Genderbias: Warum Frauen seltener in Autismusstudien einbezogen werden
Im Jahr 2021 untersuchte die Neurowissenschaftlerin Anila D'Mello das Gehirn von einem Dutzend Autistinnen, die sich dazu entschlossen hatten, an ihrer Studie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) teilzunehmen. Die ausschließlich weibliche Probandengruppe warf die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung sofort über den Haufen. »Als wir ihre Daten analysierten, stellten wir fest, dass sie ganz anders aussahen als die Daten, die wir bis zu diesem Zeitpunkt gesammelt hatten« – und zwar von ausschließlich männlichen Versuchsteilnehmern mit Autismus, erinnert sich D'Mello, die damals Postdoc in der Arbeitsgruppe des Neurowissenschaftlers John Gabrieli am McGovern Institute for Brain Research des MIT war. In der Studie wollten die Forscher herausfinden, wie das Gehirn von Autisten reagiert, wenn diese immer wieder dasselbe Gesicht oder Objekt ansehen oder aber wieder und wieder ein bestimmtes Wort hören. Eigentlich lag der Schwerpunkt der Arbeit nicht darauf, geschlechtsspezifische Unterschiede zu finden. Nun kam die Gruppe aber nicht mehr umhin, sich zu fragen, ob es welche gibt.
Also beschlossen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, weitere Autistinnen aus der Autismus-Forschungsdatenbank des MIT zu rekrutieren, die mehrere hundert Personen mit einer klinischen Autismusdiagnose umfasst. Dabei gab es allerdings ein Problem: Um sich für die Teilnahme an der Studie zu qualifizieren, mussten alle potenziellen Versuchspersonen einen standardisierten, aktivitätsbasierten Test für Autismus absolvieren, der ihre Diagnose noch einmal bestätigen sollte. Doch dem Test zufolge erfüllte nur die Hälfte der in Frage kommenden Mädchen und Frauen die Kriterien einer Autismus-Spektrum-Störung – von 50 Autistinnen blieben nur noch 25 für die Studie übrig. D'Mello und ihre Kollegen fragten sich daraufhin: Könnte dieser diagnostische Test, der in der Autismusforschung weit verbreitet ist, erklären, warum Frauen so selten in Studien über Autismus einbezogen werden?
Typischerweise geht man davon aus, dass auf ein Mädchen schätzungsweise vier Jungen kommen, die eine Autismusdiagnose erhalten. Diese Zahlen beruhen auf der Diagnose, die Ärzte vergeben; als Grundlage dafür dienen in aller Regel die Autismuskriterien der fünften Auflage des »Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen« (DSM-5) und in Deutschland auch die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten« (ICD). In den vergangenen Jahren haben Forscher allerdings erkannt, dass es eine geschlechtsspezifische Verzerrung bei der Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen gibt. Das tatsächliche Verhältnis von Autisten zu Autistinnen liegt daher vermutlich näher an 3 : 1.
In manchen Forschungsfeldern liegt das Geschlechterverhältnis bei 15 : 1
In Studien, die sich mit der Biologie, den Merkmalen und der Therapie von Autismus befassen, ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Teilnehmern jedoch oft noch viel stärker verzerrt. In groß angelegten Übersichtsartikeln über Autismus-Neurobildgebungsstudien wird von einem Verhältnis von bis zu 15 : 1 berichtet; andere stellen fest, dass männliche Teilnehmer 6 : 1 oder 9 : 1 überwiegen. Außerdem kamen Forscher in einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2021 zu dem Schluss, dass die meisten Studien zur Hirnstruktur von Autisten in den vergangenen zwei Dekaden an rein männlichen Versuchsgruppen durchgeführt wurden.
In der Vergangenheit haben viele Autismusforscher geschlechtsspezifische Unterschiede übersehen und in einigen Fällen Frauen und Mädchen bewusst von Studien ausgeschlossen, um die Stichproben möglichst einheitlich zu halten, sagt Kevin Pelphrey, Autismusforscher an der University of Virginia. Für das ungleiche Geschlechterverhältnis in der Autismusforschung wurde bislang vor allem die Betrachtung von Autismus durch eine männliche Linse in Verbindung mit der Tatsache, dass autistische Mädchen und Frauen tatsächlich in der Unterzahl sind, verantwortlich gemacht, erklärt er. Das MIT-Team fand in einer aktuellen Studie jedoch Hinweise darauf, dass dem Problem etwas ganz anderes zu Grunde liegen könnte: der Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS), der routinemäßig zur Bestätigung von Autismusdiagnosen bei Forschungsteilnehmern verwendet wird und offenbar mehr weibliche als männliche Teilnehmer herausfiltert.
»Das ist eine wirklich schöne Arbeit«, sagt Pelphrey. »Ich habe immer geglaubt, dass es eine versteckte Gruppe von Menschen gibt, die wir nicht untersuchen, weil sie die Kriterien nicht ganz erfüllen.« Wissenschaftler verwenden den ADOS, um das, was als Autismus gilt, zwischen den verschiedenen Studien möglichst einheitlich zu halten. Und weil »wir es müssen«, erklärt Pelphrey. Es habe sich auf dem Gebiet eingebürgert, dass Arbeiten, die den ADOS nicht nutzen, um eine Diagnose zu bestätigen, als wertlos gelten. Das wirkt sich auch darauf aus, ob ein Forscher Gelder für seine Studie erhält und wo er seine Forschungsergebnisse veröffentlichen kann.
Doch wie die MIT-Daten zeigen, könnte diese Denkweise verhindern, dass Unterschiede zwischen Autistinnen und Autisten aufgedeckt werden. »Wenn man sie [weibliche Teilnehmer] ausschließt oder nur eine kleine Stichprobe in dieser Gruppe hat, kann man die einzigartigen Muster, die vom Geschlecht abhängen, nicht erfassen«, erklärt Meng-Chuan Lai, außerordentlicher Professor für Psychiatrie an der University of Toronto. Solche Unterschiede zu erfassen, sei aber wichtig, um Therapien und Dienstleistungen auch auf Autistinnen zuzuschneiden.
Ist der Autism Diagnostic Observation Schedule schuld?
Nicht alle sind jedoch davon überzeugt, dass der ADOS die Ursache für diese Forschungslücke ist. »Ich glaube durchaus, dass uns Frauen fehlen, aber ich glaube nicht, dass es am ADOS liegt«, sagt etwa Catherine Lord, Professorin für Psychiatrie an der David Geffen School of Medicine an der University of California, Los Angeles. Lord hat an der Entwicklung des ADOS mitgewirkt und verweist auf eine große, mehrere Standorte umfassende Studie, die unter anderem zeigt, dass Mädchen mit Autismusdiagnose beim ADOS ähnlich wie Jungen abschneiden. »Wenn man sich die Arbeiten über große ADOS-Stichproben ansieht«, sagt sie, »ist die Schlussfolgerung, dass der ADOS ein wichtiger Faktor für den Mangel an Frauen in Studien ist, nicht gerechtfertigt.«
D'Mello und ihre Kollegen schauten sich für ihre eigene Studie zunächst in der MIT-Datenbank die ADOS-Werte von 50 weiblichen und 95 männlichen Autisten an, die fließend sprechen konnten (viele Menschen mit Autismus sprechen nur wenige oder keine Wörter) und mindestens 16 Jahre alt waren. Dabei fanden sie heraus, dass nur 19 Prozent der Männer und Jungen die ADOS-Kriterien für Autismus nicht erfüllten, verglichen mit der Hälfte der Frauen und Mädchen. Ein aktualisierter ADOS schnitt nur geringfügig besser ab und filterte 41 Prozent der Frauen und Mädchen und 18 Prozent der Männer und Jungen heraus. »Wir waren ziemlich erstaunt über den sehr hohen Prozentsatz von Frauen, die sich freiwillig gemeldet hatten und dann auf der Grundlage [eines ADOS-Scores] ausgeschlossen wurden«, sagt John Gabrieli.
Um zu sehen, wie verbreitet dieses Phänomen ist, untersuchten die Forscher als Nächstes, wie viele Autistinnen und Autisten sich in acht nationalen oder internationalen Datenbanken finden ließen, die Versuchspersonen entweder anhand von Autismusdiagnosen nach dem DSM-5 oder auf Grundlage des ADOS aufnehmen. Wie das Team vorhergesagt hatte, enthielten die Stichproben, die auf den Alltagsdiagnosen von Ärzten beruhen, verhältnismäßig mehr Frauen und Mädchen. In der größten dieser Stichproben, der Simons Foundation Powering Autism Research for Knowledge (SPARK), fanden die Forscher beispielsweise 7708 Autisten und 4504 Autistinnen, auf die die für ihre Studie angelegten Kriterien zutrafen – ein Geschlechterverhältnis von etwa 2 : 1. Im Gegensatz dazu erfüllten in den Datenbanken von Autism Brain Imaging Data Exchange (ABIDE), die sich weitgehend auf den ADOS stützen, nur 189 Männer und Jungen und 25 Frauen und Mädchen die Aufnahmekriterien der Forscher, ein Verhältnis von mehr als 7 : 1. In großen nationalen Stichproben zeigte sich also das gleiche Bild wie in der MIT-Datenbank.
Frauen sind womöglich besser darin, ihre Symptome zu verschleiern
Doch warum erfüllen womöglich weniger Frauen und Mädchen mit einer Autismusdiagnose die ADOS-Kriterien für Autismus? Der Goldstandardtest wurde hauptsächlich auf Basis der Daten von Jungen entwickelt, was bedeuten könnte, dass er darauf ausgerichtet ist, autistische Merkmale zu erkennen, wie sie bei Männern auftreten. Bei Mädchen hingegen kann sich Autismus etwas anders äußern, sagen Experten. So seien bei ihnen manche repetitiven Verhaltensweisen wie zum Beispiel das ständige Zwirbeln der Haare eher akzeptierter, sagt D'Mello. Zudem sind Autistinnen womöglich besser darin, ihre Autismussymptome zu maskieren oder zu verschleiern. Entsprechend zeigten sie diese Merkmale weniger häufig bei ADOS-Tests, sagt Meng-Chuan Lai. Das bedeute jedoch nicht, dass sie keinen Stress oder keine Schwierigkeiten im Alltag erleben, was sich wiederum in einer klinischen Anamnese zeigen könnte. Gemäß den DSM-5-Kriterien müsse man nicht unbedingt alle Verhaltensmerkmale für Autismus im Moment der Untersuchung aufweisen, erklärt der Psychiater.
Eine andere Interpretation der Ergebnisse ist natürlich, dass Frauen und Mädchen in den Datenbanken, die sich auf DSM-5-Diagnosen stützen, überrepräsentiert sind. Frauen würden sich eher für große Erhebungsstudien wie SPARK anmelden, sagt Lord. Und außerdem suchten sie auch häufiger Hilfe bei Ärzten oder Therapeuten.
So oder so: Die Debatte zwinge die Menschen dazu, sich mit »dem Elefanten im Raum« auseinanderzusetzen, sagt Lai. Redet man über die gleiche Form von Autismus? Die unterschiedlichen Kriterien nach DSM-5 oder ADOS könnten schließlich dafür sorgen, Menschen aus unterschiedlichen Bereichen des Autismusspektrums zu versammeln. Einige Forscher halten es deshalb für wichtig, zu erfahren, wer diese Personen sind, die zwar eine klinische Autismusdiagnose erhalten haben, aber die Forschungskriterien nicht erfüllen. »Wenn sie von der Forschung ausgeschlossen sind, können wir diese Frage nicht beantworten«, bemerkt Gabrieli.
Auch D'Mello fände es spannend, ebenjene Autisten zu studieren, die durch den ADOS regelmäßig von Studien ausgeschlossen werden. »Wenn man genau darüber nachdenkt, ist die ganze Idee, die Diagnose von jemandem bestätigen zu müssen, irgendwie traurig.«
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