Gaia-Weltraummission: Die stille Revolution
Milliarden von Sternen flimmern am Firmament, aber wie weit sind sie eigentlich weg? Die Frage ist so alt wie die Astronomie, und lange kamen die Gelehrten damit nicht wirklich weiter. Friedrich Bessel war schließlich der Erste, der eine Antwort fand. Um das Jahr 1838 richtete der deutsche Wissenschaftler sein fein justierbares Fernrohr immer wieder auf einen hellen Punkt im Sternbild Schwan. Nach mühsamen Berechnungen kam er auf eine Distanz von zehn Lichtjahren – und hatte damit eine erste Wegmarke in die Weiten des Alls gehämmert.
Anno 2020 kennen Astronomen Abstand und Position von mehr als einer Milliarde Sterne. Es ist eine Schwindel erregend große Zahl, wenn auch nicht einmal ein Hundertstel der Sterne in unserer Galaxie. Aber die Menschheit ist ja noch nicht fertig mit ihrer Kartierung des Weltalls, im Gegenteil: Alle paar Jahre veröffentlichen Forscher einen neuen Sternenkatalog, der noch etwas umfassender und genauer ist als seine Vorgänger.
An diesem Donnerstag, den 3. Dezember, ist es wieder so weit: In einem Dutzend Länder haben Wissenschaftler auf Pressekonferenzen und in Fachvorträgen neue Messdaten des ESA-Satelliten Gaia vorgestellt. Er ist seit seinem Start im Jahr 2013 die Referenz bei der Vermessung des Weltalls. 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, im Schatten unseres Planeten, treibt er durchs All und fährt mit seinen beiden Kameras immer wieder das gesamte Firmament ab.
Eine Milliarde Parallaxen
Die drei Meter große Raumsonde setzt dabei auf dieselbe Strategie, mit der schon Friedrich Bessel die Entfernung zum Sternsystem 61 Cygni bestimmte: Man schaut, wie sich die scheinbare Position eines Sterns binnen eines halben Jahres verändert. Zu Hause auf dem Sofa kann man sich das Prinzip dieser Parallaxenmessung mit dem eigenen Daumen klarmachen: Hält man ihn ausgestreckt vor sich und betrachtet ihn erst durch das linke und dann durch das rechte Auge, springt der Finger ein Stück. Der Sprung wird dabei größer, wenn man den Daumen ganz nah an die Nase hält, und kleiner, wenn man den Arm ausstreckt.
So ähnlich klappt es auch im Weltall. Binnen eines halben Jahres dreht Gaia gemeinsam mit der Erde eine halbe Runde um die Sonne – und schaut dann aus anderer Perspektive auf die Sterne in unserem Umfeld. Sie rücken dabei jeweils ein kleines Stück zur Seite. Je kleiner dieser Sprung ist, desto weiter sind die leuchtenden Punkte entfernt.
Was sich einfach anhört, erfordert in der Praxis unvorstellbare Präzision. Schon bei unserem Nachbarstern Proxima Centauri ist die Parallaxe kleiner als eine »Bogensekunde«. Das ist die in der Astronomie übliche Maßeinheit für kleine Winkelabstände, die gerade mal 0,05 Prozent des Vollmonddurchmessers entspricht. Bei Sternen im weiteren Umfeld müssen Gaias Kameras noch zehntausendfach genauer hinsehen.
Aber nicht nur das: Nach dem Start der Mission mussten die Wissenschaftler ermitteln, wo genau sich Gaia im Raum aufhält, auf den Atomdurchmesser genau. Möglich war dies nur, da man die Himmelsaufnahmen des Satelliten – die sich ja nur über lange Zeiträume verändern – zur Standortbestimmung verwendete. Anschließend galt es noch, eine Gleichung mit 700 Millionen Unbekannten zu lösen. Ein Kniff, den beteiligte Forscher gerne mit dem Baron von Münchhausen vergleichen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf sieht.
Nicht so sexy wie Hubble, aber genauso wichtig
Dann müssen Fachleute den Datenstrom von Gaia (bisher mehr als 86 000 Gigabyte) noch säubern und aufbereiten. Auch das eine Wissenschaft für sich, wie beteiligte Forscher versichern. Kein Wunder also, dass an Gaia mehr als 400 Experten beteiligt sind, die sich in einer komplizierten, behördenartigen Struktur organisiert haben. Am Ende kommt bei ihrer Arbeit etwas heraus, was vergleichsweise wenig Schauwert bietet, zumindest wenn man es mit den majestätischen Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops vergleicht.
Doch sexy ist nicht immer gleichbedeutend mit wichtig. Für tausende Forscher ist der jeweils neueste Datenkatalog von Gaia die Basis ihrer täglichen Arbeit. Kaum ein Fachaufsatz in der Astronomie kommt ohne Position, Entfernung und Bewegungsrichtung der Sterne da draußen aus – je genauer, desto besser.
Und so verhängten Institute in der Vergangenheit angeblich schon mal eine Urlaubssperre, wenn ein neuer Gaia-Datenkatalog anstand. Und mancher Mitarbeiter des Projekts zählt Morgen für Morgen, wie viele Fachaufsätze die Daten der 800 Millionen Euro teuren Mission verwenden. Beim 2018 erschienenen Katalog waren es zuletzt mehr als 4300.
Dabei werden die Forscher nicht müde zu betonen, wie sehr das europäische Projekt unseren Blick aufs Universum verändert hat. Mit dem Vorgängersatelliten Hipparcos hatte man bloß 20 000 Sternpositionen erfasst. In dem dritten Katalog von Gaia sind dagegen 1,81 Milliarden Sterne enthalten, 120 Millionen mehr als in der Datenbank, die das Team vor zwei Jahren veröffentlichte. Die Entfernung der einzelnen Sterne ist dabei nun um 30 Prozent genauer bekannt als noch 2018.
In welchen Fragen die präziseren Daten die Astronomie voranbringen werden, ist noch unklar. Aus dem letzten Datensatz konnten Forscher zum Beispiel herauslesen, dass die Milchstraße vor etwa zehn Milliarden Jahren mit einer anderen Galaxie kollidiert sein muss. Auch scheint unsere kosmische Heimat an den Rändern leicht verbogen zu sein. Ähnliche Geheimnisse könnte auch der neue Datensatz enthalten.
Einen ersten Vorgeschmack haben die Gaia-Wissenschaftler am Donnerstag schon selbst gegeben: Unter anderem lässt sich mit den neuen Daten angeben, wie viele Sterne uns innerhalb eines Abstands von 326 Lichtjahren (Astronomen sprechen von 100 Parsec) umgeben. Es sind etwa 300 000. Auch konnten die Forscher erstmals die Beschleunigung des Sonnensystems um das Zentrum unserer Galaxie ermitteln. Sie ist extrem klein und entspricht in etwa dem, was Experten vermutet haben.
Eine Erweiterung des Sternatlas ist übrigens bereits absehbar: Schon vor Monaten haben die Wissenschaftler beschlossen, die Messdaten aus den Jahren 2014 bis 2017 in zwei Schritten zu veröffentlichen. Teil eins gab es jetzt, Teil zwei des Katalogs soll 2022 folgen. Darin wollen die Forscher unter anderem die Radialgeschwindigkeiten vieler Sterne nachreichen sowie die Angaben zu Sternen, die ihre Helligkeit periodisch verändern.
Später soll es dann noch einen vierten Katalog geben. Und eventuell geht es danach sogar noch weiter. Gaia wird bis mindestens 2022 Daten sammeln. Und vielleicht verlängert die ESA die Mission sogar bis 2025. Das hofft man jedenfalls bei Gaia, und wahrscheinlich hoffen es auch alle anderen Astronomen. Zumindest in den Momenten, in denen ihnen der dritte Datensatz der Mission etwas Ruhe lässt.
Hinweis: Mit der kostenlosen Open-Source-Software GAIA-Sky kann man den zweiten Sternenkatalog der Mission in 3-D erkunden.
Anmerkung: In der Original-Fassung des Artikels hieß es, die Wissenschaftler müssten den Standort des Satelliten zu jeder Zeit auf den Atomdurchmesser genau kennen. Das ist nicht ganz richtig: Tatsächlich war dies nur zur Kalibrierung der Teleskope kurz nach dem Start nötig. Im Alltagsbetrieb reicht es, wenn die Position von Gaia auf 30 Meter genau bekannt ist. Wir haben den Fehler korrigiert.
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