Ernährung: Können Lebensmittel süchtig machen?
Wenn sie die Wahl haben, entscheiden sich die meisten Ratten für Zucker statt Kokain. Ihr Verlangen nach dem Kohlenhydrat ist so stark, dass sie sich sogar selbst Elektroschocks verabreichen, um es weiterhin konsumieren zu können. Ratten sind mit diesem Drang nicht allein: Menschen, so scheint es, tun etwas ganz Ähnliches. So greifen zum Beispiel Personen, die sich einem Eingriff aus dem Bereich der Adipositaschirurgie unterzogen haben, manchmal weiterhin zu hochverarbeiteten Lebensmitteln, die aus Weißmehl, Zucker und Ähnlichem hergestellt werden, auch wenn dies bedeutet, dass sie sich später übergeben müssen oder Durchfall bekommen.
Studien deuten darauf hin, dass der tägliche Verzehr von verarbeiteten Lebensmitteln das Belohnungszentrum im Gehirn neu verschaltet. Wenn sich Menschen nach leckeren Mahlzeiten verzehren, reagiert ihr Gehirn ähnlich wie beim Verlangen nach Kokain. Einige Forscherinnen und Forscher fragen sich deshalb mittlerweile: Können Produkte wie Pommes frites oder Kekse eine ähnliche Abhängigkeit auslösen wie Drogen oder Alkohol?
Eine eindeutige Antwort darauf gibt es bislang nicht. Ob Lebensmittel wirklich süchtig machen können, wird in der Wissenschaft angeregt debattiert. Verarbeitete Lebensmittel können zwar das Bedürfnis wecken, mehr und mehr von ihnen zu konsumieren. Doch sind sie zum Beispiel auch dazu in der Lage, die Stimmung der Konsumenten zu beeinflussen, ein weiteres Kriterium für eine Sucht?
Antworten auf diese Fragen zu finden, ist auch deshalb schwer, weil wir täglich so viele verschiedene Lebensmittel konsumieren. Es gibt nicht die eine opiatähnliche Substanz, die dazu führt, dass jemand süchtig nach bestimmten Lebensmitteln wird. Diejenigen, die es für möglich halten, dass Lebensmittel süchtig machen können, gehen von Folgendem aus: Das Zusammenspiel von Kohlenhydraten und Fetten in unnatürlich hohen Dosen schafft eine Art schnelles »Abgabesystem« für Nährstoffe, welches das Belohnungssystem im Gehirn beeinflusst, ähnlich wie Kokain oder Nikotin.
Etwa jeder fünfte Erwachsene soll süchtig nach Lebensmitteln sein
Um zu untersuchen, wie sich dies auf das tatsächliche Verhalten auswirkt, haben Forscherinnen und Forscher im Jahr 2009 die Yale Food Addiction Scale entwickelt. Mit ihr lässt sich beurteilen, ob eine Person Verhaltensmuster zeigt, die es rechtfertigen würden, Pommes, Shakes und andere schmackhafte Lebensmittel als Suchtmittel einzustufen. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2022, die auf dieser Messtechnik basiert, legt nahe, dass 20 Prozent der Erwachsenen süchtig nach bestimmten Lebensmitteln sind. Diese Menschen setzen alles daran, ihre Lieblingsspeisen zu bekommen, und essen oft so viel, bis sie sich körperlich krank fühlen. Sie erleben außerdem Entzugserscheinungen, schaffen es nicht, mit dem Verzehr bestimmter Lebensmittel aufzuhören, und setzen ihren Konsum trotz negativer Folgen wie Störungen des Tagesablaufs und sozialer Aktivitäten fort.
Die Sucht nach Lebensmitteln ist dabei von der Fettleibigkeit zu trennen. Überraschenderweise halten viele Menschen, die die Kriterien für eine Lebensmittelsucht erfüllen, ein normales Gewicht. Wenn überhaupt, sei die Sucht nach bestimmten Lebensmitteln mit der Binge-Eating-Störung verwandt, sagt Alexandra DiFeliceantonio, Neurowissenschaftlerin am Fralin Biomedical Research Institute an der Virginia Tech Carilion School of Medicine. In beiden Fällen verlieren die Betroffenen die Kontrolle über ihre Nahrungsaufnahme. Bei einer Sucht nach Lebensmitteln kommen auch noch Verlangen, Entzugserscheinungen und fortgesetzter Konsum trotz negativer Folgen hinzu.
Kritiker dieser Forschung wenden ein, dass man von etwas, das lebensnotwendig ist, nicht süchtig werden kann. Zudem haben Wissenschaftler zwar Nikotin in Zigaretten und Ethanol in Wein oder Bier als jene Stoffe identifiziert, die für die Abhängigkeit von diesen Suchtmitteln verantwortlich sind; für Lebensmittel gibt es aber keine so eindeutige Entsprechung. »Es ist sehr schwierig zu beweisen, dass es Nährstoffe in Lebensmitteln gibt, die direkt süchtig machen«, erklärt Johannes Hebebrand, Psychiater an der Universität Duisburg-Essen.
Die fatale Verbindung von Fett und Zucker
Ashley Gearhardt, klinische Psychologin an der University of Michigan, argumentiert allerdings, dass sich hochverarbeitete Lebensmittel stark von dem unterscheiden, was unsere Vorfahren früher zu sich nahmen. »Lebensmittel, die einen sehr hohen Fett- und Kohlenhydratanteil in einem ausgewogenen Verhältnis aufweisen, gibt es in der Natur nicht. Sie sind etwas, das von Lebensmittelwissenschaftlern in einem Labor entwickelt wurde, um auf eine bestimmte Art und Weise auszusehen, sich auf eine bestimmte Art und Weise im Mund anzufühlen und auf eine bestimmte Art und Weise zu riechen, wenn man die Verpackung öffnet.« Eine Studie aus dem Jahr 2021 hat beispielsweise gezeigt: Personen mit einer Binge-Eating-Störung überessen sich ausschließlich an hochverarbeiteten Lebensmitteln. »Die Menschen verlieren nicht die Kontrolle bei Bohnen«, sagt Gearhardt.
Untersuchungen an Ratten legen nahe, dass Saccharose die Tiere süchtig macht. »Sie wollen mehr und mehr und mehr. Jeden Tag zeigen sie Anzeichen von Verlangen«, erklärt Nicole Avena, eine Neurowissenschaftlerin an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai. Zucker ist in vielen natürlichen Lebensmitteln enthalten, von Bananen bis hin zu Rüben. Avena weist jedoch darauf hin, dass es auf das Gesamtbild ankommt. Ein Stück Obst, sagt sie, »hat die richtige Menge an Zucker, je nachdem, wie viele Ballaststoffe es enthält. Außerdem enthält es andere Nährstoffe, die die Auswirkungen des Zuckers auf unser Gehirn minimieren oder abmildern.«
Was sind hochverarbeitete Lebensmittel?
Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind hochverarbeitete Lebensmittel (ultra-processed foods, kurz: UPFs) »verzehrfertige Produkte, die aus einer Kombination von lebensmittelbasierten oder synthetischen Zutaten hergestellt werden«. Sie sind oft lange haltbar, erhitzbar und schmackhaft. In aller Regel enthalten sie wenige Nährstoffe, aber viele Kalorien. Sie sind fett-, zucker- und salzreich, dafür aber vitamin-, ballaststoff- und mineralstoffarm. Beispiele sind neben Fertiggerichten auch abgepacktes Brot, Fruchtjoghurts mit Zuckerzusatz, Limonaden, Süßigkeiten und verarbeitetes Fleisch wie Würstchen. Ebenso werden pflanzliche Ersatzprodukte für Fleisch, Milch und Käse als hochverarbeitete Lebensmittel kategorisiert.
Studien zufolge decken die Menschen in Deutschland inzwischen im Schnitt rund die Hälfte ihrer Energiezufuhr mit hochverarbeiteten Lebensmitteln. Der Verzehr einiger dieser Lebensmittel wird mittlerweile mit einem erhöhten Risiko etwa für Diabetes, Darmkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Verbindung gebracht.
Das Konzept der UPFs ist allerdings nicht unumstritten. So ist bislang unklar, welche Eigenschaften der Nahrungsmittel genau für die gesundheitsschädigenden Effekte verantwortlich sind. Zudem wenden manche ein, dass die Kategorie zum Teil sehr unterschiedliche Lebensmittel umfasst, die nicht alle zwingend den gleichen Verarbeitungsgrad aufweisen. Manche Lebensmittel aus der Gruppe kommen sogar in Ernährungsempfehlungen vor oder gelten eigentlich als gesund.
Entscheidend seien zudem die Dosierung und die Geschwindigkeit, mit der eine Substanz aufgenommen wird, argumentieren die Wissenschaftler. Die meisten Menschen trinken zum Beispiel kein reines Ethanol. Stattdessen entscheiden sie sich für Wein oder Bier. Beide Getränke enthalten nur eine geringe Menge der süchtig machenden Substanz. (Bier besteht in der Regel zu mehr als 90 Prozent aus Wasser.) Auch Saccharose nehmen nur wenige von uns löffelweise zu sich.
In hochverarbeiteten Snacks wird Zucker hingegen oft von Fett begleitet – eine Kombination, die dafür sorgen könnte, dass solche Lebensmittel noch leichter süchtig machen. Eine Studie von DiFeliceantonio und ihren Kollegen aus dem Jahr 2018 hat gezeigt, dass im Vergleich zu anderen Lebensmitteln mit gleich vielen Kalorien, die entweder nur Fett oder nur Kohlenhydrate enthalten, solche mit beiden Zutaten weitaus effizienter darin sind, das Striatum zu aktivieren, einen Teil des Belohnungszentrums, der bei Süchten eine Rolle spielt.
Das Belohnungssystem reagiert auf hochverarbeitete Lebensmittel wie auf Kokain
Für eine Studie aus dem Jahr 2023 wiesen DiFeliceantonio und ihre Kollegen 82 Personen nach dem Zufallsprinzip an, acht Wochen lang entweder fett- und zuckerreiche Joghurts oder fett- und zuckerarme Joghurts zu essen. Dabei entdeckte das Team nicht nur, dass die Vorliebe der ersten Gruppe für die gesünderen Joghurts nach dem Versuch abnahm. Das Gehirn der Teilnehmer reagierte ebenfalls anders auf hochverarbeitete Lebensmittel: Als sie im Anschluss Milchshakes probieren sollten, die viel Zucker und Fett enthielten, regte sich ihr Belohnungszentrum, einschließlich des Striatums, deutlich stärker. »Hochverarbeitete Lebensmittel nehmen das Gehirn in einer Weise in Beschlag, die man auch bei der Drogensucht beobachten kann«, sagt Avena.
Bei Drogensüchtigen wird Dopamin im Belohnungszentrum des Gehirns freigesetzt. Doch fettige und zuckerhaltige Lebensmittel können ebenfalls diesen Effekt auslösen. Das zeigt eine Untersuchung aus dem Jahr 2023, der zufolge der Genuss eines Milchshakes bei gesunden Menschen zu einer signifikanten Dopaminausschüttung führt, die etwa ein Drittel dessen betragen kann, was normalerweise bei Amphetaminen – einer Gruppe von Stimulanzien mit hohem Suchtpotenzial – beobachtet wird.
Das Suchtpotenzial von hochverarbeiteten Lebensmitteln beruht allerdings womöglich nicht nur auf Dopamin. Eine Studie aus dem Jahr 2023 liefert Hinweise darauf, dass auch der Cannabinoidrezeptor 2 (CB2) für die Abhängigkeit von bestimmten Lebensmitteln bedeutsam sein könnte. Bei Nagetieren, denen diese Rezeptoren im Gehirn fehlen, ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie kokain- oder alkoholabhängig werden. Sie sind auch weniger gefährdet, ein unstillbares Verlangen nach bestimmten Lebensmitteln zu entwickeln – eine Erkenntnis, die neue Wege für die Behandlung von Essanfällen eröffnen könnte.
Jugendliche, die man anwies, drei Tage lang auf Limonade zu verzichten, klagten über eine verminderte Motivation und Konzentrationsfähigkeit
Die Forschung zu Medikamenten zur Gewichtsreduzierung liefert weitere Hinweise darauf, dass Überessen und Substanzmissbrauch auf gemeinsamen Hirnprozessen beruhen könnten. Das Abnehmmittel Semaglutid, das inzwischen auch in Europa zugelassen ist und unter den Markennamen Ozempic und Wegovy vertrieben wird, führt zu einer Gewichtsabnahme, indem es das Hormon GLP-1 nachahmt. Dieses steigert die Insulinausschüttung und unterdrückt das Hungergefühl. Semaglutid könnte möglicherweise ebenso Menschen helfen, die mit verschiedenen Substanzabhängigkeiten zu kämpfen haben. So deuten Tierversuche beispielsweise darauf hin, dass das Medikament die Abhängigkeit von Kokain und Opioiden verringern kann. »Das stützt das Argument, dass Lebensmittel und Drogen in vielerlei Hinsicht auf die gleichen Gehirnsysteme wirken können«, sagt Avena.
In diese Richtung weist zudem eine Studie aus dem Jahr 2023: Als die Forscher Drogenabhängigen Bilder von Kokain und gesunden Menschen Fotos von Donuts zeigten, leuchteten in beiden Gruppen im Hirnscanner die gleichen Gehirnregionen auf – von dem ventralen Striatum und der Amygdala bis hin zum Kleinhirn. Und je stärker das Verlangen der Teilnehmenden war, desto intensiver fiel ihre neuronale Reaktion aus.
Sind Limonade und Tiefkühlpizza die neuen Zigaretten?
Entzugserscheinungen, ein weiteres typisches Kennzeichen einer Sucht, scheinen ebenfalls im Zusammenhang mit hochverarbeiteten Lebensmitteln aufzutreten. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass jemand zittrige Hände bekommt, wenn er keine Kekse mehr isst. Doch Eltern, die versuchten, den Konsum von zuckerhaltigen Getränken bei ihren Kindern einzuschränken, berichteten in einer Studie durchaus über Symptome wie Kopfschmerzen, Reizbarkeit und sozialen Rückzug bei ihrem Nachwuchs. Und Jugendliche, die man anwies, drei Tage lang auf ihren sonst üblichen, hohen Limonadenkonsum zu verzichten, klagten über eine verminderte Motivation und Konzentrationsfähigkeit – gepaart mit häufigeren Kopfschmerzen.
Mit diesem Argument lassen sich nicht alle von einer Sucht nach bestimmten Lebensmitteln überzeugen. Kritiker weisen etwa darauf hin, dass bei Leckereien wie Burgern oder Pommes der »Rausch« fehlt, den Opioide oder Alkohol auslösen. Nach diesem Prinzip würden aber auch Zigaretten nicht süchtig machen, hält Gearhardt dagegen. Sie verweist auf Studien, die zeigen, dass Schokolade eine psychoaktive Wirkung hat und mindestens ebenso euphorische Gefühle hervorrufen kann wie intravenös verabreichtes Nikotin bei Rauchern.
Im Jahr 2022 veröffentlichten Gearhardt und DiFeliceantonio in der Fachzeitschrift »Addiction« einen Meinungsbeitrag, in dem sie argumentieren, dass hochverarbeitete Lebensmittel als süchtig machend eingestuft werden sollten. Dabei stützen sie sich auf einen Bericht über Tabakerzeugnisse aus dem Jahr 1988. Dieser legt die wissenschaftlichen Beweise für die süchtig machende Wirkung von Zigaretten dar, einschließlich ihrer psychoaktiven Wirkung und ihres Potenzials, zwanghaften Konsum auszulösen. Ähnliche Belege, so argumentieren die Wissenschaftler, gebe es bereits für hochverarbeitete Lebensmittel.
Hebebrand befürchtet allerdings, eine übereilte Einstufung bestimmter Lebensmittel als süchtig machend könnte die Zuckerindustrie zu einfach vom Haken lassen. Solange die Wissenschaft sich noch uneins sei, könnten sich die Hersteller im Zweifelsfall zu leicht darauf berufen, dass die genaue Datenlage noch unklar sei. Die Industrie hat bereits Forschungsarbeiten gefördert, die der Existenz einer Zuckersucht widersprechen – ein Vorgehen, das Gearhardt an jenes der Tabakindustrie erinnert. Schließlich war auch das Suchtpotenzial von Nikotin lange umstritten: Es hat keinen nennenswerten bewusstseinsverändernden Effekt und Forscher wissen nicht, ab welcher Dosis es abhängig macht. Infolgedessen wurde seine Suchtwirkung – auch infolge des Einflusses der Tabakindustrie – jahrzehntelang geleugnet.
In Anbetracht der Konsequenzen, die hochverarbeitete Lebensmittel für die Gesundheit haben können – eine Metaanalyse aus dem Jahr 2021 deutet darauf hin, dass solche Produkte das Risiko, frühzeitig zu sterben, um 25 Prozent erhöhen –, ist Gearhardt der Ansicht: Es wäre weniger schädlich, sie fälschlicherweise als Suchtmittel zu klassifizieren als dies fälschlicherweise nicht zu tun. »Es ist wie bei den Zigaretten«, sagt sie.
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