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ESA-Chef Johann-Dietrich Wörner: Verzweifelt an Europa

Er gilt als überzeugter Europäer und ist genau daran gescheitert, ausgerechnet bei einer europäischen Organisation: ESA-Chef Johann-Dietrich Wörner muss Ende des Monats gehen. Dabei gäbe es noch viel zu tun.
Johann-Dietrich (Jan) Wörner

Es ist nur eine Kleinigkeit. Doch für einen Menschen, der Wert auf Details legt, ist es ein großes Ding: Als Johann-Dietrich Wörner, frisch gewählter Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA, im Jahr 2015 eine seiner ersten Präsentationen hält, ändert er die Reihenfolge der Fähnchen unten auf den Folien. Sie stehen für die einzelnen Mitgliedsländer und waren bislang nach dem französischen Alphabet sortiert – mit Deutschland (»Allemagne«) an erster Stelle.

Wörner stellt aufs Englische um, so dass nun Österreich (»Austria«) ganz vorne steht. »Die ursprüngliche Reihenfolge hätte ich unangemessen gefunden als deutscher Generaldirektor«, sagt Wörner. Die Franzosen allerdings sind außer sich: Englisch statt Französisch, geändert von einem Deutschen – das geht nicht! Dabei war es gut gemeint.

Es ist der Beginn eines großen Missverständnisses. Wörner wollte nie »der Deutsche« bei der Europäischen Weltraumorganisation sein und wurde doch immer als das gesehen, von Freund und Feind. Er wollte Europas Raumfahrt einen und ist vor allem auf nationale Egoismen gestoßen. Er war überzeugter Europäer und ist genau daran gescheitert, ausgerechnet bei einer zutiefst europäischen Organisation. Nun, Ende Februar, endet Wörners Amtszeit. Vorzeitig. Und unvollendet.

Johann-Dietrich »Jan« Wörner | ist Bauingenieur, Dozent und ehemaliger Universitätspräsident der TU Darmstadt. Von 2007 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Seit dem 1. Juli 2015 leitet er als Generaldirektor die Europäische Weltraumorganisation ESA. Seine Amtszeit endet am 28. Februar 2021.

Vielleicht war all das ja unvermeidbar: Es ist Ende 2014, und Wörner, damals Chef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), scheint auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Gerade ist die DLR-Raumsonde Philae auf dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko gelandet, ein Novum in der Raumfahrt. Im selben Jahr fliegt Astronaut Alexander Gerst erstmals ins All.

Ein Chef, der Gefühle zeigt

Wörner ist dabei, direkt an der Startrampe in Baikonur, gibt Gerst noch einen Klaps und ein paar gute Worte mit auf die Reise. Der dreht sich um, ganz oben auf der Treppe zur Rakete, lächelt und sagt »Auf Wiedersehen«. Zutiefst bewegt zeigt Wörner kurz danach ein Handyvideo von der Szene. Er erzählt von seinen »Vatergefühlen« für den 21 Jahre jüngeren Gerst, aber auch von seinen Ängsten: »Schickst du deinen Sohn da etwa auf ein Himmelfahrtskommando?«

Ein Chef, der Gefühle zeigt? Und Schwäche? Ja. Stets nahbar und authentisch ist Wörner, heißt es noch heute voller Begeisterung beim DLR. Nie anbiedernd, nie kumpelhaft. Er begegnet jedem und jeder auf Augenhöhe, egal ob Pförtner oder Raumfahrtingenieurin, Studentin oder Institutsleiter. Alle haben seine E-Mail-Adresse, alle sollen schreiben, wenn sie Probleme haben. Er meint das ernst, er antwortet. Und er spricht »vom besten Job der Welt«.

Aber da ist noch etwas. Da ist dieser Anruf aus dem Wirtschaftsministerium. Diese Bitte. Nein, diese unverhohlene Forderung: Wörner möge doch ESA-Chef werden. Es ist bereits der zweite Versuch. Beim ersten Mal, vier Jahre zuvor, war Wörner standhaft geblieben, trotz Intervention aus höchsten Regierungskreisen.

Damals war er noch mittendrin im Versuch, das DLR umzubauen – von einem losen Zusammenschluss aus Instituten, deren Leiter sich wie Fürsten vorkamen, zu einem gemeinsam agierenden Forschungszentrum: EIN_DLR, wie es Wörner mit seiner Liebe zu plakativer Wortmalerei nannte.

Unkonventionell, innovativ, nerdig

Und wenn Wörner etwas umbauen will, dann zieht er es auch durch: Das war bereits vor dem DLR-Job so, als Präsident der TU Darmstadt. Damals nervte, beackerte, überzeugte der gelernte Bauingenieur die hessische Politik und Ministerialbürokratie so lange, bis sie seiner Hochschule Eigenständigkeit gewährten. Bereit fürs DLR, bereit für den nächsten Schritt war er erst, nachdem das entsprechende Gesetz verabschiedet worden war – einstimmig, wie Wörner betont.

Ende 2014, auf dem Höhepunkt, stellt sich dann die Frage, ob er den nächsten Schritt gehen will, in die ESA-Zentrale nach Paris. Viele raten ihm ab, sehr viele. Doch der Reiz ist zu groß, genauso wie die Aussicht, erneut etwas umbauen zu können, zu verändern. »Das mag jetzt hochtrabend klingen, aber ich habe mich tatsächlich gefragt: Kann ich etwas für Europa tun?«, sagt Wörner rückblickend.

ESA-Chef | Johann-Dietrich Wörner während einer Plenarsitzung mit den Direktoren anderer Weltraumorganisationen. Man beachte die Reihenfolge der kleinen Fahnen der EU-Staaten auf der linken Vortragsfolie. Wörner hatte sie bei seinem Amtstritt geändert, so dass sie nicht mehr nach französischem Alphabet sortiert werden. Denn danach hätte Deutschland (»Allemagne«) vorne gestanden, was Wörner anmaßend fand.

Zugleich sagt er: »Natürlich hat so eine Entscheidung auch mit einer gewissen Eitelkeit zu tun.« Obwohl seine Wahl politisch ausgemachte Sache ist, überlässt er daher nichts dem Zufall. Fürs Vorstellungsgespräch frischt er sogar das Schulfranzösisch auf, parliert mit seiner Frau, früher Lehrerin, heute Künstlerin, paukt beim Joggen französische Vokabeln.

Es ist der einfachste Teil der Übung. Denn wie zäh die Aufgabe als Generaldirektor werden wird, merkt Wörner bereits nach einigen Wochen. Da stellt er den ESA-Mitgliedsländern erste Ideen für sein Kabinett vor: nicht mehr zehn eigenmächtige Direktoren wie bislang, sondern nur noch fünf. Das, so seine Hoffnung, werde die Zusammenarbeit stärken – wie damals beim DLR. EINE_ESA, sozusagen.

Die Mitgliedsstaaten sind allerdings wenig begeistert. Sie fürchten um Einfluss, sollten sie keinen Direktor aus ihrem Land mehr stellen können, Europa hin oder her. Wörner möge doch bitte seine Hausaufgaben machen und mit einem neuen Vorschlag zurückkommen. Gesagt, getan: Beim nächsten Treffen schlägt Wörner nur noch drei Direktoren vor.

Eine Provokation, aber inhaltlich wohlbegründet. Heute, die ESA hat noch immer neun Direktoren und eine Direktorin, sagt Wörner: »Ich habe dieses nationale Spiel vollkommen unterschätzt, da war ich naiv. Vielleicht ist das ja einer meiner größten Fehler gewesen.« Er sagt jedoch auch: »Wenn, dann war es ein Fehler aus Überzeugung. Und ist das dann überhaupt ein Fehler?«

Allein in Paris

Klar ist: Raumfahrt ist eine ernste Angelegenheit, vor allem in der ESA mit ihren 22 Mitgliedsstaaten, von denen jeder für sich das meiste – sprich: die meisten Euros – aus der Organisation herausholen will. Mit seiner unkonventionellen, manchmal schnoddrigen Art, mit seinem nerdigen Humor, mit seinem Drang, neue Dinge auszuprobieren, wirkt Wörner mitunter wie ein Fremdkörper: Pressegespräche werden zu Stuhlkreisen, in denen ein Würfelmikrofon reihum geworfen wird. Präsentationen – stets bis ins Detail ausgefeilt – schmücken Bilder aus der deutschen 1960er-Jahre-Serie »Raumpatrouille Orion«, wenn es ums neue US-Raumschiff mit gleichem Namen gehen soll. Nicht wenige in der ESA ziehen bei so etwas die Augenbrauen hoch.

Auch beim Moon Village, Wörners großem Vermächtnis. Direkt zum Amtsantritt schlägt er die Vision einer gemeinschaftlichen Siedlung auf dem Mond vor. Wörner, der oftmals zu verkopft denkt, nennt das Ganze »Multi Partner Open Concept«. Er erntet viel Spott. Er wird gefragt, ob er dort Bürgermeister werden wolle. Heute, mit dem amerikanischen Artemis-Mondprogramm, ist seine Vision in greifbarer Nähe. »Ich habe Glück gehabt«, sagt Wörner, der schon als Kind auf einer Mondkarte sämtliche Landungen markierte. »Die Idee passte irgendwie in die Zeit.«

Doch Glück allein reicht nicht. Es ist einsam in der Pariser rue Mario Nikis, in der bis zu einem Umzug Ende 2018 das Chefbüro lag. Wörner – stets vorsichtig – fehlen Berater, Strategen, Kommunikatoren, denen er vertraut. Es fehlt die kleine Schar an Menschen, die sich, wie am DLR, sein Vertrauen erarbeitet und damals einen großen Teil des Erfolgs ausgemacht haben. Klar, er könnte sie nachholen. Er könnte ein Team Wörner aufbauen. Aber das will er nicht. Wörner möchte nicht der deutsche Generaldirektor sein, der Landsleute um sich schart.

Stattdessen stellt ihm die ESA einen Kommunikationschef zur Seite, Typus: verdienter Beamter, der seine Aufgabe vor allem darin sieht, Kommunikation zu unterbinden. Wörner nimmt es achselzuckend hin. Ausgerechnet er, der große Kommunikator, der als DLR-Chef schon gebloggt hat, als es noch nicht cool war, und der noch immer bloggt, auch wenn es kaum mehr angesagt ist.

Mehr Transparenz? Beim turnusmäßigen Treffen der ESA-Minister, bei dem über Milliarden Euro Steuergelder entschieden wird, schafft es Wörner gerade einmal, die nichts sagenden Eröffnungsworte übertragen zu lassen. Der Rest der Beratungen findet weiterhin im Geheimen statt. Nicht einmal das Beschlusspapier wird veröffentlicht.

Ariane 6 | Die Ariane 6 soll ab 2022 die derzeitige Ariane 5 ablösen. Wird sie sich jemals wirtschaftlich betreiben lassen?

Dabei ist das bislang letzte Treffen, Ende 2019 in Sevilla, ein Riesenerfolg für Wörner: 14,3 Milliarden Euro möchte der Generaldirektor von den Mitgliedsstaaten, 14,5 Milliarden bekommt er.

Doch zu diesem Zeitpunkt haben Frankreich und Deutschland, die beiden wichtigsten Mächte in der ESA, längst den Stab über ihn gebrochen: die Franzosen, weil ihnen ein Deutscher an der Spitze der ESA, noch dazu einer mit neuen Ideen, ein Dorn im Auge ist. Und die Deutschen, weil dieser Deutsche ihre Interessen nicht genügend durchgesetzt hat, weil er nicht folgsam genug war. »Ich hätte mir manchmal ein entspannteres Miteinander gewünscht«, sagt Wörner mit Blick nach Berlin – und das ist, für seine Verhältnisse, schon äußerst diplomatisch.

Mitte 2021 hätte Schluss sein sollen, doch nicht einmal das bleibt dem 66-Jährigen vergönnt: Als die ESA im Dezember einen Nachfolger wählt, den Österreicher Josef Aschbacher, fängt dieser umgehend mit Personalgesprächen an. Wörner, der bei seinen Wechseln zum DLR und zur ESA stets erst mit offiziellem Amtsantritt loslegte, dann aber richtig, ist davon schwer getroffen, heißt es aus Paris. Mit der ihm eigenen Mischung aus Sturheit und Dünnhäutigkeit, Konsequenz und Selbstachtung verhandelt er daraufhin einen früheren Abgang – zum 28. Februar.

Abtritt in unsicheren Zeiten

Dabei ist dieses Mal, anders als beim DLR, anders als an der TU Darmstadt, der Job längst nicht erledigt: Die Zukunft der ESA gilt als unsicherer denn je, schließlich will die Europäische Union immer mehr Raumfahrtprojekte in die eigenen Hände nehmen. Und Europas nächste Rakete, die Ariane 6, hätte eigentlich Ende 2020 starten sollen, nun wird es frühestens Mitte 2022 so weit sein. Wörner hatte die Ariane 6 als DLR-Chef einst ausgehandelt, und er machte damals das, was er heute kritisiert: Er spielte die nationale Karte und holte die Produktion der Feststofftriebwerke teilweise nach Deutschland – was sich hinterher als technisch und finanziell unsinnig erweisen sollte.

Heute klingt Wörner anders. Auf seiner letzten Jahrespressekonferenz als ESA-Chef schlägt er vor, bei künftigen Raketen nur noch die gewünschten Eigenschaften und die Starts pro Jahr vorzugeben. Den Rest solle die Industrie erledigen, im Wettbewerb, ohne nationale Interessen. Eine Revolution, die niemand bemerkt habe, wie Wörner hinterher im kleinen Kreis beklagt – oder niemand mehr bemerken will. Jedenfalls ein weiteres Signal, dass es Zeit ist zu gehen.

Und dann, am 1. März? Endlich Muße für die Modelleisenbahn im Keller und das Oldtimer-Motorrad in der Garage? Nicht wirklich. Er werde wie gewohnt um halb sieben aufstehen, sagt Wörner nur halb im Scherz. Er werde joggen, sofern die Bandscheibe mitspielt. Er werde in das Ingenieurbüro gehen, das noch immer seinen Namen trägt und das seit 1995 von einem Partner weitergeführt worden ist. Keine Beratertätigkeit, kein Anschlussjob? »Nein, einfach wieder Bauingenieur sein.«

Wobei, vor ein paar Tagen sei dann doch eine interessante Anfrage hereingeflattert. Darüber reden will Wörner noch nicht. Nur so viel: »Keine Raumfahrt.« Und vor allem: »Keine Politik.«

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