Klimawandel: Das Rätsel um die unerklärlichen 0,2 Grad
Für viele Menschen in Deutschland war durch die Hitzewellen, Dürren und Überflutungen des Jahres 2023 der Klimawandel besonders präsent. In jenem Jahr war die Erde erstmals 1,5 Grad wärmer als vor der Industrialisierung. Die meisten Fachleute gingen davon aus, dass es noch einige Jahre dauern würde, bis die globale Durchschnittstemperatur regelmäßig oberhalb dieser kritischen Erwärmung sein würde. Sie waren jedoch nicht nur überrascht von den hohen Temperaturen, sondern konnten auch bisher gut 0,2 Grad dieses Anstiegs nicht erklären. Jetzt zeigt eine Studie in der Fachzeitschrift »Science«, was hinter den rätselhaften 0,2 Grad des Jahres 2023 stecken könnte – und dass die Erderwärmung schneller zunehmen könnte als bislang angenommen.
»Neben dem Einsetzen von El Niño und der erwarteten langfristigen Erwärmung durch anthropogene Treibhausgase wurden bereits mehrere Faktoren diskutiert, die zu den überraschend hohen globalen Durchschnittstemperaturen seit 2023 beigetragen haben könnten«, sagt Helge Gößling, Hauptautor der Studie vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Das könnte etwa eine erhöhte Sonnenaktivität sein, Wasserdampf aus einem Vulkanausbruch oder eine abnehmende Zahl von Aerosolpartikeln in der Atmosphäre. Doch selbst wenn man alle diese Faktoren zusammennimmt, kommt man nur auf eine Erwärmung von 1,3 Grad. »Die Frage nach der ›Erklärungslücke‹ von 0,2 Grad Celsius im Jahr 2023 ist aktuell eine der prominentesten Fragen der Klimaforschung«, sagt Gößling.
Grundsätzlich ist die Erderwärmung ein einfaches Konzept: Man misst, wie viel Energie die Erde aus dem Weltall aufnimmt und wie viel sie wieder zurückstrahlt, also abgibt. Die Differenz ergibt die Erwärmung. In der Praxis sind diese Zahlen nicht ganz so einfach zu bestimmen. Die Studie stützt sich dazu auf Satellitendaten und Reanalysedaten aus mehreren Jahrzehnten Wetteraufzeichnung. Reanalysedaten kombinieren Beobachtungsdaten mit Modellsimulationen, um ein konsistentes, globales Bild vergangener Wetter- und Klimabedingungen zu liefern. Anhand dieser Grundlagen hat Gößling gemeinsam mit einem Team vom AWI und vom Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (ECMWF) analysiert, wie sich der globale Energiehaushalt der Erde und die Bewölkung in unterschiedlichen Höhen über dem Erdboden entwickelt haben. 2023 hat die Erde demnach netto eine Rekordmenge an Energie aufgenommen.
Wo sind all die hellen Flächen hin?
Das Team um Gößling stellte außerdem fest, dass 2023 auch das Jahr mit der niedrigsten planetaren Albedo seit 1940 war. Als Albedo bezeichnen Fachleute den Anteil der Sonneneinstrahlung, den die Erde ins All zurückstrahlt. Dass die Albedo insgesamt sinkt, ist lange bekannt. Gletscher und Meereis schwinden, und so verliert die Erde helle Flächen, die besonders stark reflektieren. »Die Analyse der Datensätze zeigt jedoch, dass der Rückgang der Oberflächenalbedo in den Polarregionen nur etwa 15 Prozent zum jüngsten Rückgang der planetaren Albedo beigetragen hat«, berichtet Gößling. Und noch etwas verraten die Daten mit Hilfe eines einfachen Energiebilanzmodells: Hätte sich die Albedo seit Dezember 2020 nicht weiter verringert, wäre das Jahr 2023 um 0,23 Grad kühler gewesen.
Die Studie identifiziert klar die Ursache der ungewöhnlich niedrigen Albedo: In den nördlichen mittleren Breiten und in den Tropen haben sich deutlich weniger niedrig hängende Wolken gebildet als früher. Wolken reflektieren Sonnenlicht und kühlen so die Erde. In hohen Luftschichten, nicht jedoch in niedrigen, halten Wolken aber auch die von der Erdoberfläche abgestrahlte Wärme zurück und wärmen so den Planeten. »Gibt es weniger niedrigere Wolken, verlieren wir nur den Kühleffekt, es wird also wärmer«, erklärt Gößling.
Auffällig ist für den Klimaphysiker zudem, »dass der östliche Nordatlantik, der einer der Haupttreiber für den jüngsten Anstieg der globalen Mitteltemperatur ist, nicht nur 2023 einen deutlichen Rückgang von niedrigen Wolken verzeichnete, sondern – wie fast der gesamte Atlantik – bereits in den letzten zehn Jahren.«
Eine intuitive Erklärung könnte in den strengeren Auflagen beim Schiffsdiesel liegen, die bewirkt haben, dass weniger Aerosolpartikel über den Meeren in die Luft gelangen. Als Kondensationskeime sind sie maßgeblich daran beteiligt, dass sich Wolken bilden. Für die Autorinnen und Autoren der Studie können jedoch weder dieser Effekt noch natürliche Schwankungen das Ausmaß erklären, um das sich die Albedo verringert hat. Gößling vermutet, dass es die Klimaerwärmung selbst ist, die die niedrigen Wolken verschwinden lässt. »Wenn hinter dem Albedo-Rückgang eine sich selbst verstärkende Rückkopplung zwischen Erderwärmung und Wolken steckt – wie auch einige Klimamodelle nahelegen –, müssen wir mit einer recht starken zukünftigen Erwärmung rechnen«, betont er. »Wir könnten einer globalen Klimaerwärmung von über 1,5 Grad Celsius bereits näher sein als bislang gedacht.«
Eine mögliche Wolken-Rückkopplung
»Die Studie liefert eine nützliche Quantifizierung verschiedener Faktoren, die aus beobachteten Trends abgeleitet und auf ein einfaches Energiebilanzmodell angewendet werden«, kommentiert Bjorn Stevens, Leiter der Abteilung für Atmosphäre im Erdsystem am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, der an der Arbeit nicht beteiligt war. Seine Arbeitsgruppe wies bereits 2021 in einer Publikation darauf hin, dass die planetare Albedo seit einigen Jahren schneller sinkt.
An Aerosole als Erklärung glaubt auch er nicht. »Dann gäbe es keinen so engen globalen Zusammenhang zwischen den langfristigen Trends in nördlicher und südlicher Hemisphäre«, begründet Stevens seine Einschätzung. Außerdem würde man dann weitere Spuren eines sauberen Himmels erwarten. »Wir wissen über den Atlantik, dass im letzten Jahr dort, wo es deutlich weniger Wolken gab, die Winde ungewöhnlich schwach waren«, berichtet Stevens. Das führe zu weniger Wolkenbildung und weniger Kühlung durch Feuchtigkeit, die von der Meeresoberfläche verdunstet. »Das macht veränderte atmosphärische Zirkulationsmuster zu einer wahrscheinlichen Ursache. Es lässt aber die Frage offen, ob es sich um einen langfristigen Effekt handelt oder ob verschiedene Formen der internen Variabilität unglücklich zusammengefallen sind.« Anders gesagt: Werden die Wolken dauerhaft weniger, weil das Klima wärmer wird, oder steckt dahinter ein außergewöhnlicher Ausreißer der natürlichen Schwankungen?
Eine Möglichkeit ist, dass die Klimasensitivität bislang unterschätzt wurde. Hinter diesem Begriff verbirgt sich, um wie viel Grad sich die Erde erwärmt, wenn sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre verdoppelt. Wäre die Klimasensitivität größer als angenommen, wären alle Prognosen zu optimistisch und höhere Temperaturen – etwa die im Paris-Abkommen definierte Grenze von 1,5 Grad Erderwärmung – würden früher erreicht. Für Stevens liegt das im Bereich des Möglichen: »Es ist Besorgnis erregend, dass der Trend zu weniger Wolken bislang fortbesteht.« Dann würde dieser Effekt nicht nur die Rekordwärme im Jahr 2023 erklären. Er würde sich auch selbst verstärken: Mehr Erwärmung führt zu weniger niedrigen Wolken, weniger niedrige Wolken zu noch mehr Erwärmung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.