Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS): Sanfter Strom gegen Depressionen

Es ist kinderleicht: das futuristische anmutende Headset aufsetzen, anschalten und entspannen. Für etwa eine halbe Stunde stimulieren nun zwei Elektroden mit sanftem Strom die Gehirnzellen. Das helfe dabei, gesunde Aktivitätsmuster der Gehirnzellen wiederherzustellen, und bekämpfe so eine Depression an der Wurzel, heißt es auf der Internetseite von Flow Neuroscience, einem führenden Anbieter solcher Geräte. Der Gleichstrom kribbelt ein wenig auf der Kopfhaut, nennenswerte Nebenwirkungen hat die Methode namens transkranielle Gleichstromstimulation, kurz tDCS (für englisch: transcranial direct current stimulation) aber offenbar kaum. Bestellen und zu Hause ausprobieren kann das Headset jeder.
Erst jüngst bekam der Gerätehersteller ein schlagkräftiges Verkaufsargument für sein Produkt geliefert: die positiven Ergebnisse einer Publikation im renommierten Fachmagazin »Nature Medicine«. Ein englisch-amerikanisches Forschungsteam um Cynthia Fu von der University of East London und Allan Young vom King’s College London berichtete Ende 2024, dass eine zehnwöchige, häusliche tDCS-Behandlung mit Fernüberwachung gegen Depressionen hilft. Insgesamt nahmen 174 Probandinnen und Probanden mit einer aktuellen depressiven Episode von mindestens mittlerem Schweregrad teil. Sie bekamen entweder eine echte tDCS- oder eine Scheinbehandlung mit dem Headset der Firma. Beide Gruppen verbesserten sich deutlich, die behandelten Personen aber im Schnitt nochmals etwas mehr. Die Gleichstromtherapie zeige eine »hohe Wirksamkeit, Akzeptanz und Sicherheit«, resümiert das Autorenteam.
Einwandfreies Studiendesign
Durchgeführt wurde die Studie von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Kliniken. Weder sie noch die Teilnehmenden kannten die Gruppenzuteilung, die im Vorfeld ausgelost worden war. In Fachkreisen nennt man solche klinischen Studien randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert und multizentrisch – alles wichtige Kriterien, damit die Ergebnisse als möglichst aussagekräftig gelten.
Die Stimulation bestand aus fünf Sitzungen pro Woche über drei Wochen, gefolgt von drei Sitzungen pro Woche über sieben Wochen. Jede Anwendung dauerte 30 Minuten. In der Placebogruppe simulierte ein kurzes Hoch- und Herunterfahren des Stroms eine aktive Stimulation. Ob sich die depressiven Symptome im Vergleich zur Placebogruppe signifikant verbesserten, bestimmte man unter anderem mit der Hamilton Depression Rating Scale (HDRS), ein weltweit anerkanntes und verbreitetes Diagnosewerkzeug, mit der die Schwere einer Depressionserkrankung gemessen wird. Weil es sich um eine Phase-2-Studie mit mittelgroßer Teilnehmerzahl handelte, gilt der Wirksamkeitsnachweis als vorläufig. Erst eine Phase-3-Studie mit deutlich mehr Probandinnen und Probanden würde endgültig die Heilwirkung belegen.
Optimistische Interpretation der Ergebnisse
»Die Studie entspricht den Standards, die für die Testung von Depressionsbehandlungen gelten«, sagt der Mediziner Gerrit Burkhardt, der nicht an ihr beteiligt war, aber selbst zu tDCS bei Depressionen an der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht. Die »Nature«-Studie und deren Resultate schätzt Burkhard daher als qualitativ hochwertig ein. Man solle dennoch bedenken, dass es sich um eine vom Headseat-Hersteller gesponserte Untersuchung handle und die »Interpretation der Ergebnisse eher optimistisch« ausgefallen sei.
Dass die tDCS depressive Symptome lindern kann, hatten schon mehrere Studien zuvor ergeben. Im Jahr 2020 belegte eine systematische Metaanalyse von 26 randomisierten, placebokontrollierten klinischen Studien eine signifikante Überlegenheit der tDCS gegenüber einer Scheinbehandlung bei depressiven Episoden. Wie sie im Vergleich zu anderen Therapieformen abschneidet, beleuchtete beispielsweise ein Team um André Brunoni vom University Hospital in São Paulo in Brasilien. Eine erste Untersuchung hierzu ergab 2013 , dass die Kombination von tDCS und dem Antidepressivum Sertralin die Wirksamkeit jeder einzelnen Behandlung steigerte, verglichen zu einer rein medikamentösen oder einer Placebotherapie. Eine Nachfolgestudie von Brunoni und seinen Kollegen, die 2017 im »New England Journal of Medicine« erschien, verglich die Wirkung des Antidepressivums Escitalopram mit tDCS. In diesem Fall war tDCS zwar der Medikamentengabe unterlegen, minderte aber die Symptome immerhin deutlich besser als eine Placebobehandlung.
Ausbleibender Effekt in deutscher Untersuchung
Andere qualitativ hochwertige Untersuchungen kamen allerdings zu einem abweichenden Ergebnis. Ein Beispiel dafür ist eine groß angelegte deutsche Studie, die von 2016 bis 2020 im Rahmen eines Forschungsverbunds stattfand und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Burkhardt war damals maßgeblich an der Durchführung beteiligt. Verteilt auf acht deutsche Kliniken erhielten insgesamt 83 Patientinnen und Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Depression sechs Wochen lang eine tDCS-Behandlung, weitere 77 eine Scheinbehandlung, die den Ablauf und milde Begleitempfindungen der Stimulation nachahmte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren alle stabil auf ein Antidepressivum eingestellt, das aber bei ihnen nicht ausreichend anschlug. »Wir wollten wissen, ob diese Gruppe von einer zusätzlichen tDCS-Behandlung profitieren kann«, erklärt der Mediziner von der LMU München.
»Seit rund 20 Jahren wird die tDCS als Behandlung für Depression untersucht. Positive und negative Ergebnisse wechseln sich seither regelmäßig ab«Berthold Langguth, Psychiater und Neurologe
Das 2023 im Fachmagazin »The Lancet« veröffentlichte Ergebnis war ernüchternd. »Wir fanden durchgehend keine Wirkung auf die depressive Symptomatik«, so Burkhardt. In einer parallel durchgeführten Studie untersuchte man, ob zwölf tDCS-Sitzungen eine gleichzeitig durchgeführte kognitive Verhaltenstherapie unterstützen können. Die Teilnehmenden verbesserten sich zwar, aber nicht stärker als jene, die während der Psychotherapie nur eine Scheinstimulation bekamen.
Berthold Langguth ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie und Chefarzt am medbo-Bezirksklinikum Regensburg. Seine Klinik war damals an der oben erwähnten deutschen tDCS-Studie beteiligt. Er fasst die Situation folgendermaßen zusammen: »Seit rund 20 Jahren wird die tDCS als Behandlung für Depression untersucht. Positive und negative Ergebnisse wechseln sich seither regelmäßig ab.«
Ursprung der Widersprüche
Aber woher rühren die gegensätzlichen Resultate? Menschen mit Depression bilden keine einheitliche Gruppe. Sie unterscheiden sich stark in der Ausprägung ihrer Symptome und ihren bisherigen Krankheitsverläufen, sie reagieren sehr individuell auf Behandlungen, und in vielen Fällen kommt es auch ohne Therapie zu einer spontanen Besserung. Es ist schon innerhalb einer Studie knifflig, homogene und vergleichbare Teilnehmergruppen zu erhalten. Medizinische Studien aus verschiedenen Ländern seien zudem generell oft schwer vergleichbar, etwa, weil die Standardversorgung sich unterscheide, sagt Langguth. In Ländern mit gutem Gesundheitssystem kommt es eher zu negativer Selektion: »Wer schon von der etablierten Behandlung profitiert, nimmt an Studien nicht mehr teil.« Übrig bleiben die schweren Fälle.
Außerdem variieren die einzelnen Studien in vielen kleinen Details, und diese Unterschiede im Studiendesign können sich im Ergebnis bemerkbar machen. Die »Nature«-Studie etwa untersuchte Patienten, deren Depression sich noch nicht so stark verfestigt hatte: Wer bereits wegen einer Depression in stationärer Behandlung gewesen war oder schon mindestens erfolglos zwei verschiedene Antidepressiva ausprobiert hatte, wurde ausgeschlossen. Außerdem betrug der ausgewertete Behandlungszeitraum zehn statt nur sechs Wochen wie in der deutschen Studie. Was letztlich für das abweichende Ergebnis entscheidend war, lässt sich aber nachträglich kaum beurteilen.
Spekulativer Wirkmechanismus
Wäre eine Wirksamkeit der tDCS bei Depression überhaupt wissenschaftlich plausibel? Verglichen mit den kräftigen Kurzpulsen einer Elektrokrampftherapie fließt hier nur ein äußerst schwacher Strom. Nach aktuellem Wissensstand moduliert der Gleichstrom die Nervenzellen im Stirnhirn, was ihre Verschaltungsmuster wieder in einen »gesunden Zustand« versetzen soll.
tDCS – Strom durchs Hirn

Ende der 1980er Jahre hatte sich gezeigt, dass bei Menschen mit Depression der präfrontale Kortex mitunter weniger aktiv ist als üblich. Dass die verminderte Aktivität die Ursache der Erkrankung sein könnte, war also eine naheliegende Hypothese. Folgerichtig klang die Idee nachvollziehbar, die Region von außen mit sanftem Strom zu stimulieren, um das Defizit auszugleichen. Doch spätere Studien ließen starke Zweifel daran aufkommen, dass Depressionen regelhaft auf der Fehlfunktion eines einzelnen Hirnareals beruhen oder mit Aktivitätsveränderungen in nur einer Region einhergehen. Unklar ist auch, welche etwaigen depressionsspezifischen Veränderungen im Gehirn von Personen Ursache und welche Folge der Erkrankung sind. Zudem sind die Studienergebnisse zu neurobiologischen Unterschieden zwischen gesunden Menschen und solchen mit Depression oft widersprüchlich.
Cyntia Fu vermutet, wiederholte tDCS-Sitzungen könnten zu längerfristigen Modifikationen in Gehirnzellen führen, die sich als erhöhtes Aktivitätsniveau zeigen und neben den stimulierten möglicherweise weitere Hirnregionen beeinflussen. Auch Langguth denkt, dass sich die tDCS auf tiefer liegende Gehirnregionen auswirkt, deren Aktivität durch die modifizierten Bereiche des Stirnhirns reguliert wird. Vielleicht stärkt die Anwendung die Verknüpfung zwischen den Arealen, überlegt Burkhardt. Diskutiert wird in diesem Kontext eine generelle Zunahme der Plastizität, also der Veränderlichkeit der neuronalen Verbindungen. Doch bis heute sind alle Erklärungsmodelle spekulativ.
Mögliche Faktoren der Wirksamkeit bei Depression
Nahezu sicher ist dagegen, dass etliche Parameter der Stimulation das Ergebnis der Behandlung verändern: »Die Wirkung hängt sehr stark davon ab, wo man die Elektroden positioniert und wie groß sie sind«, sagt Langguth. Das gebe sozusagen vor, welchen Weg der Strom durch das Gehirn nimmt. »Wir wissen auch, dass die Effekte der Elektrostimulation maßgeblich davon abhängen, in welchem Zustand sich das Gehirn gerade befindet« – sprich, ob der Patient gerade schläft, ruht oder angestrengt nachdenkt. »Es gibt ganz viele Faktoren, die wir beeinflussen können. Nur verstehen wir leider noch nicht im Detail, wie sie sich jeweils auswirken.«
»Falls die tDCS nur eine geringe Effektstärke hat, würde man schon rein statistisch erwarten, dass der Großteil der Studien negativ ausfällt«Gerrit Burkhardt, Mediziner
Ungeachtet all der Unsicherheiten besitzt das Gerät von Flow Neuroscience in der EU bereits eine CE-Zertifizierung für Medizinprodukte und kann somit für die Behandlung von Depressionen angeboten werden. »Bei solch einer Zertifizierung geht es aber in erster Linie um Sicherheitsaspekte, nicht um einen Wirksamkeitsnachweis«, stellt Langguth klar. Verschrieben werden kann tDCS bislang nicht. Auch in deutschen Kliniken kommt die Methode nicht routinemäßig bei Depression zum Einsatz. Das liege insbesondere daran, dass alternative Methoden existierten, wie Psychotherapie und Antidepressiva, die ihre Wirksamkeit in klinischen Studien vielfach unter Beweis gestellt hätten, so Langguth. Dazu zählt etwa die transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei der die Studienlage bezüglich der Wirksamkeit bei Depression ebenfalls deutlich besser ist. Diese erfordert allerdings mehr und teure Technik. »Nur wenn solche etablierten Behandlungsformen aus irgendwelchen Gründen nicht ausreichen oder nicht verwendet werden können, nutzen wir mitunter die tDCS«, sagt er.
Burkhardt und Langguth gehen jedoch davon aus, dass tDCS einen kleinen positiven Effekt bei Menschen mit Depressionen hat. Damit ließe sich auch die bisher uneindeutige Lage erklären: »Falls die tDCS nur eine geringe Effektstärke hat, würde man schon rein statistisch erwarten, dass der Großteil der Studien negativ ausfällt«, erklärt Burkhardt. Daher seien größere Studien mit einem längeren Beobachtungszeitraum notwendig. Vorerst empfehlen die beiden Experten den Betroffenen, erst einmal die etablierten Behandlungen auszuschöpfen. Wer dennoch tDCS ausprobieren möchte, so ihr Rat, solle das am besten in Rücksprache mit geschultem Fachpersonal und idealerweise im Rahmen einer Studie machen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.