Teilchenphysik: Das Universum hat nie gekocht
Physiker neigen manchmal dazu, sehr ungewöhnliche Begriffe für eine Klasse von Erscheinungen zu erfinden. Das Wort Phasensprung ist so ein Beispiel. Sie können damit aber Schneefall ebenso beschreiben wie nun auch die Entwicklung des Universums.
Phasenübergänge sind mit das Erstaunlichste, was es in der Natur zu beobachten gibt. Zwar wird es kaum einen Menschen geben, der bei einem Platzregen denkt: "Hupps, das war jetzt aber ein heftiger Phasensprung!" Rein physikalisch betrachtet hätte er damit aber Recht. Naturforscher verstehen unter einem Phasenübergang die schlagartige Veränderung von Material- oder Systemeigenschaften bei verhältnismäßig leichtem Wechsel äußerer Bedingungen. Das Ausfällen von Wassertröpfchen aus einer Gewitterwolke ist so ein Beispiel, ebenso wie das Kochen von Wasser oder dessen Gefrieren. Bei letzterem verwandelt sich die Flüssigkeit spontan in einen festen Stoff: Ein Aggregatzustand wechselt in einen anderen. Wassertröpfchen werden so zu Hagelkörnern.
Dieser Übergang verändert offensichtlich drastisch die innere Ordnung des Systems – oder dessen Symmetrie, wie die Fachleute sagen: Die Wasserstoff- und Sauerstoffatome von Schneeflocken oder des Eises auf zugefrorenen Seen sind verhältnismäßig regelmäßig angeordnet und sitzen an relativ genau festgelegten Orten, während sie im flüssigen Zustand nicht dingfest zu machen sind.
Derartige Umwandlungsprozesse gab es bereits zu Urzeiten. So gehen Astrophysiker beispielsweise davon aus, dass es winzige Bruchteile einer Sekunde nach dem Urknall noch keine Teilchen im herkömmlichen Sinne gab, so wie wir sie heute als Protonen oder Neutronen kennen. Damals, vor gut 14 Milliarden Jahren, schwammen deren Bestandteile – Quarks und Gluonen – recht frei in einer Art Ursuppe herum. Oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Es herrschte ein Quark-Gluon-Plasma. Erst nachdem das Universum einige Mikrosekunden nach dem Big Bang etwas kühler geworden war, und die Temperatur "nur noch" etwa zehntausend Milliarden Kelvin betrug – immerhin noch fast tausendmal so heiß wie das Innere der Sonne –, kondensierten die Bausteine, und es bildeten sich die heute bekannten, massiven Teilchen aus.
Nun fragen sich viele Wissenschaftler, welcher Art dieser Umwandlungsprozess genau gewesen sein mag. Sie unterteilen die Phasenübergänge nämlich in verschiedene Kategorien. Da gibt es beispielsweise zwar recht schnelle, aber dennoch kontinuierliche Prozesse sowie wirklich sprunghafte, die siedendes Wasser zum Beispiel unkontrolliert blubbern und Blasen werfen lässt. Letztere gehen meist mit einem Wärmebedarf für die Umwandlung einher. So hat kochendes Wasser bei normalem Luftdruck stets die exakte Temperatur von einhundert Grad, obgleich weiterhin kontinuierlich Wärme zugeführt wird. Darauf basierte sogar lange Zeit die Definition unserer Temperaturskala. Das Thermometer zeigt diesen konstanten Wert solange, bis die ganze Flüssigkeit verschwunden ist.
Von der Beantwortung der Frage, um welche Art Umwandlungsprozess es sich bei der "Kondensation" der Teilchen aus der Ursuppe nun handelt, hängt aber ab, wie sich das Universum voraussichtlich fortentwickelt hat und ob sich heute daraus beobachtbare Phänomene ableiten lassen.
Daher hat nun ein Team um Sandor Katz von der Eötvös-Universität in Budapest zusammen mit deutschen Kollegen von der Universität Wuppertal analytische Berechnungen darüber angestellt. Entscheidend für das Resultat ihrer Kalkulationen war unter anderem das Einsetzen der genauen Massen der elementaren Bausteine, aus denen die Protonen und Neutronen sowie viele andere Teilchen aufgebaut sind. Da sie in unserer heute normalen Welt nur in gebundenen Zuständen vorkommen, ist deren experimentelle Bestimmung nicht einfach.
So gehen die Teilchenphysiker davon aus, dass die up- und down-Quarks, aus denen die Kernbausteine der Atome bestehen, ausschließlich eine Masse zwischen 1,5 bis maximal acht Megaelektronenvolt (MeV) geteilt durch das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit (c2) haben. Die ungewöhnliche Einheit "Megaelektronenvolt" bevorzugen Physiker, die sich mit den Eigenschaften der Elementarteilchen beschäftigen, weil sich mit dieser Größe in diesen Dimensionen oft besser rechnen lässt. Der zum Proton gebundene Zustand wiegt dagegen rund 938 MeV/c2, also weit über hundertmal so viel. Ein Großteil der Energie des positiv geladenen Kernbausteins steckt damit in der Bindung, die nach dem von Albert Einstein gefundenen Äquivalenzprinzip zwischen Materie und Energie als Masse in Erscheinung tritt.
Hinzu kommt, dass die Teilchenphysiker bei den Quarks und Gluonen nicht mit einfachen Formeln rechnen können, wie das beispielsweise bei der Planetenbewegung möglich ist. Die starke Kraft, welche die Quarks in den Teilchen zusammenhält, hat einige außergewöhnliche Eigenschaften. So nimmt ihre Stärke mit der Entfernung drastisch zu. Je weiter zwei Quarks also auseinander sind, desto stärker ziehen sie sich gegenseitig an. Die Elementarteilchenphysiker nutzen bei der Erklärung dieses Phänomens daher gern das Bild eines Gummibandes, bei dem man ja auch um so stärker ziehen muss, je weiter man es auseinander zerrt. Dagegen stören sich die elementaren Bausteine kaum, wenn sie auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Für die Entdeckung dieser so genannten asymptotischen Freiheit erhielten die Amerikaner David Gross, David Politzer und Frank Wilczek vor zwei Jahren den Nobelpreis für Physik.
Nach umfangreichen Kalkulationen und Simulationen auf ihren Rechnern kamen die Forscher um Katz nun zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Kondensation nach dem Urknall aller Voraussicht nach nicht um eine Umwandlung à la Gefrieren oder Kochen gehandelt haben kann. Ihren Berechnungen zufolge muss es ein zwar schneller, aber relativ kontinuierlicher Prozess gewesen sein.
Astrophysiker werden das ein wenig bedauern. Denn eine chaotische Zustandsänderung wie das Brodeln beim Kochen hätte wahrscheinlich zu beobachtbaren Phänomenen im All geführt, nach denen die Wissenschaftler hätten Ausschau halten können. Um mehr über diese Art von Prozessen zu erfahren, bleibt ihnen jetzt wohl nur noch übrig, Laborversuche zu machen, beispielsweise an den großen Teilchenbeschleunigern wie dem Relativistic Heavy Ion Collider (RHIC) am amerikanischen Brookhaven National Laboratory oder an dem in der Nähe von Genf gelegenen, derzeit im Bau befindlichen europäischen Large Hadron Collider (LHC), die jeweils schwere Atomkerne mit so großer Wucht aufeinanderprallen lassen (werden), um so im mikroskopischen Maßstab den Anbeginn des Universums zu simulieren.
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