EU-Taxonomie: Wieso Erdgas auf einmal nachhaltig sein soll
Das Kraftwerk Irsching 4 war ein technisches Wunder seiner Zeit und wurde dann zum politischen und wirtschaftlichen Menetekel. Als die Anlage an der Donau bei Ingolstadt 2011 ans Netz ging, war sie die erste weltweit, die einen Wirkungsgrad von 60 Prozent erreichte: Aus 100 Kilowattstunden Wärmeenergie des verbrannten Erdgases gewannen die Gas- und die angekoppelte Dampfturbine sowie der Generator etwas mehr als 60 Kilowattstunden Strom. Das waren damals fast 20 Prozentpunkte mehr als der Durchschnitt der deutschen Kraftwerke, die fossile Rohstoffe verbrannten.
Doch schnell zeigte sich: Das Rekordkraftwerk mit seiner Nettoleistung von gut 560 Megawatt ließ sich nicht wirtschaftlich betreiben. Darum stellten die Besitzer den Antrag, es stilllegen zu dürfen. Der wurde abgelehnt, es musste in Bereitschaft gehalten werden: Um Netzsicherheit zu gewährleisten, sollte es von jetzt auf gleich hochgefahren werden können, wenn der Elektrizitätsbedarf in Süddeutschland das Angebot von Windrädern, Solarparks, Kohle- und Atommeilern übertraf.
Mit sinkenden Gaspreisen kam die erneute Wende. Bis 2020 hatten sich die Rahmenbedingungen so weit geändert, dass die Eigner an den regulären Strommarkt zurückkehrten. Nun geht es bei den Kosten für Erdgas zwar wieder steil nach oben, doch Hauptbetreiber Uniper teilt mit, an seinem Plan festhalten zu wollen. Schließlich sind ja auch die Erlöse für den Strom gestiegen.
Insgesamt bleibt es jedoch dabei, dass den hochmodernen Gaskraftwerken künftig die Rolle der Reservisten zugedacht ist. Eines davon ist schon im gleichen Industriepark an der Donau im Bau: Irsching 6. Dutzende weitere Anlagen sollen noch entstehen, die dann zusammen mindestens 15 Gigawatt leisten können, so die Schätzung der regierungsnahen Deutschen Energieagentur. Die meiste Zeit des Jahres werden sie mit Warten zubringen – auf ihren Einsatz in Ausnahmesituationen.
Gaskraftwerke gegen die kalte Dunkelflaute
Gaskraftwerke können quasi auf Knopfdruck Strom liefern. Das ist wichtig, wenn es im komplexer gewordenen Netz einmal eng werden wird, insbesondere nach 2030 und nach dem Kohleausstieg. Den vorliegenden Plänen zufolge wird sich die deutsche Stromversorgung dann auf einen massiv erweiterten Kraftwerkspark für Wind- und Sonnenenergie stützen. »Wir müssen uns als Industrieland, das 100-prozentig sicheren Strom braucht, auf Phasen der kalten Dunkelflaute vorbereiten«, sagt Matthias Buck vom Berliner Thinktank Agora Energiewende. Schon die Erfahrung zeigt, dass manchmal tagelang kaum Wind weht und Tageslicht fehlt. »Dafür müssen wir die Kapazität der regelbaren Kraftwerke vorhalten.«
Das hat auch die Politik erkannt. Wir »brauchen den zügigen Zubau gesicherter Leistung durch Errichtung moderner Gaskraftwerke. Diese leisten einen wesentlichen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Zuge des Kohleausstiegs«, heißt es dazu in der Eröffnungsbilanz Klimaschutz, die der neue Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im Januar 2022 vorgelegt hat. Und schon im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung steht: »Erdgas ist für eine Übergangszeit unverzichtbar.«
Daher könnte man sich in Deutschland eigentlich freuen über einige besonders umstrittene Passagen eines Regelwerks, das die EU-Kommission vorbereitet und am Silvestertag 2021 an die Mitgliedsstaaten verschickt hat: die so genannte »EU-Taxonomie für nachhaltige umweltfreundliche wirtschaftliche Aktivitäten«. Ihr Zweck ist es, all jene Energieanlagen aufzulisten, die den europäischen Klimazielen dienen. Das soll die Finanzierung verbessern und im nächsten Schritt in ein Gütesiegel für Investoren münden. Bis zum 21. Januar haben die Mitgliedsstaaten Zeit, um Stellung zu beziehen, danach wird die Verordnung in geltendes Recht überführt.
Umstritten ist die neue EU-Taxonomie, weil etwa nicht nur Fotovoltaik oder Windkraft mit dem grünen Label bedacht werden, sondern auch Erdgas und Atomstrom. Letzteres hat besonders in Deutschland viel harte und kompromisslose Kritik ausgelöst – gerade bei der Regierungspartei Die Grünen. Ersteres dagegen weniger. Wenig überraschend, hatte doch bereits die Große Koalition unter Angela Merkel, in der der jetzige Kanzler Olaf Scholz (SPD) Finanzminister und Vizekanzler war, in Brüssel dafür geworben.
Eine Petition findet 300 000 Unterschriften
Kritik an der Einbeziehung des fossilen Energieträgers wird eher von außerhalb der Ampelkoalition laut. Matthias Buck sagt zum Beispiel: »Fossiles Gas ist nicht grün, Punkt. Sondern ein Beitrag zum Klimawandel.« Fundamentale Opposition kam von einem Bündnis von Umweltgruppen wie Greenpeace und BUND: Sie organisierten eine Petition, hatten schnell weit mehr als 300 000 Unterschriften beisammen. Die Taxonomie, so der Vorwurf, habe der Greenwashing genannten Praxis entgegenwirken sollen, Investitionen als grün darzustellen, die es gar nicht sind, und verkomme nun selbst zum Greenwashing für Erdgas und Kernkraft. »Wenn auch klimaschädliche und hochriskante Energieträger als nachhaltig gelten, wird das ganze Label entwertet – das hätte eine fatale internationale Signalwirkung.«
Andere Beobachter des Energiemarktes können darin nichts Fatales erkennen. Zumal ja das Nachhaltigkeitslabel laut dem Entwurf nur dann einem Kraftwerk verpasst werden soll, wenn es enge Rahmenbedingungen einhält. Die sollen sicherstellen, dass die Verfeuerung so emissionsarm wie möglich ist und tatsächlich nur als Übergangstechnologie eingesetzt wird. So zumindest möchte die EU ihre Regeln verstanden wissen.
Eher positiv äußert sich beispielsweise der Verband kommunaler Unternehmen, VKU, dem viele Stadtwerke angehören. In einer Stellungnahme begrüßt er grundsätzlich den Vorschlag, »Erdgas als nachhaltige Übergangstechnologie im Sinne der Taxonomie anzuerkennen«. Es sei ein wichtiges Signal, dass der Brennstoff mit den europäischen Klimazielen in Einklang stehe, weil er den Übergang zu wahrhaft grüner Energie ebne.
Zwei schwere Wege führen zum grünen Label
Die Organisation hadert allerdings mit den Details des EU-Vorschlags. Die Restriktionen seien »so eng gefasst, dass sie unnötig hohe und klimapolitisch nicht sinnvolle Hürden für Finanzierungen errichten«. Welche das sind, ist dem vertraulichen Entwurf zu entnehmen, der zum Beispiel vom Nachrichtenportal Euractiv geleakt wurde. Demnach gibt es für Gaskraftwerke zwei Wege, einen steilen und einen steinigen.
Der steile Weg: Anlagen dürfen nur Emissionen von weniger als 100 Gramm CO2 pro Kilowattstunde Strom verursachen, und dabei sind alle Verluste bei der Förderung und dem Transport sowie die Abgase im Betrieb mitgerechnet. Das sei mit heutiger Technologie nicht zu schaffen, schon weniger als 350 Gramm seien schwierig, sagen Experten. Vielleicht komme man mit der CCS-Technik, bei der das CO2 aus den Abgasen gefiltert und unterirdisch eingelagert wird, zuverlässig unter 100 Gramm. Alternativ müssten die Anlagen, um solche Werte zu erreichen, substanzielle Mengen von Biogas verbrennen, mit dem es wieder andere Probleme gibt, oder Wasserstoff, der mit Hilfe von Ökostrom gewonnen worden ist. »Klimaneutrale Gase« werden solche Ersatzbrennstoffe genannt.
Der steinige Weg: Die Anlagen müssen bis 2030 zugelassen sein und im Rahmen eines staatlichen Ausstiegsprogramms klimaschädliche Kraftwerke ersetzen, die feste oder flüssige Brennstoffe verfeuern, sprich Kohle oder Öl. Dabei muss der Ausstoß von Treibhausgasen um mindestens 55 Prozent sinken, gleichzeitig muss es nachweisbar unmöglich sein, dieselbe Aufgabe auf eine erneuerbare Energiequelle zu übertragen.
Außerdem müssen die Kraftwerke schon ab 2026 mindestens 30 Prozent klimaneutrale Gase verfeuern. 2030 steigt die Quote auf 55 Prozent, 2036 auf 100 Prozent. Und auch hier gibt es Regeln zur Emission von Kohlendioxid. Entweder stößt die Anlage permanent weniger als 270 Gramm pro Kilowattstunde elektrischer Energie aus, oder sie muss im Durchschnitt über 20 Jahre einen Grenzwert beachten, der sich nach der installierten elektrischen Leistung richtet. Das allein läuft auch für sehr effiziente Anlagen darauf hinaus, dass sie nicht viel mehr als 1500 bis 2000 der 8760 Stunden eines Jahres Strom liefern.
Kaum ein Gaskraftwerk könne die Auflagen einhalten, sagen Kritiker
An diesen Zahlen entzündet sich die Detailkritik der Experten vom VKU. Der Verband der Stadtwerke beklagt in einer Stellungnahme zum einen die »nicht erreichbaren Quoten an klimaneutralen Gasen«. Zum anderen hatte er sich höhere Grenzwerte gewünscht. Außerdem, so der VKU, würden jene Anlagen schlechter gestellt, die Strom und Fernwärme erzeugen und deshalb mindestens während der Heizsaison praktisch in Dauerbetrieb gefahren werden. Viele Städte brauchen genau solche Anlagen, aber die Anforderungen der Taxonomie können sie nicht erfüllen, weder in puncto Emissionen noch durch Ausnutzung der 20-Jahre-Durchschnittsregel, weil diese nicht für sie vorgesehen ist. Die Lobby-Organisation fordert daher, dass der Staat die Kraftwerke direkt fördert, die dann eben nicht nach den Bedingungen der EU-Taxonomie erbaut werden.
Kritik an den Rahmenbedingungen kommt auch aus der Wissenschaft, doch gehen die Regelungen hier vielen nicht weit genug. Es sei schlicht nicht zu vermitteln, sagt Matthias Buck von Agora Energiewende, dass ein 2030 genehmigtes Gaskraftwerk weiter 270 Gramm CO2 für jede Kilowattstunde freisetze. »Um solche Emissionsgrenzwerte für fossile Gaskraftwerke einzuhegen, die mit unseren Klimaschutzzielen schlechterdings unvereinbar sind, gibt es in der Taxonomie eine einzige harte Leitplanke. Das ist der vorgeschriebene Fahrplan für den Brennstoffwechsel.« Das Ziel einer klimaneutralen Stromversorgung in Deutschland ab 2035 hatte Habecks Ministerium erst vergangene Woche bekräftigt.
Auch Gunnar Luderer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat Bedenken angesichts der Anforderungen, besonders was die Durchschnittsregelung angeht: »Es wird sehr herausfordernd sein zu kontrollieren, dass eine Anlage, die zehn Jahre lang zu viele Stunden am Netz war und zu viel emittiert hat, danach zehn Jahre lang weniger ausstößt, um den Mittelwert zu halten. Das hätte man besser über einen deutlich höheren Preis für CO2-Emissionen geregelt.«
Unerfreuliche Nebenwirkungen drohen
Zudem könnte die Festlegung in der Taxonomie, Gaskraftwerke als nachhaltig zu bezeichnen, unerwünschte Nebenwirkungen bei anderen politischen Entscheidungen haben, fürchten Fachleute. »Nationale Subventionen muss man in der EU gut begründen – die Taxonomie könnte solche Begründungen liefern«, vermutet Luderer. »Womöglich lässt sich damit auch der Anspruch rechtfertigen, mehr Geld aus dem Corona-Hilfsfonds der Gemeinschaft zu bekommen, der ja als European Green Deal den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft fördern soll.«
Offen bleibt indes die Frage, ob die Taxonomie ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Der besteht schließlich darin, Klarheit bei nachhaltigen Investitionen zu schaffen und so Finanzmittel in Richtung der zusätzlich benötigten Anlagen zu lenken – auch in Richtung der Gaskraftwerke in Deutschland. Erste Reaktionen aus der Finanzbranche sind überwiegend negativ. »Die Taxonomie wurde politisch gekapert. Die Glaubwürdigkeit der Verordnung hat massiv eingebüßt«, erklärt die Deka, die Investmentbank des Sparkassenverbands, in einem Statement. »Den eigentlichen Zielen, nämlich den Klimawandel zu verlangsamen und die Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten, hilft das nicht.«
Auf ganzer Linie enttäuscht ist auch Thomas Jorberg, Vorstandssprecher der sozial-ökologisch ausgerichteten GLS-Bank, die laut Selbstbeschreibung »Maßstäbe für verantwortungsvolles Wirtschaften und für den gesellschaftlichen Wandel« setzt: »Die Taxonomie verfehlt mit dem Einschluss von Erdgas und Atomkraft komplett ihr Ziel, private und institutionelle Anleger vor Greenwashing zu schützen.«
Auch ohne Nachhaltigkeitslabel finden sich genügend Geldgeber
Es sei zudem, so Jorberg, »grober Unfug zu behaupten, nur mit der Einstufung als ›nachhaltig‹ ließen sich Finanzmittel für Gaskraftwerke mobilisieren«. Dagegen sprächen schon die Größenordnungen: »Weniger als zehn Prozent des Kapitals fließen zurzeit in grüne Geldanlagen. Auch wenn vielleicht viele Menschen nach solchen Möglichkeiten suchen: Das Gros der Investitionen ist unabhängig von ökologischen Kriterien.«
»Für Gaskraftwerke braucht man die Taxonomie nicht«, sagt auch Magdalena Senn von der Bürgerbewegung Finanzwende, die mit etlichen anderen Organisationen die Petition gegen die Vorschläge aus Brüssel gestartet hat. Es sei viel Geld auf dem Markt, und bei der Abwägung von Risiken und zu erwartenden Profiten »ist ein mögliches Nachhaltigkeitssiegel oft nur ein kleiner Faktor«. Die Regierung müsse zum Beispiel klären, ob etwas und wie viel für Kraftwerke bezahlt wird, die in Bereitschaft bleiben müssen. Es liegt schließlich auf der Hand, dass Investoren der Zukunft eine Berg-und-Tal-Fahrt wie bei Irsching 4 vermeiden wollen.
Dass die neuen Regeln das Ziel des Ganzen – mehr Transparenz bei nachhaltigen Geldanlagen – gefährden, scheint übrigens auch der EU-Kommission klar gewesen zu sein. Laut dem geleakten Entwurf müsse künftig jedes Finanzprodukt »den Anteil von Gas- und Kernenergie-Aktivitäten klar offenlegen«, heißt es in einer Ergänzung zur Taxonomie. Wie die Warnung vor Erdnüssen auf einer Kekspackung, aber größer, könnte an Finanzprodukten in Zukunft der Hinweis stehen: »Enthält Spuren von Erdgas und Kernenergie.«
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