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John Smeaton: Der Mann, der alles erfand – nur nicht die Selbstvermarktung

Es gab kaum etwas, was John Smeaton nicht erdachte. Windmühlen, Zement, Formeln der Physik: Der Engländer war ein Tausendsassa. Dennoch kennt den ersten Bauingenieur, der vor genau 300 Jahren zu Welt kam, heute niemand mehr.
Porträt von John Smeaton (1724–1792). Der Engländer begründete das Bauingenieurwesen und führte zahlreiche Bauprojekte aus.
Außerhalb von Großbritannien ist John Smeaton (1724–1792) kaum bekannt. Dabei begründete der Engländer unter anderem das Bauingenieurwesen. Sein Porträt, ein später kolorierter Druck, geht auf ein Bildnis aus Smeatons Lebzeiten zurück.

War die Sandbank schuld? Über diese simple Frage verhandelte 1782 ein Gericht in England. So plump die Sache wirken mag, der Prozess markierte ein Novum in der britischen Rechtsgeschichte. Es ging um eine kleine Ortschaft im südöstlichen England: Wells-next-the-Sea, das – wie der Name vermuten lässt – direkt am Meer liegt. Ebbe und Flut bestimmen hier das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, im 18. Jahrhundert noch mehr als in der Gegenwart. Heute sichert vor allem der Tourismus den Wohlstand der Region. Zu jener Zeit war es die Landwirtschaft.

Stürme und Hochwasser gefährdeten allerdings die Ernten der Bauern. Das Meer trat regelmäßig über die Küsten und versalzte die Äcker. Die Bauern hatten sich mit einer aufgeschütteten Sandbank beholfen. Zur gleichen Zeit aber versandete der Hafen in Wells, der ebenfalls einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Region darstellte. Die Geschäftsführung des Hafens machte die Sandbank für die unglückliche Entwicklung verantwortlich und brachte die Bauern 1782 vor Gericht. Und so drehte sich alles um die Frage: War die Sandbank schuld?

Diese dann doch nicht so simple Frage schlüssig zu beantworten, erwies sich vor Gericht allerdings als problematisch. Die Verteidigung rief daher einen überraschenden Zeugen auf, der sich selbst als Bauingenieur bezeichnete: John Smeaton aus dem 250 Kilometer entfernten Leeds. Der vorsitzende Richter hatte dessen Vorladung noch verhindern wollen, doch Lord Chief Justice William Murray, zweithöchster Richter im Land, überstimmte ihn. Somit besuchte Smeaton das Örtchen am Meer, begutachtete Hafen und Sandbank und schrieb einen 20-seitigen, überaus trockenen Bericht, der in einem simplen Fazit mündete: Die Sandbank war nicht schuld. Womit die Geschworenen zu Gunsten der Bauern entschieden.

Der erste Sachverständige der Geschichte

Diese Episode aus dem Leben des John Smeaton mag unspektakulär wirken, sie ist aber alles andere als eine banale Momentaufnahme. Es war der erste Fall der britischen Rechtsgeschichte, in dem ein »expert witness« – zu Deutsch: Sachverständiger – vor Gericht als Zeuge auftrat. Erstmals hatte demnach ein Gericht die Aussage eines Außenstehenden als Beweismittel zugelassen, die noch dazu das Urteil entscheidend beeinflusste. Seine Arbeit in Wells hatte Smeaton großes Ansehen verschafft.

Tatsächlich kann sein Wirken kaum hoch genug geschätzt werden: Von der Wiederentdeckung des Zements bis zum ersten Flug der Wright-Brüder im Jahr 1903, John Smeaton scheint seine Finger überall im Spiel gehabt zu haben. Er war zudem der Erste, der die Berufsbezeichnung »civil engineer« (Bauingenieur) in Abgrenzung zum »military engineer« (Wehrtechnik-Ingenieur) einführte und sich selbst so nannte. Auch weil er den Namen etablierte, gilt Smeaton als Vater des Bauingenieurwesens. Trotzdem ist er außerhalb Englands kaum bekannt. Woran liegt das?

Smeatons Leuchtturm | In den 1750er Jahren wurde vor der Küste Cornwalls der Eddystone-Leuchtturm errichtet – nach den Plänen von John Smeaton. Der Ölfarbendruck zeigt das Bauwerk um 1850.

John Smeaton kam am 8. Juni 1724 im kleinen Austhorpe bei Leeds als Sohn eines Anwalts zur Welt. Smeaton war der geborene Ingenieur, glaubt man den Ausführungen seiner Tochter Mary Dixon in einem Brief aus dem Jahr 1797: »Sein gesamtes Spielzeug waren Modelle von Maschinen.« Statt mit anderen Kindern zu spielen, beobachtete er lieber Handwerker bei ihrer Arbeit und stellte ihnen in unersättlicher Wissbegierde Frage um Frage. Schon als kleiner Junge baute er zum Zeitvertreib kleine Windmühlen und Wasserpumpen. Als 18-Jähriger hatte Smeaton in Eigenregie eine Werkstatt aufgebaut, um von Holz bis Stahl nahezu alle Materialien fachgerecht bearbeiten zu können.

Nicht das Zeug zum Anwalt

Wie es zu jener Zeit üblich war, schickte ihn sein Vater 1742 für das Jurastudium nach London. Der Sohn sollte wie der Vater Anwalt werden. Schnell wurde jedoch klar, dass das trockene Jurastudium den Geist von Smeaton junior nicht annähernd ausfüllte. Daraus erwuchs glücklicherweise kein bürgerliches Familiendrama: Smeatons Vater gestand dem Sohn zu, seinen eigenen Weg zu gehen. Der führte ihn vorerst nicht aus London weg. Als junger Mann blieb Smeaton an der Themse und baute wissenschaftliche Instrumente. Gleichzeitig widmete er sich weiter seiner autodidaktischen Bildung in Sachen Ingenieurskunst. Er lernte Französisch, um die neuesten wissenschaftlichen Beiträge aus Frankreich lesen zu können, und reiste für Forschungszwecke sogar in die Niederlande. Vor allem aber umgab er sich mit zahlreichen ähnlich gesinnten Männern.

John Smeaton hatte das Glück, dass er zu Beginn einer der einschneidendsten Epochen der Geschichte lebte: der industriellen Revolution. In der Mitte des 18. Jahrhunderts fand sich Smeaton inmitten der ersten Generation britischer Bauingenieure wieder, die ihre Fachrichtung allerdings erst noch erfinden mussten. Es waren universell gebildete Männer, die aus der Mathematik oder den Naturwissenschaften kamen, gleichzeitig aber eine Leidenschaft für das Handwerk hatten. So stand Smeaton in ständigem Austausch mit Handwerkern jeder Art, um von ihrem Erfahrungsschatz zu lernen. Er verband seine hemdsärmelige Experimentierfreude aus der Kindheit mit universitär gelehrter Systematik – und war damit nicht der Einzige.

Der israelisch-amerikanische Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr zeichnet in seinem einflussreichen Werk »The Gifts of Athena« das Konzept einer »Industriellen Aufklärung« und erklärt, warum die Erfindungen der industriellen Revolution bislang nicht wie andere bedeutende Errungenschaften der Menschheitsgeschichte folgenlos verpufft sind. So gab es damals in der gesellschaftlichen Elite wenige tausend Intellektuelle, die sich ständig miteinander austauschten – nicht nur an Universitäten, sondern auch an Instituten, in Gesellschaften und Klubs. Das Wissen strömte somit in feste Einrichtungen, der Diskurs war institutionalisiert. Eigene Ideen oder Erfindungen wurden nicht gehortet und misstrauisch gehütet, sondern eifrig geteilt, damit andere Wissenschaftler darauf aufbauen und sie weiterentwickeln konnten.

Ideengeber für die Brüder Wright

John Smeaton verkörperte all das, was diese Entwicklung ausmachte. 1771 gründete er für diese Zwecke die Society of Civil Engineers, den ältesten heute noch existierenden Ingenieurklub der Welt. Dagegen war ihm der stolze Gang zum Patentamt völlig fremd – vielmehr noch: Er wollte seine Entdeckungen so vielen Interessierten wie möglich zugänglich machen, selbst wenn sie noch nicht ausgereift waren. Prominentes Beispiel ist der so genannte Smeaton-Koeffizient. Mit dieser Formel, die verschiedene physikalische Größen zueinander in Bezug setzt, beschrieb Smeaton, wie sich der Luftwiderstand ändert, wenn Objekte am Himmel gleiten. Seine Gleichung war nicht ganz richtig, doch fast 150 Jahre später griffen die Wright-Brüder den Smeaton-Koeffizienten auf, passten ihn an und stiegen zum ersten bemannten Flug der Menschheitsgeschichte auf.

Großbritannien war zu jener Zeit der perfekte Ort für Smeatons Wirken. Als Grund nennt der US-Wirtschaftshistoriker Robert Allen »die einzigartige Lohn- und Preisstruktur« im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. Wie er im Fachblatt »The Economic History Review« schreibt, entfachte die spezielle Wirtschaftssituation die industrielle Revolution: Damals lagen die Löhne vergleichsweise hoch, während die Energiepreise verschwindend gering waren – glaubte man doch, das schwarze Gold ließe sich schier endlos aus den Kohlegruben fördern. Die Lage schuf eine starke Nachfrage nach neuen Erfindungen, damit Maschinen die teuren Arbeiter ersetzen würden. Und die technisch versierte Gruppe britischer Intellektueller hatte genug Zeit und finanzielle Mittel zur Verfügung, um diese Nachfrage zu bedienen.

Industrie, Handel und Bevölkerung wuchsen. Dem dadurch sprunghaft angestiegenen Verkehr hielten die alten Straßen und Wasserwege jedoch kaum noch stand, wie der Technikhistoriker Herbert Ricken (1924–2007) in seinem Buch »Der Bauingenieur« feststellte. Straßen mussten erweitert, ausgebessert oder ganz neu gebaut werden. Vor allem die Wege zu Wasser gewannen in Großbritannien an Bedeutung: Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man rund 3000 Kilometer Fluss befahrbar gemacht und rund 3000 Kilometer Kanäle geschaffen. Tatsächlich war der neue Beruf des Bauingenieurs aufs Engste mit dem Wasser verbunden, so auch bei John Smeaton. 1759 stellte er in einer Abhandlung zu Wasser- und Windmühlen für beide eine veränderte Bauweise vor, die deren Effizienz um bis zu 50 Prozent steigerte. Dafür erhielt er von der Royal Society in London, der nationalen Akademie der Wissenschaften im Vereinigten Königreich, die Copley-Medaille. Andere bekannte Preisträger waren später Charles Darwin, Albert Einstein oder Stephen Hawking. Smeatons Abhandlung sollte den Mühlenbau für immer verändern.

Smeatons Paradestück: Der Eddystone-Leuchtturm

Das Bauwerk, das ihn landesweit bekannt machte, hatte ebenfalls mit Wasser zu tun: der Eddystone-Leuchtturm. Über 20 Kilometer von der Küste bei Plymouth entfernt im Südwesten Englands sollte auf einer Felsformation ein neuer Leuchtturm errichtet werden, nachdem die beiden Vorgänger aus Holz fortgespült oder abgebrannt waren. Mit gerade einmal 31 Jahren erhielt Smeaton den prestigeträchtigen, aber überaus komplizierten Auftrag. Bei der Planung inspirierte ihn die Form der Eichenbäume, die der Kraft starker Winde besonders gut standhielten. Smeaton ließ den Leuchtturm direkt im Felsen verankern und gab ihm ein sich nach oben verjüngendes Profil. Im Turm griffen in jeder Schicht die Werksteine so ineinander, dass jeweils ein fester und widerstandsfähiger Ring entstand. Und da klassischer Mörtel den nassen Bedingungen nicht zuverlässig standhielt, erfand John Smeaton nebenbei noch den Zement neu.

Denkmal auf Plymouth Hoe | Heute steht der obere Teil von Smeatons Leuchtturm an Land. Weil der Untergrund nachgab, wurde das Bauwerk 1877 abgebaut.

Dem wundersamen Leuchtturm verdankte Smeaton in Großbritannien Celebrity-Status und Aufträge für den Rest seines Lebens. Hatte er in seinen Zwanzigern noch mehr als Entdecker und Wissenschaftler gearbeitet, ging er ab seinen Dreißigern vollkommen im neuen Berufszweig des Bauingenieurwesens auf. Smeaton war an derart vielen Bauprojekten beteiligt, dass sich die Zahl heute kaum noch beziffern lässt. Von Mühlen über Kanäle bis zu Brücken, es existiert praktisch kein Bereich, den er mit seiner Expertise nicht nachhaltig veränderte. Warum also ist er der Nachwelt kaum bekannt geblieben?

Auf diese Frage weiß Abby Dix-Mason eine Antwort. Die Kulturschaffende aus Leeds hat zusammen mit ihrer Partnerin Jane Earnshaw anlässlich des 300. Geburtstags des Ingenieurs das Projekt Smeaton300 ins Leben gerufen, eine Plattform, die Ingenieure und Wissenschaftler mit Künstlern und Designern verbinden soll. Dazu sind die beiden Frauen sieben Jahre lang dem Leben des Bauingenieurs nachgegangen, wobei sie schnell »auf eine Wand gestoßen sind«, wie Dix-Mason erzählt. Es existieren kaum persönliche Werke von ihm oder Biografien, ihre Hauptquelle war daher Smeatons umfassende Arbeitskorrespondenz, die noch heute im Archiv des Institute of Civil Engineers verwahrt wird. Der Grund: »Smeaton war in keiner Weise an Eigenwerbung interessiert«, so Dix-Mason. »Seine Arbeit sollte für sich selbst sprechen.«

Der Eddystone-Leuchtturm hatte ihn berühmt gemacht, Smeaton wies diesen Ruhm aber entschieden von sich. Er sah sich vielmehr in einer jahrtausendealten Tradition des Ingenieurwesens, als einer von vielen, die von der Arbeit anderer profitierten und darauf aufbauten. Im eingangs erwähnten Brief skizziert seine Tochter Mary Dixon das Bild eines überaus bescheidenen Mannes mit ausgeprägtem Familiensinn, der nur ungern über sich selbst redete. »Er unterstützte seine Frau und seine Töchter und bezog sie eng in seine Arbeit mit ein«, sagt Abby Dix-Mason. Seine Tochter brachte die Maxime, die Smeatons Leben begleitete, auf den Punkt: Ihr Vater war überzeugt, ein Individuum stehe für seine Fähigkeiten in der Schuld der Allgemeinheit und müsse daher an diese etwas zurückgeben. Smeaton hatte keine finanziellen Interessen, seine Leidenschaft galt allein der Wissenschaft und dem gesellschaftlichen Fortschritt. Den Titel »Vater des Bauingenieurwesens« lehnte er vehement ab.

Auch wenn Smeaton es sich nicht wünschte: Nach dem Bau des Leuchtturms erschienen regelmäßig illustre Gesellschaften in seinem Haus in Leeds, um sich von ihm seine epochale Leistung erklären zu lassen. Was Smeaton daraufhin tat, charakterisiert ihn wohl am besten: Er baute ein Modell für die Eingangshalle und bat seine Ehefrau, den Interessierten die Bau- und Funktionsweise zu erläutern. John Smeaton zog sein Arbeitszimmer vor.

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