Kartografie: Der Ptolemäus von Duisburg
Ein Weltbild gerät aus den Fugen: Als Männer wie Christoph Kolumbus, Bartolomeu Dias, Vasco da Gama oder Fernando Magellan zu ihren großen Entdeckungsreisen aufbrechen, ist die »Geographia« des Claudius Ptolemäus (zirca 100-180 n. Chr.) nach wie vor das Maß aller Dinge in Sachen Erdbeschreibung. Doch mit jeder neuen Küste, die die Kapitäne der großen Seefahrtnationen Portugal und Spanien erreichen, wird deutlich: Das Weltbild des antiken Geografen ist mit den neuzeitlichen Entdeckungen nur noch schwer in Einklang zu bringen. Die Welt benötigt einen neuen Ptolemäus – sie wird ihn erhalten.
Als Gerhard Kremer – der seinen Namen als Erwachsener zu »Mercator« latinisiert – am 5. März 1512 in Rupelmonde bei Antwerpen geboren wird, deutet zunächst wenig darauf hin, dass seine Zeitgenossen ihn einmal als »Ptolemäus der Neuzeit« verehren werden. Als Schuster hat Vater Hubert Kremer alle Hände voll zu tun, seine große Familie überhaupt zu ernähren – den talentierten Jüngsten mit der für einen sozialen Aufstieg unerlässlichen Schulbildung zu versorgen, scheint da kaum möglich.
Ein reicher Verwandter nimmt sich schließlich des Jungen an und ermöglicht ihm den Besuch der Lateinschule im Haus der »Brüder vom gemeinsamen Leben« in 's-Hertogenbosch. Hier erhält Gerhard nicht nur den für ein Hochschulstudium unerlässlichen Lateinunterricht, auch für seine lebenslang tief empfundene Frömmigkeit wird hier der Grundstein gelegt.
Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Philosophen
Mit 18 Jahren nimmt Mercator das Studium an der Universität Löwen auf, zwei Jahre später darf er sich »Magister Artium« nennen. Doch den Weg zum Doktor der Philosophie geht er nicht »Als ich aber sah, dass sich Moses' Geschichte von der Entstehung der Welt in vielerlei Hinsicht nicht mit den Ideen von Aristoteles und anderen Philosophen deckte, kamen mir Zweifel über die Wahrhaftigkeit aller Philosophen«, wird er später äußern.
Neben solch philosophischen Überlegungen wird Mercators Entscheidung aber auch von handfesten wirtschaftlichen Gründen beeinflusst. Über seinen Universitätslehrer Gemma Frisius, einen versierten Globenbauer und Landvermesser, ist er mit der Kartografie in Kontakt gekommen – einer im Zeitalter der großen Entdeckungsreisen aufblühenden Kunst, die den jungen Gelehrten sofort in ihren Bann zieht. »Seit meiner Jugend war Geografie mein wichtigstes Studienobjekt«, bekennt er später. Dass die Kapitäne, aber auch die interessierte Öffentlichkeit immer neue und bessere Karten verlangen, lässt auf gute Geschäfte hoffen: Mercator sattelt um und tritt als Globenbauer in die Dienste von Frisius.
Die Kunst, die Erde kartografisch in Kugelform darzustellen, erforderte hohes handwerkliches Geschick. Die zunächst in Kupfer gestochene Karte musste nach dem Druck zerteilt und dann in Einzelstücken exakt auf die Oberfläche der Kugel aufgeklebt werden. Die dafür notwendige Sorgfalt hatte ihren Preis – nach heutigem Wertmaß konnte ein guter Globus zu Mercators Zeit leicht einige 10 000 Euro kosten. Die aufwändige Arbeit blieb denn auch nach Mercators eigenem Zeugnis die wichtigste Einnahmequelle des Kartografen: »So wie ich es schon vor dem Beginn meiner Arbeit vorausgesehen hatte, habe ich meine Aufmerksamkeit stets auf das Anfertigen von Globen gerichtet, um damit meine häuslichen Bedürfnisse zu bestreiten.«
Ein Novum: Linien für die Seefahrt
1541 – Mercator hat sich zu diesem Zeitpunkt längst selbstständig gemacht – erscheint jener Globus, der seinen Erbauer weltberühmt machen sollte. Mit mehr als 40 Zentimeter Durchmesser ist er nicht nur größer als vergleichbare zeitgenössische Weltkugeln, Mercator fügt auch erstmals so genannte Loxodrome ein – Linien, die Kapitänen auf See bei der Kursbestimmung helfen sollen.
Allerdings wissen Seeleute mit dem teuren, unhandlichen Gerät nur wenig anzufangen, der Globus ist mehr ein repräsentatives Schmuckstück als ein ernstzunehmendes Navigationsinstrument. Dafür wird Mercator in anderer Hinsicht stilbildend: Als Ergänzung zu seinem Meisterstück konstruiert er wenige Jahre später noch einen Himmelsglobus und verkauft fortan nur noch Globenpaare. Ein Konzept, das sich durchsetzt: Zwei Jahrhunderte lang sollte es Erd- und Himmelskugeln nur im Doppelpack geben, erst im 19. Jahrhundert werden wieder Einzelgloben konstruiert.
Seine meisterhaft gestalteten Globen und Karten haben Mercator in Leeuwen zum wohlhabenden und geachteten Bürger gemacht. Trotzdem entschließt er sich 1552 zum Umzug: Duisburg soll künftig der Ort sein, von dem aus er die Welt vermisst. Über die Gründe, die den Vierzigjährigen aus der weltläufigen Universitätsstadt ins seinerzeit unbedeutende Landstädtchen im Herzogtum Jülisch-Kleve-Berg treiben, können die Historiker nur spekulieren.
War es die Furcht vor der Inquisition, die in den seinerzeit zu Spanien gehörenden Niederlanden besonders eifrig zu Werke ging? 1544 wird auch Mercator verdächtigt, den »Irrlehren« Martin Luthers anzuhängen, er wandert in den Kerker des Kastells Gravensteen in seiner Geburtsstadt Rupelmonde. Namhafte Gönner – darunter auch Vertreter der streng katholischen Universität Leeuwen – setzen sich für ihn ein, nach einigen Monaten wird Mercator entlassen.
Doch wenn es ihn wirklich als Glaubensflüchtling ins tolerante Duisburg zog, warum wartete er dann noch acht Jahre mit dem Umzug? Und wie verträgt sich seine vermeintlich verdächtige Glaubenshaltung mit der Tatsache, dass der allerkatholischste Kaiser Karl V. höchstselbst zu seinen Auftraggebern zählte – auch nach dem Umzug?
Weltruhm in die Duisburger Provinz
Wahrscheinlicher mutet da schon die Erklärung an, Mercator habe auf eine Anstellung an jener Universität gehofft, die Herzog Wilhelm der Reiche in Duisburg gründen wollte. So weit kommt es allerdings nicht, der Landesherr muss seine Hochschulpläne letztlich begraben, statt auf einen Lehrstuhl wird Mercator nur an das neu gegründete Gymnasium der Stadt berufen, wo er einige Jahre Mathematik und Kartografie lehrt. Dafür macht ihn Wilhelm zum »Herzoglichen Kosmographen« – ein Titel, den Mercator gerne führt und der auch sein Grabdenkmal schmücken wird.
Wichtiger als alle Titel dürfte aber die Tatsache gewesen sein, dass Mercator in der Abgeschiedenheit der Provinz jene Ruhe findet, die er für sein vielfältiges Werk benötigt. Denn längst hat sich der Globenbauer ehrgeizige Ziele gesetzt: Die Welt will er neu vermessen, will die Geografie des Ptolemäus mit den neuen Erkenntnisse der Zeit in Einklang bringen, letztlich sogar die Schöpfung als Ganzes beschreiben, in einem Werk, das weit über die reine Kartografie hinausgeht. Und so entstehen in den vier Jahrzehnten in Duisburg jene beiden Werke, die bis heute mit Mercators Namen untrennbar verbunden sind: der Atlas, der erst postum herausgegeben wird, und die Weltkarte von 1569, in der er erstmals seine berühmte Mercator-Projektion anwendet.
Schon 1554 hatte Mercator sein Publikum gebeten, ihn mit geografischen und astronomischen Daten aus erster Hand zu versorgen. Sie bilden gemeinsam mit aktuellen Landkarten, den neusten Berichten spanischer und portugiesischer Seefahrer sowie aktuellen und antiken Reiseberichten die Grundlage für Mercators Weltkarte. Auf 21 Blättern gestochen, breitet sie die gesamte damals bekannte Welt in bis dahin nicht gekannter Präzision aus.
Der Titel der Karte verdeutlicht, welche Zielgruppe Mercator im Blick hatte: »Neue und überarbeitete Beschreibung der Welt, besser angepasst an die Bedürfnisse der Seefahrt.« Diesen Bedürfnissen kommt die berühmte Mercator-Projektion entgegen, also jenes Verfahren, mit dessen Hilfe Mercator das Problem löste, die kugelförmige Erdoberfläche auf einer ebenen Karte abzubilden. Wie alle Kartografen stand er dabei vor dem Problem der Verzerrung, da sich Abstände, Flächen und Winkel nicht gleichzeitig korrekt darstellen lassen.
Der Gelehrte entscheidet sich für die Winkeltreue und erreicht damit, dass die Kompassrichtungen auf der Karte mit der Wirklichkeit übereinstimmen – unerlässlich für die Berechnung von Kursen auf See. Noch heute wird die Mercator-Projektion für Seekarten genutzt, aber auch in der Raumfahrt kommt Mercators genialer Entwurf zur Anwendung.
Maßstäbe bis heute
Mit seiner Weltkarte, die rasch Verbreitung findet, setzt Mercator Maßstäbe: Fast jeder Kartograf, der sich in den folgenden Jahrzehnten an ein vergleichbares Werk wagen wird, bezieht sich auf den Standard aus der Duisburger Werkstatt. Dort arbeitet der Meister mittlerweile schon an seinem Vermächtnis – einer Kosmografie, in der er nicht nur das Antlitz der Erde festhalten, sondern die gesamte Schöpfung beschreiben möchte.
Sein »Atlas«, wie er das Mammutwerk nennt, soll aus fünf Teilen bestehen: einem Text über die Erschaffung der Welt, einer Himmelsbeschreibung, einem Teil mit Karten aller Länder und Meere, einer Genealogie aller Fürsten sowie einer Chronologie vom Beginn der Welt bis zu Mercators Gegenwart. Fürwahr ein Werk, das den Namen eines Titanen verdient – auch wenn Mercator nach eigener Aussage bei der Namensfindung nicht den sagenhaften Himmelsträger, sondern einen legendären König Mauretaniens vor Augen hatte.
Obwohl er sich ein Vierteljahrhundert – von 1568 bis zu seinem Tod im Jahr 1594 – mit dem Projekt beschäftigt, kann er nur einen Teil selbst vollenden: Bereits 1569 erscheint seine »Chronologia«, 1578 dann eine Ausgabe der Karten des Ptolemäus, »erneuert und von Fehlern bereinigt«, wie es sein Biograf Walter Ghim vermeldet, 1585 und 1589 schließlich eine Auswahl moderner Karten. »Dabei habe ich genau darauf geachtet, dass alles nach dem Maßstab und in die richtige Proportion gebracht wird, insoweit das möglich war auf Grund der Himmelsbeobachtungen, der Reiseberichte und der gedruckten und gezeichneten Karten«, schreibt Mercator in seiner Widmung an den Herzog von Kleve.
Es sind vor allem diese Karten, die den Erfolg des Werkes begründen. 1595 von Mercators Sohn Rumold herausgegeben, wird der »Atlas – oder kosmografische Überlegungen zur Erschaffung der Welt und zur Form des Geschaffenen« in der Folgezeit mit einer stetig wachsenden Zahl von Karten immer wieder neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Preisgünstige »Volksausgaben« mit verringertem Umfang sorgen zudem dafür, dass Mercators Bild von der Welt einem breiteren Publikum bekannt wird – und der Titel seines Werkes zum Synonym für in Buchform gebrachte Kartensammlungen schlechthin.
Den Erfolg seines Werkes erlebt Mercator allerdings nicht mehr. Von einem Schlaganfall gelähmt, stirbt er am 2. Dezember 1594. In der Duisburger Salvatorkirche wird er zur letzten Ruhe gebetet. Ein Bild dort zeigt ihn mit Globus und Zirkel, und eine Inschrift feiert ihn als den Mann, der »den Himmel und die Erde von innen und außen dargestellt hat – soweit es möglich war«.
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