Die Oranienbaumer Heide: Unterwegs auf wilden Pfaden
Als der Wagen die Landstraße verlässt und auf einen Feldweg in die Oranienbaumer Heide einbiegt, ist von der angekündigten Offenlandschaft nicht viel zu sehen: Aus dem Fenster blickt man auf einen Birkenwald. »Natürliche Sukzession«, sagt Stefan Reinhard und lenkt den Wagen weiter über das sandige Terrain. »Ohne ein Management würden alle Heideflächen heute so aussehen.«
Die Region rund um Dessau und Wörlitz in Sachsen-Anhalt ist berühmt für ihre Schlösser und Parks. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ hier Fürst Franz von Anhalt-Dessau sein Gartenreich nach dem Vorbild englischer Landschaftsparks errichten. Heute ist es UNESCO-Welterbe. Und mittendrin, gleich südlich der Schloss- und Parkanlagen Oranienbaum, liegt die Oranienbaumer Heide. Auch sie ist eine vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft. Allerdings stand an ihrem Anfang kein aufklärerischer Gedanke: Hier räumte sich die Rote Armee ein riesiges Gebiet für Schießübungen frei. Wälder wurden abgeholzt, die Ketten der Panzer wühlten den Boden auf, der Sprengstoff setzte Waldstücke in Brand. Am Ende war eine etwa 1000 Hektar große Fläche entstanden, auf der sich offene und halboffene Bereiche abwechseln.
Solche Landschaften sind rar in Deutschland. Umso mehr, als der Truppenübungsplatz nicht von Straßen zerschnitten oder durch lange landwirtschaftliche Nutzung überdüngt ist. Ganz unbeabsichtigt hatte das Militär einen überaus wertvollen Lebensraum für Spezialisten geschaffen, die in Deutschland nur noch an wenigen Orten ein Zuhause finden. Im Jahr 1992 aber zogen die Russen ab. Ohne ihre Panzerketten und das militärische Feuerwerk drohte die Verbuschung, der Jungwaldaufwuchs, die Sukzession, wie es Reinhard nennen würde.
Dass dies nicht geschieht, dafür ist er selbst mitverantwortlich. Reinhard ist Geschäftsführer der Primigenius Köthener Naturschutz und Landschaftspflege gGmbH. Ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Bio-Zertifizierung, vom Regionalverband Köthen des Naturschutzbunds Deutschland (NABU) 2002 gegründet. Spezialgebiet: Naturschutzpflege mit großen Weidetieren.
In unregelmäßigen Abständen schafft es der Chef auch selbst einmal raus zu einer Kontrollfahrt. So wie heute. Sein Wagen rumpelt an einem dünnen Weidezaun entlang, irgendwann quert er ein Viehgitter. Und dann endlich öffnet sich die Landschaft zu einer weiten Ebene mit Heide und Gräsern. Bäume und Sträucher gibt es ebenfalls, aber hier dominieren sie nicht, sondern geben der offenen Fläche nur ein bisschen zusätzliche Struktur: Heideland.
Serie: Wildnis in Deutschland
Vom Südzipfel der Republik bis in den hohen Norden – überall findet man sie inzwischen wieder, die Landschaften, in denen der Mensch die Natur Natur sein lässt. Nach Jahrhunderten der Nutzung finden sie nur langsam zu ihrem ursprünglichen Selbst zurück.
Fünf von ihnen hat unser Autor Ralf Stork für diese Serie bereist. Sie zeigen, wie wirksam Wildnis sein kann angesichts allgegenwärtiger Umweltzerstörung. Und wie weit der Weg zu mehr gesunden Lebensräumen noch ist. Das selbst gesteckte Ziel, zwei Prozent der Landesfläche in Wildnisgebiete umzuwandeln, hat Deutschland weit verfehlt. Aktuell sind es gerade einmal 0,6 Prozent.
- 21.08.2023: Nationalpark Berchtesgaden: Die Wucht des Wandels
- 22.08.2023: Der Anklamer Stadtbruch: Geschöpfe einer wilden Nacht
- 23.08.2023: Nationalpark Harz: Wo die wilde Jugend wächst
- 24.08.2023: Der Beltringharder Koog: Die Wiedererweckung einer verlorenen Landschaft
- 25.08.2023: Die Oranienbaumer Heide: Unterwegs auf wilden Pfaden
Heckrinder gestalten die Landschaft um
Kurz darauf kommt, rechts vom Weg, das in den Blick, wonach Reinhard gesucht hat: Etwa 50 Meter entfernt steht eine Gruppe kräftiger Rinder mit ausladenden Hörnern. »Das sind unsere Heckrinder«, sagt Reinhard. Mit ihrem Appetit auf frisches Grün helfen sie, die Heidelandschaft offen zu halten. Ihre Hufe und massigen Körper reißen den Boden auf wie einstmals die Panzer. Deutlich sind die häufig genutzten Trampelpfade der Tiere zu erkennen.
Der Großteil der Rinder ist dunkel, fast schwarz gefärbt, mit einem schmalen rötlichen Fellstreifen – dem so genannten Aalstrich – auf dem Rücken. Charakteristisch ist außerdem das weiße, wie mit Mehl bestäubte Maul. Einige Rinder liegen auf dem Boden und käuen wieder. Andere knabbern an niedrigen Büschen oder schubbern ihren Rücken an kleinen Bäumen. Sie beäugen misstrauisch die Menschen, die da gerade aus dem Auto gestiegen sind. Und sie achten darauf, dass immer gut 20 Meter Sicherheitsabstand zwischen ihnen und den Zweibeinern liegen.
Heckrinder sind nach den Brüdern Lutz und Heinz Heck benannt. Ihre in den 1920er Jahren begonnene Zucht war der Versuch, den ausgerotteten Auerochsen wieder zum Leben zu erwecken. Selbst wenn es sich bei den Heckrindern nicht um echte Auerochsen handelt, schinden sie doch Eindruck beim Betrachter. Offiziell gelten sie als Haustiere, weshalb sie auch alle eine gelbe Plastikmarke im Ohr tragen. Doch beim Beobachten der Herde, die sich ebenso ruhig wie selbstverständlich durch die karge Heidelandschaft bewegt, wird überhaupt erst deutlich, was im Lauf der Zeit an Wildnis verloren gegangen ist: Es gibt schon sehr, sehr lange keine großen Pflanzenfresser mehr, die in Herden übers Land ziehen. Der Wisent ist im 18. Jahrhundert in Deutschland ausgestorben. Die Ausrottung von Auerochsen und Wildpferden liegt noch länger zurück, und der Rothirsch, der früher in großen Rudeln in die offenen Flussauen zog, wird heute mit Waffengewalt im Wald gehalten.
Obwohl die Heckrinder keine »echten« Wildtiere sind, freut sich das Auge über ihren Anblick. Wichtiger noch ist aber die Arbeit, die sie für den Erhalt der Oranienbaumer Heide leisten. Das seit 1998 geschützte Gebiet gilt inzwischen als eine der artenreichsten Flächen in Sachsen-Anhalt. Erst im Januar 2023 zeichnete Bundesumweltministerin Steffi Lemke das Projekt von Primigenius und der Hochschule Anhalt im Rahmen des UN-Dekade-Projektwettbewerbs als »Best-Practice-Beispiel« im Bereich Kultur- und Agrarlandschaften aus.
Den Mägen der Rinder sei Dank. Viele der Gehölze im Gebiet werden von ihnen verbissen, größere Bäume zum Teil umgedrückt und geschält. Je nach Futtervorliebe der Rinder ist die Vegetation in manchen Bereichen fast bis zum Boden abgefressen. In anderen Bereichen stehen die Pflanzen dagegen knöchel-, knie- oder hüfthoch. Oder die Vegetation fehlt ganz, weil sich die schweren Tiere gezielt Flächen frei scharren, um sich dort im Sand zu wälzen. »Die Rinder schaffen hier ein Mosaik an Strukturen, das wir mit mechanischen Mitteln gar nicht hinkriegen könnten«, sagt Reinhard. Je mehr Strukturen es gibt, desto mehr Nischen für seltene Arten finden sich auch. Die offenen Bodenstellen können von Wildbienen und Erdhummeln genutzt werden, Pionierpflanzen können sich ansiedeln.
Haufenweise Biotope
Und dann ist da noch der Kot der Tiere: jeder Dunghaufen ein Biotop für sich. Stefan Reinhard bricht einen trockenen Fladen auseinander. Darin sind viele Gänge zu erkennen: »Mistkäfer, Fliegen und andere Insekten nutzen den Kot als Nahrung und ziehen ihn teilweise in den Boden«, sagt er. Die Insekten wiederum stehen auf der Speisekarte eines charakteristischen Vogels der Offenlandschaft, des Wiedehopfs. Seit der Beweidung haben seine Bestände in der Heidelandschaft stark zugenommen. Tatsächlich sitzt einer nur ein paar Minuten später auf einem Baum, an dem Reinhard den Wagen vorbeisteuert. Auch Neuntöter sieht man häufig. Dazu sind Wendehälse, Ziegenmelker und Heidelerchen auf die offene Landschaft und ihren Insektenreichtum angewiesen.
Die Fläche, auf der sich die aktuell 55 Heckrinder frei bewegen, ist 800 Hektar groß. »Man könnte leicht den ganzen Tag in der Heide unterwegs sein, ohne ein einziges Tier zu Gesicht zu bekommen«, sagt Reinhard. Weil die Rinder aber keine Wild-, sondern Nutztiere sind, müssen sie – laut landwirtschaftlicher Verordnung – täglich in Augenschein genommen werden. Einige Kühe sind deshalb mit einem Senderhalsband ausgestattet, über das die Herde angepeilt werden kann.
Das Gleiche gilt für die zweite Tierart, die bei der Offenhaltung der Heidelandschaft hilft: Reinhard ruckelt mit dem Wagen auf immer schmaleren Wegen zu einer großen, offenen Fläche, die durch ein Waldstück vom Hauptweg getrennt ist. Nachdem er den Motor abgestellt hat, dauert es nicht lange, bis der Wagen von einer Gruppe Pferde umringt ist. Insgesamt 36 Koniks (polnisch »Pferdchen«) helfen ebenfalls bei der Heidepflege. Koniks sind eine robuste Hauspferderasse aus Polen. Früher nahm man an, dass sie von letzten europäischen Wildpferden – den Tarpanen – abstammen. Diese Hypothese ist durch Genanalysen jedoch mittlerweile widerlegt worden. Ihre ausgesprochene Neugier und Menschenfreundlichkeit wollen auch nicht recht zu einem echten Wildpferd passen. Bei dem Kontrollgang jedenfalls werden die Menschen auf Schritt und Tritt begleitet und beschnuppert.
Wilde Weiden
Aber trotz ihrer Freundlichkeit sind die Koniks sehr robust und bestens an das ganzjährige Leben in der Wildnis der Oranienbaumer Heide angepasst. Und sie entwickeln genau solche Herdenstrukturen, wie es echte Wildpferde auch tun würden: »Es gibt zwei Haremsgruppen mit je einem Hengst«, sagt Reinhard. Obwohl alle Pferde auf relativ kleiner Fläche beieinanderstehen, kann man die Gruppen gut auseinanderhalten. Sie stehen räumlich etwas getrennt voneinander, die Hengste lassen sich kaum aus den Augen. Dann gibt es noch einen weiteren kleinen Trupp, der etwas abseits steht: vier männliche Pferde und eine Stute. Die Stute ist kürzlich aus einem anderen Beweidungsprojekt in die Oranienbaumer Heide gekommen und hat noch keinen Anschluss an eine der Haremsgruppen gefunden. Deshalb gesellt sie sich erst einmal zu den Außenseitern. Wenig später kommt es sogar zur Auseinandersetzung zwischen den Hengsten: Mit stark aufgewölbtem Hals und in ausladendem Trab laufen sie nebeneinanderher, verharren, beriechen sich, steigen hoch und treten mit der Hinterhand aus. Nach wenigen Minuten ist der ritualisierte Kampf auch schon wieder vorbei, und beide Hengste ziehen sich zu ihren Gruppen zurück.
Während die Rinder untereinander meist einen Abstand von 10 bis 15 Metern einhalten, stehen die Pferde oft sehr nah beieinander, häufig im direkten Körperkontakt. Auch dieses Verhalten gibt der Oranienbaumer Heide ihre Gestalt: Wo die Koniks sich über einen längeren Zeitraum aufhalten, mit den Hufen scharren oder sich auf dem Boden wälzen, wächst bald kein Gras mehr. Trittschäden und intensives Äsen an konzentrierten Stellen sorgen dafür, dass die Grasnarbe verletzt und der Boden frei gelegt wird. Andere Bereiche, unter anderem Kotstellen, werden von den Pferden gemieden, so dass dort die Vegetation höher wachsen kann.
Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass Pferde und Rinder keine Jungtiere haben. »Nach 2012 hat sich ein Wolfsrudel im Gebiet gegründet. Weil 2015 und 2016 einzelne Jungtiere, vor allem Fohlen, attackiert wurden, haben wir aus Verantwortung für die Tiere in 2016 dafür gesorgt, dass es keinen Nachwuchs mehr gibt«, sagt Reinhard. Die beiden Hengste sind sterilisiert, haben aber ihr natürliches Herdenverhalten beibehalten. Die vier männlichen Pferde, die sich abseits hielten, sind Wallache. Auch bei den Rindern gibt es nur noch ausgewachsene Tiere, die wehrhaft genug sind, um gegen die Wölfe zu bestehen.
Echte Wildnis mit großen Pflanzenfressern ist in Deutschland eben kompliziert. Bei Offenlandschaften sowieso. In der Oranienbaumer Heide muss im Winter etwas Heu zugefüttert werden, weil dann die mageren Flächen nicht genug Nahrung bieten. Auch künstliche Tränken gibt es in dem Gebiet, dem natürliche Gewässer fehlen. Und weil die nicht einmal 100 Rinder und Pferde nicht alle Pflanzen abfressen, müssen Sträucher und Bäume auch weiterhin mechanisch entfernt werden, um die Freiflächen der Oranienbaumer Heide dauerhaft offen zu halten.
In einer echten Wildnis wären die Tiere sich selbst überlassen und müssten mit der Witterung, mit Nahrungsmangel und Wolfsangriffen umgehen. »Von der Veranlagung haben die Tiere auch das Potenzial für ein Leben ohne menschliche Obhut«, sagt Reinhard. In einer echten Wildnis könnten sich die Tiere allerdings wirklich frei bewegen und vermehren. Bei Nahrungsknappheit weiterziehen. Bei Überbevölkerung abwandern (oder im kalten Winter verhungern.) »Unsere Beweidung ist ein Kompromiss des Machbaren«, sagt Stefan Reinhard. Mehr freie Natur ist im dicht besiedelten Deutschland nicht möglich.
Und trotzdem bleibt das Bild der Rinder und Pferde in ihrer natürlichen Umgebung lange im Gedächtnis. Es wirkt so natürlich – so richtig –, die großen Tiere in der Landschaft zu sehen. Wenn sie die auch nicht gleich in eine Wildnis verwandeln, wilder machen sie sie allemal.
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