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Südamerika: »Überall in Amazonien übernimmt die organisierte Kriminalität«

Am Amazonas verdrängen kriminelle Banden den Staat. Ihr Einfluss ist zerstörerisch, sagt der Journalist Bram Ebus im Interview. Vielerorts gebe es schon kein Zurück mehr.
Kolumbianische Anti-Drogen-Polizei bei einem Einsatz in einem Koka-Feld
Angehörige der kolumbianischen Anti-Drogen-Polizei durchkämmen ein Koka-Feld in Putumayo. Vielerorts ist der Kampf gegen die Banden praktisch verloren, nicht zuletzt weil die Streitkräfte anfällig für Korruption sind.

Herr Ebus, Sie sind selbst regelmäßig im amazonischen Tiefland unterwegs, um über den Einfluss der Drogenkartelle zu recherchieren. Zuletzt warnten Sie etwa im Magazin »Nature« eindringlich vor den Entwicklungen in der Region. Was geschieht dort?

Bram Ebus: Wir sehen gerade, wie die organisierte Kriminalität das Amazonasgebiet übernimmt. Sie verdrängt die staatliche Verwaltung, und sie versucht den Amazonas über Ländergrenzen hinweg zu kontrollieren.

Wie muss man sich die Verdrängung des Staats vorstellen?

Die Kartelle entscheiden, wer eine Region betritt und wer sie verlässt. Sie üben ihre eigene Justiz aus, von körperlicher Züchtigung bis zur Todesstrafe. Sie erheben Steuern von der lokalen Wirtschaft. Und sie mischen sich sogar in Gesundheits- und Bildungsfragen ein: In Kolumbien oder Venezuela zahlen bewaffnete Gruppen den Lehrern die Gehälter und reden beim Lehrbetrieb mit. Sie organisieren den Transport von Verwundeten, betreiben Kliniken mit eigenen Ärzten für die Bevölkerung. Das ist zwar nicht die Norm, aber es kommt vor.

Bram Ebus | Der in den Niederlanden geborene Investigativjournalist und Kriminologe ist in Bogotá, Kolumbien, ansässig. Von dort beobachtet er das Vorgehen der organisierten Kriminalität im Amazonasgebiet aus der Nähe und berät dabei die Crisis Group in Konflikt- und Umweltfragen. Außerdem koordiniert Ebus das Projekt »Amazon Underworld«, bei dem ein Team von 37 Journalistinnen und Journalisten durch Recherchen vor Ort ein Lagebild der Situation in Amazonien erzeugt.
Bram Ebus twittert unter @BramEbus

Das heißt, die kriminellen Netzwerke operieren auch außerhalb ihres »Kerngeschäfts«?

Das sehen wir überall. Zum Beispiel in Japurá. Das ist eine kleine Gemeinde in Brasilien an der Grenze zu Kolumbien. Hier führt eine Drogenroute durch. Vor allem aber haben wir dort illegalen Goldbergbau beobachtet, der allein in dieser Gemeinde schätzungsweise mehr Geld abwirft, als die brasilianische Umweltpolizei IBAMA im ganzen Jahr zur Verfügung hat. Das gibt den Kriminellen große Macht. Sie korrumpieren Richter, Offiziere und Politiker. Und deshalb gewinnen sie.

Sie sagen, dass die Drogenkartelle in großem Stil in Gold investieren. Wie hängen diese beiden illegalen Wirtschaftszweige zusammen?

Die Geschäftszweige sind komplementär. Der Drogenhandel generiert ungeheuer viel Geld und hohe Summen an Cash, das wieder angelegt werden muss. Die Kartelle investieren zum Teil innerhalb der Region, damit sie nicht so große Geldsummen durch den Amazonas transportieren müssen. Sie legen es im illegalen Goldabbau an oder kaufen Gold. Ein kleiner Goldbarren von der Größe eines Handys wiegt etwas mehr als ein Kilogramm und ist 50 000 bis 60 000 Dollar wert und einfach zu transportieren. Manchmal tauschen sie auch direkt Kokain gegen Gold.

Das vor Ort geschürfte Gold ist ja ebenfalls meist illegal. Wie funktioniert die Geldwäsche?

Gold ist sehr schwer zurückzuverfolgen. Man kann es leicht in legale Lieferketten einschleusen.

»Das Geld wird gewaschen und in andere Wirtschaftstätigkeiten gesteckt. So multiplizieren sie die Umweltschäden«

Der Goldabbau gilt als extrem schädlich für die Umwelt, weil dafür Waldstücke gerodet werden, vor allem aber, weil er die Flüsse mit Quecksilber vergiftet. Seit vielen Jahren warnen Fachleute außerdem vor der fortschreitenden Zerstörung des Amazonas-Regenwalds durch die Forst- und Landwirtschaft. Welche Rolle spielt die organisierte Kriminalität bei der Umweltzerstörung?

Alle ihre Aktivitäten haben letztlich Auswirkungen auf die Umwelt, ganz gleich, ob es sich um illegalen Bergbau, Drogenhandel oder die Ausbeutung von Waldbeständen und den Handel mit wilden Arten handelt. Das Geld wird gewaschen und in andere Wirtschaftstätigkeiten gesteckt, die meist ebenfalls die Umwelt zerstören. Das sind mitunter auch legale Wirtschaftszweige wie die Viehzucht, die drastische Auswirkungen auf die Umwelt hat. So multiplizieren sie die Umweltschäden.

Neben der Umwelt bedrohen die kriminellen Banden auch indigene Völker, sogar diejenigen, die in freiwilliger Isolation leben, wie die Yuri-Passé. Was wissen Sie über deren Situation?

Das ist wirklich sehr schlimm. Die illegale Wirtschaft hat große Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften im Amazonasgebiet. Wobei die meisten Gemeinschaften schon lange mit Eindringlingen konfrontiert sind. Sie haben ein angepasstes Immunsystem. Aber unkontaktierte Gruppen, wie die Yuri-Passé, können an einer Erkältung oder an einer einfachen Grippe sterben. Deshalb ist es sehr gefährlich, wenn illegale Minenarbeiter, bewaffnete Gruppen und Drogenhändler in ihre Gebiete eindringen.

»Drei Entwicklungen im Jahr 2016 haben das gesamte kriminelle Umfeld im Amazonasgebiet verändert«

Sie sagen, dass Gewalt und Umweltzerstörung seit 2016 angestiegen sind. Was hat sich verändert?

Das gesamte kriminelle Umfeld hat sich seit 2016 verändert. Es gab drei Entwicklungen, die unabhängig voneinander sind, die aber alle das Amazonasbecken betreffen. Erstens wurde 2016 das Friedensabkommen zwischen der FARC [den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, d. Red.] und der Regierung von Juan Manuel Santos unterzeichnet. Tatsächlich wurde die überwiegende Mehrheit der ehemaligen FARC-Kämpfer demobilisiert. Aber der Staat hat das Vakuum, das sie hinterließen, nicht gefüllt.

Dann kehrten verschiedene Gruppen zurück in die Gebiete, die für den Koka-Anbau, für den illegalen Bergbau und für die Drogenhandelsrouten von großem Interesse sind. Es begannen Kämpfe um die territoriale Kontrolle, und die Gruppen dehnten sich nach Venezuela, Brasilien, Ecuador und Peru aus.

2016 unterzeichnete auch die Regierung von Nicolás Maduro [in Venezuela, d. Red.] ein Dekret, um in den Erdölgürtel südlich des Orinokos zu investieren. Dort befinden sich die größten Erdölvorkommen der Welt. Dabei setzte Maduro nicht auf die Gründung staatlicher oder staatlich-privater Unternehmen, um das Erdöl zu fördern. Das nutzten die Syndikate des organisierten Verbrechens, um ihre Kontrolle über die rohstoffreichen Gebiete auszubauen. 2016 gab es einen regelrechten Bergbauboom im Süden Venezuelas, der von Gewalt begleitet war.

Im gleichen Jahr haben wir beobachtet, wie die beiden multinationalen Organisationen des organisierten Verbrechens in Brasilien, das Comando Vermelho von Rio de Janeiro und die PCC von São Paulo, die Drogenhandelsrouten zu kontrollieren begannen, was zu einem Krieg um das Amazonasgebiet führte. Wir haben auch Massaker in den Gefängnissen von Boavista und Manaus im Jahr 2017 beobachtet, die mit diesen Verteilungskämpfen zu tun haben und bis heute andauern.

Diese drei Entwicklungen im Jahr 2016 haben das gesamte kriminelle Umfeld im Amazonasgebiet verändert: Es gab neue Gruppen, neue Kämpfe, neue Allianzen krimineller Netzwerke. Sie begannen Grenzen zu überschreiten, und die Situation geriet völlig außer Kontrolle. Dann kam 2020 die Pandemie. Da konnten die bewaffneten Gruppen tun und lassen, was sie wollten.

Auslieferung von »El Gringo« | In Ecuador gewinnen die multinational operierenden Banden immer mehr Einfluss. Nun gelang den Behörden ein Schlag gegen die FARC-Splittergruppe Oliver-Sinisterra-Front, die auch im Drogengeschäft mitmischte. Ihr Anführer Carlos Arturo Landázuri Cortés war einer der meistgesuchten Kriminellen Kolumbiens. Einen Tag nach seiner Verhaftung in Ecuador wird er am 23. Januar an Kolumbien ausgeliefert.

Aktuell sieht man die Lage in Ecuador eskalieren. Lange galt das Land als eines der sichersten, nun ist die Zahl der Morde mit 7000 Toten auf einen Höchstwert gestiegen. Im August 2023 wurde der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio erschossen. Jetzt haben Bewaffnete ein Fernsehstudio gestürmt. Der neue Präsident Daniel Noboa hat daraufhin den Drogenkartellen den Krieg erklärt. Woher kommt diese Entwicklung? Hat sie mit veränderten Drogenrouten zu tun?

Ja, sehr viel. Ecuador ist zu einer der wichtigsten Transitrouten für Kokain in ganz Lateinamerika geworden, auf Grund einer schwachen Hafenkontrolle, der schlechten Gefängnisverwaltung und des brutalen Wachstums seiner kriminellen Gruppen.

Die Kapitalspritze durch den Drogenhandel hat in Ecuador das lokale organisierte Verbrechen gestärkt. Politisch befindet sich das Land mit seiner neuen Regierung in einer unsicheren Phase. Da lassen die Banden ihre Muskeln spielen.

Die Sicherheitskrise wird oft als ein Problem der Häfen Guayaquil und Esmeraldas dargestellt. Aber natürlich kommen die Drogen nicht aus diesen städtischen Zentren, sondern aus dem Amazonasgebiet, aus Kolumbien und Peru. Ecuador hat keinen Grenzschutz. Wir wissen, dass das ecuadorianische Amazonasgebiet nicht nur von ecuadorianischen Kartellen übernommen wird, sondern auch von kolumbianischen Guerillagruppen, die Lager auf ecuadorianischem Gebiet unterhalten und dort Leute rekrutieren.

Was kann man Ihrer Meinung nach gegen diese transnational operierenden kriminellen Netzwerke tun?

Ich denke, dass wir vielerorts einen Punkt erreicht haben, an dem es kein Zurück mehr gibt, da sich das organisierte Verbrechen etabliert hat und in allen Bereichen der Gesellschaft präsent ist. Wir müssen eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern Amazoniens anstreben, um grenzüberschreitend arbeiten zu können. Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie sollte aber weniger auf militärische Präsenz setzen. Die Streitkräfte aufzustocken, erhöht nicht unbedingt die Sicherheit. Denn die Streitkräfte sind sehr anfällig für Korruption.

Auf wen oder was sollte man stattdessen setzen?

Stattdessen sollte man vor allem die Bevölkerung des Amazonasgebiets einbeziehen. Wenn man sich dessen Karte anschaut, versteht man schnell, warum der Staat hier so abwesend ist. Das Gebiet ist zu groß, und staatliche Investitionen in die Infrastruktur gehen mit wirtschaftlichen Aktivitäten einher, die sich nicht unbedingt positiv auf die Umwelt auswirken.

Daher ist es sehr wichtig, das soziale Kapital zu betrachten, das im Amazonasgebiet vorhanden ist, und das sind die lokalen und die indigenen Gemeinschaften. Sie brauchen dringend die Anerkennung ihrer gemeinsamen Anrechte auf ihr Land und müssen befähigt werden, ihre Gebiete mit GPS-Drohnen zu überwachen.

Sie sind selbst in Amazonien unterwegs und kommen dabei auch Kriminellen nahe, berichten von Einschüchterungsversuchen mit vorgehaltener Waffe. Wie gehen Sie persönlich mit den Bedrohungen um? Erst im Jahr 2022 wurden dort der britische Journalist Dom Philips und der brasilianische Indigenenexperte Bruno Pereira ermordet.

Am Mittwoch fahre ich ins Javari-Tal, wo die beiden ermordet wurden. Bei uns hat jeder Journalist, der ins Feld geht, ein GPS mit Satellitenfunk dabei. So können wir auch dort kommunizieren, wo es kein Mobilfunksignal gibt. Wir bereiten die Journalisten vor, verfolgen den Einsatz und wenden konsequent unsere Sicherheitsprotokolle an. Das ist keine Garantie, aber es ist das Beste, was wir tun können.

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