Plastik: Nano-Flaschenbürste löst 200 Jahre altes Problem
Als Charles Goodyear im frühen 19. Jahrhundert das vulkanisierte Gummi erfand – die Basis moderner Autoreifen –, erzeugte er schlicht Verbindungen zwischen den einzelnen Molekülen des Gummis. Diese Quervernetzungen sind es, die das elastische Material so steif und stabil machen, dass ein Auto darauf rollen kann. Allerdings hat diese Stabilität einen Preis: Das ursprünglich sehr flexible Gummi lässt sich immer weniger dehnen, je mehr dieser Vernetzungen es enthält. Ein langfristig formstabiles, aber trotzdem dehnbares Netzwerk galt deswegen seit den 1830er Jahren als schlicht nicht möglich. Doch eine Arbeitsgruppe um Li-Heng Cai von der University of Virginia hat nun einen Weg gefunden, diese fast 200 Jahre alte Regel zu umgehen. In der Fachzeitschrift »Science Advances« berichten die Fachleute, wie sie sehr dehnbare Gummisorten herstellen können, die aber trotzdem nicht ausleiern und immer wieder ihre ursprüngliche Form annehmen – selbst wenn man sie unzählige Male verformt.
Der Trick ist, dass auf molekularer Ebene zwei unterschiedliche Größen über Dehnbarkeit und Steifigkeit entscheiden. Ein Netzwerk ist umso dehnbarer, je länger der verschlungene und zusammengefaltete Molekülstrang zwischen zwei Vernetzungspunkten im Durchschnitt ist. Sind alle Molekülstränge voll ausgefaltet, kann das Material nicht weiter gedehnt werden. Gleichzeitig ist das Material umso steifer, je größer die molekulare Masse seiner Bestandteile ist. Solche großen Netzwerkmoleküle widersetzen sich der Formveränderung, wenn der Stoff gedehnt wird. Und bei klassischen Gummimaterialien ist die molekulare Masse der Bestandteile umso größer, je mehr Vernetzungspunkte es gibt. Umgekehrt führt weniger Vernetzung dazu, dass die einzelnen Molekülstränge einfach ihre Form ändern und gestreckt bleiben – das Gummi leiert aus.
In klassischen Netzwerken hängen Steifigkeit und Dehnbarkeit also unrettbar miteinander zusammen: Je mehr Vernetzungen, desto besser das Netzwerk – und umso kürzer der durchschnittliche Molekülstrang, der Dehnung erlaubt. Die Arbeitsgruppe um Cai hat nun jedoch einen cleveren Weg gefunden, beide Größen voneinander zu trennen. Die Grundlage ihres Polymers ist eine molekulare »Flaschenbürste«. Sie besteht aus einem zentralen Molekülstrang, von dem sehr viele kürzere Stränge eines anderen Polymers abgehen. Die beiden Molekültypen müssen lediglich zwei Bedingung erfüllen: Sie dürfen sich nur schlecht miteinander mischen, während die Seitenketten untereinander recht stark anziehen. Dann nämlich lagern sich die Seitenketten zu einer dichten »Borstenhülle« nebeneinander und zwingen den zentralen Strang der Flaschenbürste dazu, sich eng verschlungen in der Mitte dieser Hülle zusammenzufalten. Dehnt man das Gummi, entfaltet sich der Strang – wie stark das Material dehnbar ist, kann man über die genaue Länge dieses Strangs und die Lage der Seitenketten steuern.
Gleichzeitig hängt in dieser Art von Polymer die Molekülmasse der Bestandteile nicht mehr von der Zahl der Vernetzungspunkte ab, sondern von der Art und Länge der Seitenketten. Und die kann man frei einstellen, ohne dabei die Dehnungseigenschaften der zentralen Kette zu verändern. Dank dieses veränderten Designs werden Steifigkeit und Dehnbarkeit voneinander unabhängig. Dadurch lassen sich nun sehr weiche Gummis herstellen, die gleichzeitig sehr häufig verformt werden können, ohne auszuleiern – eine begehrte Eigenschaft zum Beispiel bei Herzimplantaten. Die Fachleute betonen außerdem, dass sich das von ihnen entwickelte Prinzip mit sehr vielen unterschiedlichen Kunststoffen verwirklichen lässt. Zudem seien die Bausteine des Polymers so konzipiert, dass sich diese Spezialgummis mit einem 3-D-Drucker drucken lassen.
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