Evolution: Verloren geglaubter Hörsinn nimmt Schwingungen wahr
Geckos besitzen einen längst verloren geglaubten Hörsinn, mit dem sie Vibrationen in ihrer Umgebung wahrnehmen. Sie empfangen die Schwingungen mit dem Sacculus, einem Teil des Gleichgewichtsorgans im Innenohr. Bisher dachten Fachleute, dass Vögel, Reptilien und Säugetiere den Sacculus nur nutzen, um ihre Bewegungen im Raum wahrzunehmen. Doch ein Team um Dawei Han von der University of Maryland konnte zeigen, dass das Organ bei Tokeh-Geckos (Gekko gecko) Signale an Hirnregionen sendet, die für das Hören zuständig sind. Wie die Arbeitsgruppe jetzt in der Fachzeitschrift »Current Biology« berichtet, haben Eidechsen und Schlangen diese ältere, bisher nur bei im Wasser lebenden Wirbeltieren bekannte Vibrationsverarbeitung in ihrer Evolution bewahrt. Die Forschenden vermuten nun, dass auch andere Landwirbeltiere und Menschen diesen verborgenen Sinn bewahrt haben könnten.
Insbesondere Fische, aber auch Amphibien nutzen Teile ihres Innenohrs wie den Sacculus sowohl für das Gleichgewicht als auch für das Hören unter Wasser. Später entstanden bei den Landwirbeltieren moderne Hörsysteme, die Schallvibrationen in der Luft in elektrische Signale für das Gehirn umwandeln. Daher dachten Fachleute, dass diese Tiergruppe den ursprünglichen Hörsinn der Fische längst verloren hätte und demnach ihre Sacculi stattdessen lediglich für das Gleichgewicht nutzte. Doch das Team um Han fand bei Untersuchungen an Ohren einer Gecko-Art heraus, dass das nicht stimmt.
»Viele Arten von Echsen und Schlangen haben kein Trommelfell und können Schall aus der Luft nicht gut hören«, sagt Dawei Han, der Hauptautor der Studie. »Aber was sie sehr gut können, ist, Vibrationen auf einer Oberfläche, auf der sie sich befinden, zu erkennen.« Mit seiner Arbeitsgruppe stellte er die Hypothese auf, dass sie dazu in der Lage sind, weil sie die ursprüngliche Funktion des Sacculus beibehielten. Um dies zu testen, verwendeten sie Tokeh-Geckos, die ein gut verstandenes Hörsystem haben, und untersuchten, welche Teile des Innenohrs eine Rolle bei der Erkennung dieser Vibrationen spielen.
Vibrationen gehen Geckos auf den Sack
Zuerst analysierten die Forscher, an welche Hirnregionen verschiedene Teile des Gecko-Innenohrs Signale senden. Dazu verwendeten sie Biomarker, die die Bahnen der mit dem Innenohr verbundenen Nerven verfolgen. Sie fanden heraus, dass eine Struktur im Hirnstamm, der Nucleus vestibularis ovalis (VeO), Signale vom Sacculus empfängt. Um zu überprüfen, ob der VeO in den Hörpfaden des Gehirns involviert war, injizierte das Team einen Marker in einen Teil des Gehirns des Tokeh-Geckos, der für das Hören verantwortlich ist. Wie sie entdeckten, sendet der VeO Signale an mehrere Hirnregionen, die mit dem Hören in Verbindung stehen.
Da der Sacculus bei Fischen und Amphibien auf niederfrequente Vibrationen anderer Tiere reagiert, vermutete das Team, dass auch Geckos solche Vibrationen auf diesem Weg wahrnehmen. Um das zu testen, maßen die Fachleute die elektrische Aktivität der VeO-Zellen, die die Signale vom Sacculus empfangen, bei Vibrationen in Frequenzen von 10 bis 1000 Hertz. Sie fanden heraus, dass VeO-Zellen in Geckos konstant auf niederfrequente Vibrationen zwischen 50 und 200 Hertz reagierten – selbst wenn sie nur ein Tausendstel so stark vibrierten wie der Alarm eines Handys. Damit ist der Sacculus des Geckos ähnlich empfindlich wie bei bestimmten Frosch- und Fischarten.
Das Team bestätigte dann, dass die VeO-Reaktionen der Geckos durch Vibrationen und nicht durch Schall verursacht wurden. »Die Entdeckung getrennter Wege für die Erkennung von Vibrationen und Schall bei den Tokeh-Geckos deutet darauf hin, dass das Wahrnehmen von Vibrationen eine größere Rolle im Leben der Geckos und möglicherweise auch anderer Echsen und Schlangen spielt als bisher angenommen«, sagt Han.
Dem Forscher zufolge könnte dieser Hörtyp bei Geckos in Räuber-Beute-Interaktionen oder beim Erkennen anderer Störungen in der Umgebung eine Rolle spielen. Auch bei Chamäleons hat der Sacculus-Sinn womöglich eine wichtige Funktion, postuliert Han – die Tiere kommunizieren auf einzigartige Weise durch Vibrationen. »Allerdings ist noch unklar, wie weit verbreitet diese vibrationsbasierte Kommunikation bei Schlangen und Echsen ist und ob sie auch bei Geckos vorkommt«, fügt Han hinzu.
Haben auch Menschen diesen verborgenen Sinn?
Der Neurowissenschaftler Duncan Leitch von der University of California in Los Angeles glaubt, dass diese Ergebnisse die Bedeutung grundlegender, bei sehr verschiedenen Arten gleich bleibender Verbindungen im Nervensystem unterstreichen. »Dass Geckos anscheinend Vibrationserkennungsneurone haben, die vom Sacculus ausgehen, deutet darauf hin, dass wichtige neuronale Bahnen seit der Abspaltung von unseren Fischvorfahren beibehalten worden sein könnten«, sagt Leitch.
Die Organe des Innenohrs sind bei allen Wirbeltieren zu finden. Aber könnte die besondere Fähigkeit des Geckos auch bei Säugetieren – sogar beim Menschen – vorhanden sein? Es ist möglich. Vereinzelt gibt es Berichte über die Fähigkeit von Nagetieren und Menschen, mit Hilfe des Sacculus niedrige Frequenzen zu hören. Doch um das zu bestätigen, wären weitere Forschungen erforderlich. »Für den Menschen könnten vielleicht vibrationsbasierte psychoakustische Studien bei Patienten mit Sacculischäden durchgeführt werden«, sagt Han. »Wenn Studien zeigen, dass Menschen mit Sacculischäden bestimmte niederfrequente Vibrationen nicht erkennen können, während diejenigen mit gesunden Sacculi dies können, würde das die Rolle des Sacculus bei der Vibrationserkennung beim Menschen stützen«, fügt er hinzu.
In dem Fall könnte es zum Beispiel möglich sein, dass klinische Interventionen, die auf die Sacculi abzielen, bei der Behandlung von Gleichgewichts- und Hörstörungen wirksam sind. So würden vielleicht Patientinnen und Patienten mit Schwerhörigkeit von dieser Entdeckung profitieren: »Man könnte sich vorstellen, niederfrequente Töne zu präsentieren, um den Sacculus zu stimulieren und möglicherweise die auditive Wahrnehmung zu verbessern«, erklärt Leitch.
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