Hitze und Gesundheit: Schwitzen für die Wissenschaft
Als Australien im Jahr 2019 von einer unvergleichlichen Hitzewelle überrollt wurde, fasste Ollie Jay einen Plan. Der Professor für Physiologie entwickelte ein Konzept für eine raffinierte Klimakammer, mit der sich extreme Temperaturen simulieren und ihre Wirkung auf den menschlichen Körper erforschen lassen. Bereits 18 Monate später wurde die zwei Millionen Australische Dollar teure (rund 1,2 Millionen Euro) Konstruktion in Brisbane eingepackt und ins 1000 Kilometer entfernte Sydney transportiert. Dort hob ein Kran sie in die oberste Etage eines Glasgebäudes der Universität. Zahlreiche Forscher, darunter auch Ollie Jay, nutzen die Kammer seitdem, um auszutesten, ab wann extreme Hitze für den menschlichen Körper lebensgefährlich wird. Denn bislang weiß man darüber erstaunlich wenig.
»Das Problem ist, dass wir heute zwar in manchen Gegenden bereits Bedingungen haben, die uns sehr heiß erscheinen. Doch wir wissen nicht wirklich, was sie im Körper anrichten«, sagt Jay, der das Forschungslabor für Hitze und Gesundheit an der medizinischen Fakultät der University of Sydney leitet. »Indem wir solche Temperaturen in unserer Kammer erzeugen und Menschen unter sorgfältiger medizinischer Aufsicht diesen Bedingungen aussetzen, können wir die physiologischen Reaktionen besser untersuchen und verstehen«, erklärt er. Darüber hinaus erforscht Jays Team, welche Abkühlungsstrategien am besten geeignet sind, um die Gesundheitsrisiken bei hohen Temperaturen zu verringern.
Im Zuge des Klimawandels heizt sich die Erde immer weiter auf; Hitzetage sind zu einem regelmäßigen Bestandteil der weltweiten Wetterberichte geworden. Im Juli 2024 wurde zweimal kurz hintereinander der Rekord für den heißesten Tag der Welt gebrochen. Die Vereinten Nationen riefen Regierungen weltweit auf, Maßnahmen zu ergreifen. Vor allem gefährdete Personengruppen wie Kinder, Senioren oder auch Menschen, die unter freiem Himmel arbeiten, müssten besser geschützt werden. Für rund 70 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung weltweit, das heißt für 2,4 Milliarden Menschen, bestünde bereits ein hohes Risiko durch extreme Hitze.
Hochmodernes Hitzelabor
Trotzdem sind die öffentlichen Ratschläge zum Umgang mit hohen Temperaturen unzureichend. Darüber hinaus ist unklar, wie sich Menschen an besonders heißen Tagen effektiv abkühlen können. »Die Hitzewarnungen renommierter Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation sind voller Irrtürmer, wenn es um die menschliche Physiologie geht«, sagt etwa Larry Kenney, Professor für Physiologie an der Pennsylvania State University in den USA. Wie Ollie Jay erforscht auch er die Auswirkungen von Hitze auf die menschliche Gesundheit.
Hier soll das hochmoderne Untersuchungslabor an der University of Sydney Abhilfe schaffen. Zum einen nutzen Forschende es, um herauszufinden, ab welchem Punkt Hitze lebensbedrohlich wird. Zum anderen prüfen sie, welche Maßnahmen den Körper in unterschiedlichen Szenarien effizient abkühlen. Die Klimakammer ist ein vier mal fünf Meter großer Raum. Die Temperatur lässt sich jede Minute um ein Grad erhöhen oder senken – von 5 Grad Celsius bis hin zu sengenden 55 Grad. Man kann die Windgeschwindigkeit steuern und mit Infrarotlampen das Sonnenlicht simulieren. Außerdem lässt sich die Luftfeuchtigkeit einstellen. Sie ist eine Schlüsselvariable, die die Wirkung der Hitze auf den Körper stark beeinflusst. »Die Kammer ist eine echte technische Meisterleistung«, schwärmt Ollie Jay.
Testpersonen können in der Kammer essen, schlafen und Sport treiben; eine Luke bietet die Möglichkeit, sie während der Experimente mit Lebensmitteln und anderen Gegenstände zu versorgen. Sensoren, die am Körper der Versuchsteilnehmer angebracht sind, senden Informationen zu deren Herzfrequenz, Atmung, Transpiration und Körpertemperatur in den angrenzenden Kontrollraum, wo Fachleute die Daten auswerten.
Bisher seien die Schwellenwerte für lebensbedrohliche Hitze unter anderem deshalb unzureichend definiert worden, weil sich die Gesundheitsbehörden zu sehr auf eine theoretische Studie aus dem Jahr 2010 verlassen hätten, erklärt Ollie Jay. Darin definierten Forscher mit Hilfe mathematischer Modelle jene Feuchtkugeltemperatur (englisch: wet bulb temperature, WBT), die ein junger, gesunder Mensch nicht mehr überleben würde. Die WBT ist ein Maß, das Wissenschaftler bei der Untersuchung von Hitzestress verwenden, weil sie die kombinierte Wirkung von hohen Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit berücksichtigt. Übersteigt sie ein gewisses Limit, kann unser Körper keine Wärme mehr an die Umgebung abgeben. Ohne Möglichkeit zur Abkühlung kommt es daraufhin zu einer lebensgefährlichen Überhitzung.
»Es ist ein überaus simples physikalisches Modell mit vielen Einschränkungen – aber fast jeder benutzt es«Ollie Jay, Physiologe
Die Modelle errechneten eine WBT von 35 Grad Celsius als Überlebensgrenze. Das entspricht einer Temperatur von 35 Grad bei 100 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit oder auch einer Temperatur von 46 Grad bei 20 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit. Jenseits dieser Grenze würde die Kerntemperatur des Körpers unkontrollierbar ansteigen. Das Risiko hitzebedingter Erkrankungen nimmt mit zunehmender Expositionsdauer zu. Das Modell behandelte den menschlichen Körper jedoch als unbekleidetes Objekt, das sich weder bewegt noch schwitzt, so dass das Ergebnis nicht besonders gut auf die reale Welt übertragbar ist.
Trotzdem sei die Zahl von zahlreichen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens übernommen worden – sogar vom Weltklimarat –, was die wissenschaftlichen Bemühungen, relevantere Werte zu ermitteln, erschwere, sagt Jay. »Es ist ein überaus simples physikalisches Modell mit vielen Einschränkungen – aber fast jeder benutzt es.«
Neues Modell für physiologische Hitzebewältigung
In einer Studie aus dem Jahr 2021 lieferte Larry Kenney zusammen mit einer Forschungsgruppe eine alltagstauglichere Schätzung: Sie kamen auf eine WBT-Schwelle von etwa 31 Grad Celsius. Diese ermittelten sie, indem sie die Körperkerntemperatur junger, gesunder Menschen bei verschiedenen Kombinationen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit maßen, während die Probanden Rad fuhren.
So wie die Wissenschaftler in Sydney arbeitet auch Kenneys Gruppe mit einer Klimakammer. Und tatsächlich gibt es weltweit etliche solcher Versuchsräume. Viele davon werden allerdings hauptsächlich in der Sportwissenschaft eingesetzt. Es gibt nur eine Hand voll Gruppen, die damit arbeiten, um besser zu verstehen, wie Menschen mit extremer Hitze zurechtkommen.
»Die 35-Grad-Feuchtkugeltemperatur ist zwar noch in aller Munde. Doch allmählich gewinnt auch der von Kenneys Labor definierte Grenzwert an Zugkraft«, sagt Robert Meade, Forscher für Hitze und Gesundheit an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts.
So testet Ollie Jays Team derzeit ein mathematisches Modell, das es im Jahr 2023 veröffentlicht hat. Anhand zahlreicher Variablen beschreibt es, wie ein Körper extreme Hitze bewältigt. Die Berechnungen stützen sich auf Daten aus Studien, in denen gemessen wurde, wie gut ältere sowie jüngere Menschen schwitzen können. Es berücksichtigt außerdem physikalische Gesetzmäßigkeiten, um vorherzusagen, wie Wärme zwischen Körper und Umgebung ausgetauscht wird.
»Die Tatsache, dass sie die menschliche Physiologie miteinbezogen haben, und das auch noch gut, macht es meiner Meinung nach zum besten Modell, das es derzeit gibt«, betont Kenney, der mit Jay bei früheren Forschungsarbeiten zusammengearbeitet hat. »So umfassend tun das bislang nur sehr wenige Modelle.«
Schwitzen, bis der Arzt kommt
Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf junge, gesunde Menschen im Schatten. Das Modell von Jay und seinem Team ermittelt jedoch auch die Grenzen des Überlebens im Sonnenlicht, und zwar für verschiedene Altersgruppen sowie für Menschen in Ruhe oder beim Sport. Die WBT-Schwellenwerte für junge Menschen liegen dabei zwischen 26 und 34 Grad Celsius, die für ältere Menschen zwischen 21 und 34 Grad Celsius. »Diese vielseitige Betrachtung wie auch die Möglichkeit, verschiedene Szenarien zu bewerten, ist der entscheidende Fortschritt bei diesem Modell«, erklärt Robert Meade.
Wenig überraschend sagen die Berechnungen niedrigere Überlebensraten voraus, wenn jemand direktem Sonnenlicht ausgesetzt ist, als wenn sich die Person im Schatten aufhält. Sie zeigen auch, dass Menschen über 65 Jahre sensibler auf Hitze reagieren als 18- bis 40-Jährige. Das Team nutzte das Modell zudem zur Definition von Belastungsgrenzen bei Hitze. Sie geben an, unter welchen Bedingungen ältere und jüngere Menschen Aufgaben wie Schreibtischarbeit, Gehen, Treppensteigen, Tanzen und schweres Heben noch sicher ausführen können. Trotz seiner Stärken müsse das Modell aber weiter an realen Menschen getestet werden, mahnt Meade.
Das ist auch Ollie Jay bewusst. Seine Untersuchungen in der Klimakammer konzentrieren sich derzeit jedoch vor allem noch auf junge, gesunde Menschen. In künftigen Versuchen wollen die Forscher dann ebenso die physiologische Reaktion auf Hitze unter schattigen und sonnigen Bedingungen, in verschiedenen Altersgruppen und bei sportlicher Betätigung testen. Anhand der Daten aus diesen Versuchen möchten sie das Modell verbessern. Das kann wiederum dazu dienen, bessere Gesundheitsempfehlungen für Menschen zu entwickeln, die bei großer Hitze besonders gefährdet sind.
Der zweite Schwerpunkt seines Labors ist die Suche nach wirksamen Abkühlungsstrategien. Dabei geht es Ollie Jay vor allem um Menschen, die der extremen Hitze nicht entfliehen können, etwa weil sie in schlecht klimatisierten Gebäuden festsitzen oder auf offener Straße arbeiten müssen. In einem Versuch testete sein Team beispielsweise, wie man Arbeitskräften in einer Bekleidungsfabrik in Bangladesch helfen kann. Dort ist es in der Regel sehr heiß und es gibt kaum Zugang zu Klimaanlagen. Für ihr Experiment ermittelten die Forscher zunächst die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit in einer Textilfabrik in der Hauptstadt Dhaka. »Wir haben diese Bedingungen in der Kammer sowie die Arbeit der Menschen nachgestellt – die Frauen haben genäht und die Männer gebügelt«, erklärt Jay. Die Versuchsteilnehmer trugen Kleidung, die die Arbeiter in der Fabrik normalerweise auch tragen würden.
In rund 240 Versuchsdurchläufen habe sein Team die Körperfunktionen sowie die Produktivität der Probanden gemessen, denn, so erzählt Jay, »eines der Probleme ist, dass die Menschen langsamer werden, wenn ihnen heiß ist«. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler testeten unterschiedliche Abkühlungsstrategien wie etwa den Einsatz von Ventilatoren und regelmäßiges Trinken von Wasser. Außerdem untersuchten sie, welche Auswirkungen es hätte, die Farbe des Fabrikdachs zu ändern. Die Ergebnisse wollen sie bald in einer Fachzeitschrift veröffentlichen.
»Zu wissen, in welchen Situationen gängige Abkühlungsstrategien am besten funktionieren, ist für den Schutz der öffentlichen Gesundheit von entscheidender Bedeutung«Robert Meade, Gesundheitswissenschaftler
Überraschend waren die Resultate eines Experiments dazu, wie sich der Einsatz von Ventilatoren und eine regelmäßige Befeuchtung der Haut bei verschiedenen Kombinationen von Hitze und Luftfeuchtigkeit auf die Belastung des Herzens älterer Menschen auswirkt. Bei feuchter Hitze reduziert ein Ventilator die Herzbelastung bis zu einer Lufttemperatur von rund 38 Grad Celsius demnach sehr wirksam. Bei trockener Hitze erhöht sie sich hingegen. Die Haut regelmäßig zu befeuchten, war sowohl bei trockener als auch bei feuchter Hitze von Vorteil. »Zu wissen, in welchen Situationen gängige Abkühlungsstrategien am besten funktionieren, ist für den Schutz der öffentlichen Gesundheit von entscheidender Bedeutung«, urteilt Meade.
Feuchtes Tuch hält Kinderwagen kühl
Eine Methode, um Babys im Kinderwagen abzukühlen, haben Jay und seine Kollegen bereits populär gemacht. »An heißen Tagen decken Leute ihren Kinderwagen häufig mit einem weißen Musselintuch ab«, sagt der Physiologe, »aber es gibt eine große Kontroverse darüber, ob das gut oder schlecht für die Babys ist.« In einer Studie aus dem Jahr 2023 fand das Team heraus, dass ein trockenes, weißes Musselintuch den Kinderwagen um mehr als 2,5 Grad aufheizen kann. Ein feuchtes Tuch dagegen hat tatsächlich eine Kühlwirkung. »Es entzieht dem Inneren des Kinderwagens die latente Wärmeenergie und hält ihn so um etwa 5 Grad kühler.« Die Studie erregte das Interesse der Medien. »Das war ziemlich cool«, sagt er. »Nur zwei Wochen später sah ich, wie etliche Eltern in meiner Wohngegend ihren in ein weißes Musselintuch gehüllten Kinderwagen vor sich herschoben und dabei in einer Hand eine Sprühflasche mit Wasser hielten.«
Sein Team wirkte auch an der Entwicklung eines globalen Hitzewarnsystems mit, das vom Google-Chrome-Browser für seine Nutzer weltweit frei gegeben wurde. »Wenn das System weiß, wo man sich befindet, und die Hitze an dem Ort einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, erhält man eine Warnung«, erklärt er. Außerdem bekomme man Tipps, wie man sich abkühlen kann, also etwa ein Glas Wasser pro Stunde zu trinken sowie Haut und Kleidung zu befeuchten.
Als Nächstes plant Jay, mit seiner Forschungsgruppe zu untersuchen, wie sich Hitze auf die Geburten und die Gesundheit von Müttern in Bangladesch auswirkt. Und er bemüht sich derzeit um die Finanzierung einer randomisiert kontrollierten Studie zu effizienten und praktikablen Abkühlungsstrategien in Indien während der besonders heißen Monate.
Sein oberstes Ziel sei, so sagt er es selbst, die Gesundheit der Menschen in einer Welt zu schützen, die immer lebensfeindlicher wird. »Als ich vor einigen Jahren nach Sydney kam, wurde ich nicht ernst genommen – es gab eine alte Klimakammer, die nicht wirklich gut funktionierte, und ich hatte etwa 16 500 Australische Dollar als Startkapital zur Verfügung«, erzählt Jay. Mittlerweile sei sein Forschungsgebiet so wichtig geworden, dass er keine Finanzierungsschwierigkeiten mehr habe. »Wir konnten uns in dem Bereich gut etablieren.« Auch wenn er sich freilich wünscht, es wäre gar nicht so wichtig, zu wissen, welche Extreme der Körper aushält. Doch die nächste Hitzewelle kommt bestimmt.
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