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Ornithologie: Der Vogelmann von Alcatraz

Vor 130 Jahren wurde Robert Franklin Stroud geboren. Als zweifacher Mörder saß er von seinem 19. Lebensjahr an im Gefängnis und fand dort seine Lebensarbeit: Vogelkunde.
Registrierungsfoto von Stroud in Alcatraz

Es war an einem heißen Frühsommertag in den 1920er Jahren, als ein Gewitter über dem Hochsicherheitsgefängnis von Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas losbrach. Der Häftling Robert Franklin Stroud – zu lebenslanger Haft verurteilt – war gerade beim Hofgang. Er wollte den Hof verlassen, um sich vor dem Unwetter in Sicherheit zu bringen. Da wehte ihm der Sturm ein kleines Knäuel vor die Füße. Es war ein Nest mit hilflosen jungen Spatzen, die noch nicht flügge waren. Der Wachtposten beobachtete, wie Stroud die Vögelchen behutsam an sich nahm und in seine Zelle trug.

Robert Franklin Stroud hatte durchaus Zeit, sich um verwaiste Vögel zu kümmern. Denn seine Aussichten, das Gefängnis in absehbarer Zeit zu verlassen, waren schlecht: Er war zweifacher Mörder. Für die erste Tat, die er im Alter von 18 Jahren begangen hatte, war er ins Gefängnis gekommen. Er hatte einen Mann umgebracht, der seine Freundin misshandelt hatte. Der zweite Mord – er tötete einen Wächter in Leavenworth – hätte ihn selbst fast das Leben gekostet: Er wurde dafür zum Tod verurteilt. Nur das hartnäckige Flehen von Strouds Mutter hatte US-Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) dazu bewogen, den Mörder vor dem Galgen zu bewahren und seine Strafe in eine lebenslange Haft umzuwandeln. Und dabei sollte es bleiben. Stroud, der bereits mit 19 Jahren im Gefängnis saß, kam nie wieder frei. Von seinen 73 Lebensjahren verbrachte er 54 hinter Gittern.

Stroud kam am 28. Januar 1890 in Seattle im nordwestlichen US-Bundesstaat Washington zur Welt. Die Schule hatte er nur drei Jahre lang besucht. Die häuslichen Verhältnisse müssen desolat gewesen sein, so zumindest schildert es die Mutter im Gnadengesuch an den Präsidenten. Demnach sei der junge Robert oft von seinem gewalttätigen Vater geschlagen worden, der in seiner Trunkenheit mehrfach gedroht habe, die ganze Familie umzubringen. Mit 13 Jahren verließ der junge Robert das Elternhaus und schlug sich im Hafen von Seattle mit Gelegenheitsarbeiten durch.

Verhängnisvolle Bekanntschaft in Alaska

Als er Anfang 1908 hörte, dass in Alaska eine Bahnlinie gebaut werden sollte und Streckenarbeiter gesucht wurden, machte er sich auf den Weg ins knapp 2000 Kilometer nördlich gelegene Cordova an der Mündung des Copper River. Hier lernte er in einem Saloon eine Frau kennen, die fast doppelt so alte Kate Dulaney, in deren Wohnung er bald zog. Und da fand er sie eines Tages – übel zusammengeschlagen. Dieser Tag wurde Stroud zum Verhängnis. Denn Kate, die als Prostituierte arbeitete, berichtete ihm, dass ihr ehemaliger »Beschützer« sie so zugerichtet habe. Sie wollte Rache und bekam sie. Robert erschoss den Mann. Gleich darauf stellte er sich der Polizei. Hinter dem 19-Jährigen schlossen sich die Gefängnistore – und sollten sich nie wieder öffnen.

Anfangs war Stroud optimistisch. Mord und Totschlag waren in jener Zeit an der offenen Grenze zwischen den USA und Kanada fast schon an der Tagesordnung. Daher rechnete er mit einer Gefängnisstrafe von höchstens drei Jahren. Doch es kam ganz anders, denn er wurde der erste Fall eines neu ernannten Bundesrichters, der in Alaska endlich Ordnung schaffen wollte. Stroud wurde von »Richter Gnadenlos« zur Höchststrafe verurteilt – zwölf Jahre Haft, die er zunächst auf McNeil Island absaß, einer Gefängnisinsel in der Bucht von Puget Sound südwestlich von Seattle, ehe man ihn 1912 nach Leavenworth in Kansas verlegte.

Der »Vogelmann« in Leavenworth | Die Aufnahme zeigt den Häftling im Gefängnis von Leavenworth – hier startete Stroud seine Karriere als Vogelkundler.

Hier entpuppte sich Stroud als Selfmademan. Er holte seine schulischen Versäumnisse auf und meisterte Kurse in Astronomie, Mathematik und Bauzeichnen. In der gewalttätigen Atmosphäre von Leavenworth entwickelte er aber noch andere Fähigkeiten: Unter den Häftlingen waren Waffen aller Art eine besonders gefragte Tauschware. Stroud stahl in der Küche Messer und arbeitete sie zu gefährlichen Mordwerkzeugen um.

Mord an einem Wärter

Eines dieser Messer trug Stroud bei sich, als er am 26. März 1916 wieder einmal mit dem Wärter Andrew F. Turner aneinandergeriet. Dem grobschlächtigen Turner, dem der Knüppel locker saß, war der eifrig lernende Stroud offenbar ein Dorn im Auge. Stroud wiederum empfand einen tödlichen Hass auf den Wärter, weil dieser einmal den monatelang erwarteten Besuch seines Bruders vereitelt hatte. An diesem Märztag kam es im Speisesaal zwischen beiden zu einem Wortwechsel über einen erneut geplanten Besuch von Strouds Bruder. Die Stimmen wurden lauter, dann pfiff Turners Schlagstock durch die Luft, Stroud griff zu seinem verborgenen Messer und stieß es blitzschnell in Turners Brust. Der Wärter war sofort tot.

Stroud wurde zum Tode verurteilt, doch dank des zähen Einsatzes seiner Mutter wurde das Urteil in lebenslänglich umgewandelt. Stroud fand sich zunächst damit ab, für den Rest seines Lebens eingesperrt zu sein.

Irgendwann in dieser Zeit blies das Gewitter über Leavenworth dem Häftling eine Hand voll Vogelbabys vor die Füße. Stroud bereitete den Küken in seiner Zelle ein Nest aus Strümpfen und fütterte sie mit vorgekautem Gefängnisessen. Als sie bei Kräften waren, begann er, sie zu dressieren.

Bei diesen Zellengenossen blieb es nicht. Der Häftling konnte erreichen, dass er sich Kanarienvögel halten durfte, bastelte aus einer alten Kiste einen Vogelkäfig und nahm zwei kranke Kanarienvögel eines Mithäftlings in Pflege. Stroud entwickelte eine wahre Passion, den Krankheitserreger ausfindig zu machen und die Tiere zu heilen. Und er hatte Erfolg: Die Gefängnisverwaltung sah diesen Aktivitäten wohlwollend zu, denn die zwitschernden Vögel schienen im Block der »schweren Jungs« eine merkwürdig friedliche Stimmung zu verbreiten.

1928 war Stroud 38 Jahre alt und hatte nach 19 Jahren Haft seine Lebensarbeit entdeckt

Das war der Anfang von Strouds Karriere als Vogelexperte. Er studierte die gesamte Literatur zum Thema, die sich über die Gefängnisbibliothek beschaffen ließ, stellte eigene Untersuchungen an und begann mit ornithologischen Fachzeitschriften zu korrespondieren. Stroud sezierte Vögel, die an Krankheiten eingegangen waren, und spürte den Krankheitsursachen und den Feinheiten ihrer Anatomie nach. Zeitweise bevölkerten Hunderte von Vögeln seine Zelle.

Alle Vogelwelt kannte Stroud

Er war jetzt 38 Jahre alt und hatte nach 19 Jahren Haft seine Lebensarbeit entdeckt. Kein Wunder, dass er auch außerhalb der Gefängnismauern arbeiten wollte. Er schrieb ein Gnadengesuch an Präsident Calvin Coolidge (1872-1933), in dem er betonte, seinen natürlichen Verpflichtungen im Leben nachgehen zu wollen. Doch Coolidge, ein leidenschaftlicher Verfechter des Prinzips »law and order«, lehnte ab.

Stroud resignierte nicht, sondern widmete sich verstärkt seinen Forschungen. Arzneien, die er im Gefängnis hergestellt hatte, verkaufte seine Mutter in einem kleinen Laden. Je mehr Tiere an Strouds Medikamenten gesundeten, desto größer wurde sein Bekanntheitsgrad. Bald gingen täglich Dutzende Briefe bei ihm ein, und sein Ruf als Vogelfachmann breitete sich über alle Bundesstaaten aus.

Schließlich drang sein Ruhm auch ins Bureau of Prisons, die Gefängnisverwaltung im Justizministerium. Eine solche Sonderrolle für einen Häftling könne in einem Gefängnis nicht geduldet werden, befanden die Beamten. 1931 wiesen sie den Direktor von Leavenworth an, dem Gefangenen alle Vögel wegzunehmen. Amerikas Vogelfreunde waren empört. Eine Pressekampagne lief an, flankiert durch eine Unterschriftenaktion an US-Präsident Herbert Hoover (1874-1964). Der starke Mann im Weißen Haus, der seine humanitäre Einstellung einer religiösen Erziehung als Quäker verdankte, hatte ein Einsehen und gab dem Anliegen der Petenten statt. Zähneknirschend musste die Gefängnisverwaltung klein beigeben. Stroud durfte seine Vögel behalten.

Liaison mit einer Witwe

Zu dieser Zeit pflegte Stroud mit einer älteren Witwe namens Della Jones engen Briefkontakt, der sich über eine ornithologische Zeitschrift angebahnt hatte. Mit ihrer Hilfe gelang es, sein umfangreiches Manuskript über Vogelkrankheiten bei Kanarienvögeln (»Diseases of Canaries« – »Krankheiten bei Kanarienvögeln«) aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Von einem Professor begutachtet und 1933 herausgegeben, wurde es in Fachkreisen ein großer Erfolg.

Alcatraz in der Bucht von San Francisco | Im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel Alcatraz endete Strouds Karriere als Vogelkundler. Heute ist an Ort und Stelle der 1963 geschlossenen Einrichtung ein Museum.

Ab 1933 lebte Stroud in ständiger Furcht, in ein geplantes neues Hochsicherheitsgefängnis verlegt zu werden. Alcatraz, hieß es unter den Häftlingen, sei die Hölle auf Erden. Stroud recherchierte fieberhaft in der juristischen Literatur, um einen Weg zu finden, dieser Hölle zu entgehen. Und er fand eine Lösung: eine »Vertragsehe« mit Della Jones. In einem uralten Gesetzestext aus dem Jahr 1803 gab es eine Passage, nach der eine im Einvernehmen von einer Frau und einem Mann abgegebene Erklärung genügte, um eine Ehe einzugehen. Also heirateten Stroud und Della Jones bei einem Besuchstermin, und die frischgebackene Mrs. Stroud unterrichtete umgehend die Presse. Amerika hatte seine Sensation – die Blätter schrieben über die Romanze des Doppelmörders von Leavenworth, dem ein grausames Justizministerium seine geliebten Kanarienvögel wegnehmen wollte. Das Echo war überwältigend. Wiederum gab das Justizministerium nach und strich Stroud von der Verlegungsliste.

Stroud hatte zwar einen Sieg errungen. Aber mit seiner Mutter, deren einziger Lebensinhalt der rastlose Einsatz für den Sohn gewesen war, kam es durch die Heirat zum Bruch. Auch sein Hinweis auf Alcatraz konnte sie nicht mehr umstimmen. Als Stroud 1937 ein neues Gnadengesuch nach Washington schickte, setzte sich seine Mutter nicht mehr für eine Freilassung ihres Sohnes ein.

Nachdem dieses Gesuch abgelehnt wurde, vergrub sich Stroud in Arbeit, um den Rückschlag zu verkraften. Er begann mit der Abfassung eines Lexikons über Vogelkrankheiten (»Stroud's Digest on the Diseases of Birds« – »Auswahl aus den Vogelkrankheiten«), ein 500 Seiten starkes Werk, das er mit eigenen Zeichnungen versah und das 1943 erschien.

Noch während er am Manuskript arbeitete, nahmen die Spannungen mit der Gefängnisleitung zu, die ihm schrittweise Vergünstigungen entzog. Im Kriegswinter 1942, als die Vogelfreunde Amerikas andere Sorgen hatten, ging überraschend ein Telegramm beim Anstaltsdirektor von Leavenworth ein. Wenige Stunden später war Stroud mit Handschellen und Fußeisen auf dem Weg nach Alcatraz.

Ein Buch über das Leben in Alcatraz

Mit einem Schlag hatte der Staat Strouds Laufbahn als Vogelspezialist beendet. Auf der Insel in der Bucht von San Francisco war er nur noch der Häftling mit der Nummer 594. Im brutalen Vollzug von Alcatraz war für Vogelspezialistentum kein Platz. So wandte Stroud sich einem anderen Thema zu, das er aus eigener Erfahrung bestens kannte: Er schrieb ein umfangreiches Manuskript mit einer Kritik am amerikanischen Strafvollzug – »Looking Outward: A History of the U.S. Prison System from Colonial Times to the Formation of the Bureau of Prisons« (»Blick nach außen: Eine Geschichte des US-Strafvollzugs von der Kolonialzeit bis zur Einrichtung des Bureau of Prisons«).

Burt Lancaster in seiner Rolle als »Vogelmann von Alcatraz« | Der 1962 erschienene Film nahm sich das Leben des echten »Vogelmanns« zum Vorbild, erzählte aber über weite Strecken eine eigene Geschichte, die nichts mit Strouds Gefängniskarriere zu tun hat.

Zunehmend vom harten Gefängnisleben in Alcatraz zermürbt, wollte Stroud die Öffentlichkeit mit einer Verzweiflungstat auf seine Situation aufmerksam machen. Er unternahm einen Selbstmordversuch und verschluckte vorher eine Kapsel mit einem Zettel, auf dem er einen Hinweis auf sein Manuskript notiert hatte. Beim Sezieren der Leiche außerhalb des Gefängnisses, so nahm er an, würde man den Zettel finden. Doch der Selbstmordversuch misslang. Stroud erwachte im Gefängnislazarett in einer Zwangsjacke. Das beschlagnahmte Manuskript wurde erst zwei Jahre nach seinem Tod frei gegeben.

Anfang der 1950er Jahre interessierte sich der amerikanische Schriftsteller Thomas Eugene Gaddis (1908-1984) für den Vogelmann von Alcatraz. Er stellte intensive Recherchen an und veröffentlichte 1955 sein Buch über den »Birdman of Alcatraz«, das diesen weltweit bekannt machte. Gaddis, der auch als Psychologe und Gerichtsgutachter arbeitete und ein überzeugter Befürworter der Resozialisierung von Exhäftlingen war, zeichnete darin ein günstiges Bild von Stroud. Diese positive Charakterisierung von Häftling 594 teilten seine Mithäftlinge nicht. Einige von ihnen sagten später, Robert Franklin Stroud sei im wahren Leben ein äußerst unberechenbarer und gefährlicher Psychopath und bei den Mithäftlingen nicht sonderlich beliebt gewesen.

Stroud durfte Alcatraz 1959 verlassen: Aus gesundheitlichen Gründen wurde er in das Gefängniskrankenhaus von Springfield im Staat Missouri verlegt und anschließend in den Gefangenentrakt überstellt. Dieser sollte Strouds letzte Station sein.

Letzter Versuch einer Begnadigung

Allmählich begannen die Kräfte des Vogelmanns zu schwinden, seine Gesundheit litt. Im Frühjahr 1963 scheiterte ein letzter Versuch, eine Strafaussetzung zur Bewährung zu erreichen. Richard M. English, ein junger Anwalt, der in Kalifornien für John F. Kennedy arbeitete, hatte sich der Sache um Strouds Entlassung angenommen. Er traf sich mit dem vormaligen Präsidenten Harry Truman und bat um Hilfe, aber Truman lehnte ab. English traf sich auch mit leitenden Beamten der Kennedy-Administration, die den Fall prüften. Doch letztlich kamen sie ebenfalls zu dem Schluss: Ein Gefangener, der einen Wärter getötet hatte, darf nicht begnadigt werden.

Robert Franklin Stroud starb am 21. November 1963 im Alter von 73 Jahren in seiner Zelle in Springfield. Im selben Jahr ließ der damalige Justizminister Robert Kennedy das Zuchthaus von Alcatraz schließen. Den Film über Stroud (»Birdman of Alcatraz«) mit Burt Lancaster in der Hauptrolle kam 1962 in die Kinos und wurde zum Welterfolg. Stroud selbst hat den Streifen allerdings nie gesehen.

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