Mutmaßliche Physiksensation: Der Traum vom sterilen Neutrino
Für Physiker ist es der ganz große Traum: Einmal ein neues Elementarteilchen entdecken! Wem das gelingt, der kann bald darauf in Stockholm den Nobelpreis abholen, garantiert. Vor allem aber hat er oder sie der Natur ein großes Geheimnis abgerungen.
Physiker suchen seit Jahrzehnten nach neuen Teilchen und Naturgesetzen, mit denen sich die noch offenen Fragen des Universums beantworten lassen. Was ist die Dunkle Materie? Wie sieht die Weltformel aus? Warum fliegt das Weltall immer schneller auseinander?
Ein steriles Neutrino?
Für keine dieser Fragen ist eine Antwort in Sicht, und die Forscher bekommen langsam Angst, dass sie sich vielleicht nie beantworten lassen. Entsprechend groß war die Aufregung, als Wissenschaftler des Experiments »MiniBooNE« am US-Forschungslabor Fermilab kürzlich Hinweise auf eine neue, vierte Art von Neutrino präsentierten.
Neutrinos sind extrem leichte Elementarteilchen, die nur selten mit Atomkernen zusammenstoßen. Nach heutigem Wissensstand lassen sie sich in drei Familien einteilen, und zwar in Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Seit Jahrzehnten spekulieren Experten jedoch über eine vierte Variante, die noch viel scheuer sein soll als ihre Verwandten: Diese »sterilen« Neutrinos würden gar nicht mehr an der uns bekannten Materie hängen bleiben.
Allerdings gilt die Existenz der extrascheuen Partikel als nicht mehr allzu wahrscheinlich. Mehrere Experimente, die Hinweise auf sie hätten aufspüren können, haben im Lauf der Jahre keine eindeutigen Spuren zu Tage gefördert, sondern eher die Zweifel vergrößert.
Nun aber kommt MiniBooNE: Auf den Detektor im Westen Chicagos prasselt laufend ein Strahl aus Myon-Neutrinos ein, von denen sich manche während des Flugs in Elektron-Neutrinos umgewandelt haben. Diese Verwandlungen sind bei den Geisterteilchen nichts Ungewöhnliches, dafür sind sie geradezu berühmt.
400 Neutrinos zu viel
Allerdings sind in den 15 Jahren, die MiniBooNE bereits Daten nimmt, etwa 400 Elektron-Neutrinos mehr aufgetaucht, als die Wissenschaftler erwartet hatten, wie sie Anfang Juni in einem Onlineaufsatz verkündeten. Die Erklärung des 47-köpfigen Forscherteams: Man habe möglicherweise Hinweise auf sterile Neutrinos entdeckt.
»Wenn man vorgibt, neue physikalische Phänomene entdeckt zu haben, gilt man so lange als schuldig, bis man seine Unschuld bewiesen hat«William C. Louis, Los Alamos Laboratory
Demnach würden sich Myon-Neutrinos im Flug auch in diese neue, schwerere Teilchenvariante umwandeln, die wiederum hin und wieder zu Elektron-Neutrinos würde. Den Modellen der Physiker zufolge würden diese Transformation häufiger stattfinden als die von Myon- zu Elektron-Neutrino. Sie könnte also im Prinzip den beobachteten Teilchenüberschuss erklären.
Für Aufsehen sorgte auch, dass MiniBooNE nicht das erste Experiment ist, das solche Hinweise gefunden hat: Auch der Vorgängerdetektor LSND, der teilweise von denselben Wissenschaftlern wie MiniBooNE betrieben wurde, beobachtete in den 1990er Jahren am Los Alamos National Laboratory ein ähnliches Phänomen. Liegt also ein neuer Nobelpreis in der Luft, wie manche Medien suggerierten?
Wer sich vergangene Woche auf der weltgrößten Neutrinokonferenz in Heidelberg umhörte, bekam eher einen anderen Eindruck. Dort sorgte das Ergebnis des US-Experiments für teils aufgebrachte Diskussionen – und nur wenige Experten wollten der mutmaßlichen Entdeckung Glauben schenken.
»Die theoretische Motivation für das sterile Neutrino ist gut, aber die experimentellen Hinweise sind nicht wirklich überzeugend«, sagt etwa Manfred Lindner, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik. »Ich würde klar dagegen wetten.«
Der Neutrinoexperte Guido Drexlin vom Karlsruher Institut für Technologie sieht das ähnlich – er hat sogar bereits Wetten laufen. »Ich bin seit 25 Jahren skeptisch, und daran hat auch das neue Ergebnis nichts geändert«, sagt er mit Blick auf LSND und MiniBooNE. Aus seiner Sicht hat das neue Experiment seinen Vorgänger nicht wirklich überprüft, zumal die Ergebnisse im Detail doch recht unterschiedlich aussähen.
Experten haben Zweifel
Ein einflussreicher theoretischer Physiker aus den USA, der nicht namentlich genannt werden will, hat ebenfalls Zweifel: »Es ist schwer, die Datenkurve überzeugend zu finden«, sagt er. So fielen die überschüssigen Neutrinos in einen Energiebereich, in welchem der MiniBooNE-Detektor vergleichsweise mit vielen Störsignalen zu kämpfen hat.
Kritisch ist auch Stephen Parke, der selbst am Fermilab forscht, aber nicht an MiniBooNE beteiligt ist: »Ich wäre sehr überrascht, wenn da etwas dran wäre«, sagt er. Seiner Meinung nach hätten seine Kollegen die Ergebnisse vorsichtiger präsentieren sollen. »Im letzten Satz des Abstracts ihres Papers räumen sie selbst ein, dass sich das Ergebnis auch ohne steriles Neutrino erklären ließe!«
Das steht so tatsächlich in dem Fachaufsatz der MiniBooNE-Forscher, wenn auch mit der Einschränkung, dass ein Modell mit sterilem Neutrino etwas besser passe; und dass die normale Interpretation mit den bekannten drei Neutrinos nicht ganz im Einklang mit den Daten anderer Experimente stehe.
Aber reicht das wirklich schon, um die große Sensation in Aussicht zu stellen? MiniBooNE-Forscher William C. Louis zuckt im Gespräch mit »Spektrum.de« lächelnd mit den Schultern: »Wenn man vorgibt, neue physikalische Phänomene entdeckt zu haben, gilt man so lange als schuldig, bis man seine Unschuld bewiesen hat«, sagt er. Er und seine Kollegen hielten es für sehr unwahrscheinlich, dass man irgendetwas übersehen habe. »Wir haben 15 Jahre lang nach Fehlern gesucht. Und die beste Erklärung ist einfach ein neuer Neutrino-Typ.«
Spielraum bei der Datenanalyse
Das stößt bei vielen Kollegen auch deshalb auf Skepsis, weil Neutrino-Experimente unglaublich kompliziert sind – und Wissenschaftler mitunter erheblichen Spielraum bei der Auslegung ihrer Daten haben, wie mancher Forscher in Heidelberg betont.
Die flüchtigen Teilchen lassen sich nicht direkt nachweisen, sondern nur über andere Partikel, die bei ihrer Interaktion mit Atomkernen entstehen. Und dabei sind längst noch nicht alle Fragen geklärt, was zwangsläufig zu Unsicherheiten in den Messungen führt.
Und letztlich ist die Natur voll von den lichtschnellen, flüchtigen Teilchen: Die Sonne schießt jede Sekunde unglaubliche Mengen von ihnen ins Weltall, und auch im Weltall sind sie allgegenwärtig. Daneben setzen etliche Prozesse auf der Erde Neutrinos frei, von der Kernspaltung bis hin zu radioaktiven Zerfällen in der Erdkruste.
Tatsächlich gibt es bei vielen Neutrino-Experimenten unerklärbare, wenn auch weniger deutliche Abweichungen von den Erwartungen, die in ihrer Gesamtheit eher schlecht zusammenpassen. Und immer mal wieder verschwindet eine dieser »Anomalien«, weil die Forscher einen Fehler in ihrer Messung finden.
So spürten beispielsweise auch mehrere Detektoren in der Nähe von Kernkraftwerken sterilen Neutrinos nach und schienen eine Spur zu sehen. Mittlerweile halten es viele Fachleute aber für wahrscheinlich, dass man bloß ein falsches Modell für den Zerfall von Uranatomkernen verwendete und deshalb mit den Erwartungen danebenlag. Rechenfehler statt Nobelpreis also.
Auch die theoretische Physik liefert aus Sicht manches Experten Munition gegen MiniBooNE: Das sterile Neutrino, das das US-Experiment aufgespürt haben will, hätte den Messdaten zufolge eine vergleichsweise kleine Masse im Bereich einiger Elektronvolt. Das passt aber nicht recht zu den populärsten Modellen für zusätzliche Neutrinos, denen zufolge Neuzugänge unter den Geisterteilchen eigentlich enorm schwer sein sollten.
In der Tat räumt auch William C. Louis auf Nachfrage ein, dass man sich so sicher noch gar nicht sei: »Wir konnten bisher noch nicht ausschließen, dass das Ergebnis auf Photonen im Detektor zurückgeht.« Diese Lichtteilchen könnten aus der unmittelbaren Umwelt des Detektors stammen und würden vom MiniBooNE-Detektor fälschlicherweise für Neutrino-Ereignisse gehalten.
Warten auf den Nachfolger
Ein Nachfolgeexperiment namens MicroBooNE soll diese Möglichkeit von 2019 an am Fermilab ausschließen. Dabei wollen die Forscher auch in Sachen Datenanalyse so gründlich und transparent vorgehen wie möglich, betont Roxanne Guenette bei der Vorstellung des Detektors auf der Heidelberger Konferenz.
Für Louis und seine Kollegen ist das bald anlaufende Experiment der finale Test ihrer spektakulären Hypothese. Andere Wissenschaftler werden dem Ergebnis wohl erst dann Glauben schenken, wenn völlig unabhängige Detektoren an anderen Orten die Anomalie reproduzieren. Erst dann können einige der Forscher damit rechnen, dass sie irgendwann einen Anruf aus Stockholm erhalten. Völlig ausschließen kann das niemand. Aber wahrscheinlicher wirkt, dass das Ganze ein großer Traum bleibt.
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