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Quantenphysik: Experimente liefern Hinweise auf negative Zeit

Physiker haben im Labor eine überraschende Entdeckung gemacht: Die Zeitspanne, in der Photonen Rubidiumatome anregen, ist negativ.
Eine Uhr über dem Meer, die sich in ihre Bestandteile auflöst
Manchmal scheint die Zeit furchtbar langsam zu vergehen – in der Quantenphysik können Zeitspannen nun offenbar auch negative Werte annehmen.

Quantenphysiker sind verrückte Phänomene gewohnt: Atome und Moleküle sind mal Wellen, mal Teilchen; Partikel werden durch eine »spukhafte Fernwirkung« selbst über weite Distanzen hinweg untrennbar miteinander verbunden; und Quantenobjekte können sich von ihren Eigenschaften lösen wie die Grinsekatze aus »Alice im Wunderland« von ihrem Grinsen. Nun setzen Forschende um Aephraim M. Steinberg von der University of Toronto noch einen drauf: In ihren Experimenten haben sie nachgewiesen, dass Photonen eine negative Zeitdauer in einer Atomwolke verbringen. »Es klingt verrückt, ich weiß«, schrieb Steinberg auf X. »Es dauerte eine positive Zeitspanne, aber wir haben beobachtet, dass Photonen Atome dazu bringen können, eine negative Zeit im angeregten Zustand zu verbringen!«

Die Idee zu dieser Arbeit entstand im Jahr 2017. Steinberg interessierte sich damals für die Wechselwirkung von Licht und Materie. Wenn man Licht durch ein Medium strahlt, können die Atome kurzzeitig angeregt werden. Die Photonen werden absorbiert und kurze Zeit später wieder ausgestrahlt. Soweit nichts Neues. Steinberg wollte jedoch herausfinden, wie sich einzelne Photonen durch Atomwolken bewegen. Nach drei Jahren Planung war sein Team weit genug, um diese Frage im Labor zu testen. »Es hat unglaublich viel Spaß gemacht und war sehr aufregend, eine Messung zu entwickeln, mit der man eine so grundlegende Frage testen kann, die meines Wissens noch nie gestellt worden war«, schrieb der Physiker Josiah Sinclair auf X, der damals das Experiment mit Steinberg durchgeführt hat.

Die Forschenden schossen im Jahr 2020 einzelne Photonen durch ultrakalte Rubidiumatome – und machten eine unerwartete Entdeckung: Wenn sich die Lichtteilchen ungehindert durch die Atomwolke bewegten, regten sie die Rubidiumatome trotzdem an. Tatsächlich waren die Rubidiumatome in diesem Fall genauso lange angeregt, wie wenn sie Photonen komplett absorbierten.

»Letztlich warf das Experiment mehr Fragen als Antworten auf«Josiah Sinclair, Physiker

Doch es kam noch verrückter. Als das Forschungsteam die Ergebnisse genauer unter die Lupe nahm, stieß es auf eine weitere Überraschung: Wenn ein Photon absorbiert wurde, dann schien das Atom dieses fast augenblicklich wieder zu emittieren – und zwar lange bevor das Atom normalerweise wieder in den Grundzustand übergehen würde. »Das war noch unerwarteter«, schrieb Sinclair. »Letztlich warf (das Experiment) mehr Fragen als Antworten auf.«

Deswegen wollten die Fachleute in einem weiteren Experiment genau bestimmen, wie lange die Photonen absorbiert werden. Wie sie zuvor mathematisch bewiesen hatten, entspricht diese Dauer immer der Zeit, um die ein Lichtstrahl bei seiner Reise durch die Atomwolke verzögert wird. Allerdings kann diese Verzögerung auch negativ sein. Dann ist die Gruppengeschwindigkeit der Photonen im Medium schneller als die Lichtgeschwindigkeit. (Da auf diese Weise keine Information übertragen werden kann, widerspricht das nicht der speziellen Relativitätstheorie.) In solchen Fällen bedeutet das jedoch, dass die Zeitspanne, in der die Photonen von Atomen absorbiert wurden, negativ ist! Diese unglaublich wirkende Vorhersage konnte das Team nun in Experimenten bestätigen.

»Unsere Beobachtungen zeigen, dass die (negative) Laufzeit eine physikalisch sinnvolle Größe ist«, schreiben die Fachleute in ihrer neuesten Veröffentlichung. Damit haben die Forschenden erstmals eine physikalische Größe gefunden, die mit einer negativen Zeitdauer assoziiert wird. Auch wenn das Phänomen äußerst erstaunlich ist, hat es keine Auswirkungen auf das Verständnis der Zeit an sich – aber es verdeutlicht wieder einmal, dass die Quantenwelt noch immer Überraschungen bereithält. Diese war sicher nicht die letzte.

Erratum: In einer vorherigen Version des Artikels wurde erklärt, dass die negative Verzögerung auf die geringere Lichtgeschwindigkeit in Medien zurückgeht – allerdings geht sie auf eine überlichtschnelle Gruppengeschwindigkeit zurück.

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  • Quellen
doi.org/10.48550/arXiv.2409.03680

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