalt der Küste vervielfachen.
Deshalb sollen nach Abklingen der aktuellen Sturmsaison die großen Lagerraum-Saugbagger (so genannte Hopperbagger) wieder zum Einsatz kommen, die in etwa 10 bis 15 Kilometer Entfernung zur Küste Sand aus wenigen Metern Wassertiefe hochpumpen. Spezielle Schiffe verfrachten das Gemisch Richtung Küste und pumpen es im Abstand von zwei Kilometern durch Rohrleitungen zur Uferlinie, wo die Sedimente mit Planierraupen verteilt werden. Bei gutem Wetter können auf diese Weise jeden Tag mehrere hundert Meter Strand neu aufgebaut werden – jedes Jahr bewegen die Maschinen bis zu einer Million Kubikmeter Material, 2007 könnten es sogar 1,5 Millionen Kubikmeter werden.
Die Folgen für die Umwelt halten sich dabei trotz der voluminösen Eingriffe in einem verhältnismäßig kleinem Rahmen, wie Ingo Ludwichowski vom schleswig-holsteinischen Landesverband des Naturschutzbundes (NABU) anmerkt. Dennoch sind die Entnahmen aus den Sanddepots nicht ganz unkritisch, da sie einen Eingriff ins Ökosystem darstellen, auch wenn dieses nicht zu den artenreichsten der Nordsee zählt. Sorgen bereiten ihm neben den direkten mechanischen Belastungen vor allem das aufgewirbelte Sediment, welches das Wasser trübt und weitere Lebensräume unter Umständen unter Sand erstickt. Dennoch, so betont Ludwichowski, sei diese Methode die verträglichste Form des Küstenschutzes und werde auch von Wissenschaftlern empfohlen – zumal vor Sylt stets natürlich Sand ins Meer gelangt.
Sandvorspülungen ohne Alternative
Eine in großem Ausmaß taugliche Alternative zu dem Verfahren gibt es laut Bernd Probst ohnehin nicht: "Feste Verbauungen wirken kontraproduktiv." Was früher praktizierte Gegenmaßnahmen im Nachhinein bezeugen: Holzpfahl- oder Stahlbetonbuhnen beispielsweise, die seit dem 19. Jahrhundert vom Ufer aus senkrecht ins Meer hinaus gebaut wurden, konnten den Sandverlusten keinen Einhalt gebieten. Eigentlich sollten sie die zehrenden Querströmungen bremsen, doch bildeten sich auf ihrer Leeseite Verwirbelungen, die nachhaltige Materialablagerungen verhinderten oder den Abtrag gar noch verschärften. Ähnlich erfolglos waren Versuche mit Tetrapoden genannten vierbeinigen Betonpollern, die zwar die Wellen brachen, aber ebenfalls den Sand nicht zurückhalten konnten. Auf Dauer wurden sie von der Brandung unterspült, sodass sie im Strand versanken. Und nur in akuten Einzelfällen setzen die Sylter auf Sandsäcke oder so genannte Geotextilien – enorme Stoffwürste, die mit Sand gefüllt aufgestellt werden, um bedrohte Einzelobjekte wie die auf Stelzen gebauten Versorgungshäuschen am Strand zu schützen.
Ob aber die Vorspülungen auch noch in der Zukunft das Überleben der Insel gewährleisten, ist fraglich. Denn der steigende Meeresspiegel als Folge der Erderwärmung sowie die mehrfach prognostizierte Zunahme an Stürmen werfen Fragen auf: Kann sich das Land den weiteren Schutz Sylts finanziell noch leisten – trotz der gesetzlichen Verpflichtung? Wie kann der Status quo erhalten werden? Welche weiter gehenden Präventivmaßnahmen ließen sich treffen? Bernd Probst sieht Schleswig-Holstein insgesant gut vorbereitet – auch weil die neuesten Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), dem federführenden Ausschuss der Vereinten Nationen zur Erderwärmung, etwas weniger drastische Szenarien zur Erhöhung der Wasserstände vorsehen.
Nicht so entspannt ist Ingo Ludwichowski: "Wir befürchten durch den Meeresspiegelanstieg allgemein eine Flächenkonkurrenz, die zu Lasten des Naturschutzes gehen könnte." Was passiert beispielsweise mit dem Wattenmeer, wenn die Sedimentzufuhr nicht mehr Schritt hält mit der sich ausdehnenden Nordsee? Wo könnte oder müsste am Festland zurückgedeicht werden, um Verluste weiter seewärts auszugleichen und zu verhindern, dass das Meer direkt auf die Küste prallt? Alles Fragen, die mit Sicherheit ebenso heftige Emotionen hervorrufen dürften, wie die von Experten vorgeschlagenen Baubeschränkungen an der Westküste Sylts. Sie sollen gewährleisten, dass die Siedlungen nach und nach in Richtung der geschützteren Ostküste verlagert werden. Denn eines ist sicher: Wind und Meer werden die Insel weiter in ihrem Sinne bearbeiten – allen menschlichen und technischen Anstrengungen zum Trotz.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.