Mentale Zeitreisen: Wie wir uns die Zukunft ausmalen
Stellen Sie sich vor, Sie hatten gerade einen furchtbaren Streit mit Ihrem Chef. Im Anschluss daran schießen Ihnen vermutlich einige Gedanken durch den Kopf: Wie verhalte ich mich, wenn ich ihn morgen wiedersehe? Was bedeutet der Streit für mich und meine Zukunft in der Firma? In Gedanken spielen Sie verschiedene Szenarien durch: Gibt der Chef Ihnen jetzt nur noch unangenehme Aufgaben? Droht sogar die Kündigung? Vermutlich überlegen Sie auch, mit welcher Wahrscheinlichkeit es zu solchen Konsequenzen kommt, und wie Sie darauf reagieren könnten. Vielleicht nehmen Sie sich vor, Ihren Standpunkt beim nächsten Mal sachlicher zu verteidigen – oder sich direkt einen neuen Job zu suchen.
Die Zukunft im Kopf durchzuspielen ist eine zentrale menschliche Fähigkeit, die unser gesamtes Handeln bestimmt. Selbst kleinste Entscheidungen treffen wir, indem wir im Geiste simulieren, was sein könnte. Etwa wenn wir morgens müde am Schreibtisch hocken und uns fragen, ob wir uns nach einer Tasse Kaffee wohl besser fühlen würden.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass wir im Alter von drei bis fünf Jahren beginnen, über die Zukunft nachzudenken. Kinder fangen in dieser Zeit an, über kommende Ereignisse zu sprechen. Bis die Fähigkeit bei ihnen vollständig ausgeprägt ist, dauert es jedoch noch etwas: Erst ab sieben bis zehn Jahren können sie sich detaillierte Szenarien vorstellen. Das zeigte eine Befragung von 167 Kindern, die amerikanische und chinesische Wissenschaftler 2014 veröffentlichten. Allerdings griffen die Sieben- bis Zehnjährigen verglichen mit Erwachsenen dabei stärker auf allgemeine Informationen als auf persönliche Erinnerungen und Erfahrungen zurück.
Beim Zukunftsdenken puzzeln wir Erinnerungen neu zusammen
Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass die neuronalen Strukturen und kognitiven Fähigkeiten, die für das episodische Erinnern wichtig sind, bei ihnen noch nicht vollständig ausgebildet sind. Dies vermutet Scott Cole von der School of Psychological & Social Sciences im britischen York. Das Gehirn schaut beim Pläneschmieden nämlich grundsätzlich erst einmal in die Vergangenheit und greift auf zwei verschiedene Arten von Gedächtnisinhalten zurück: zum einen auf unser semantisches Wissen, das allgemeine und abstrakte Fakten umfasst.
Malen wir uns zum Beispiel eine Reise nach Paris aus, könnte es etwa die Information beinhalten, dass dort der Eiffelturm steht. Zum anderen spielt unser episodisches Gedächtnis eine wichtige Rolle, in dem persönliche Erlebnisse abgespeichert werden. Selbst wer noch nie in Paris war, kann sich vorstellen, wie es ist, dort in ein Hotel einzuchecken. Zu guter Letzt weisen Studien darauf hin, dass auch das Arbeitsgedächtnis einen Beitrag zum Zukunftsdenken leistet: Hier werden Informationen, gleich welcher Art, vorübergehend abgelegt und zur Planung herangezogen.
Wie genau episodische und semantische Informationen zusammenspielen, wenn wir uns eine Vorstellung von der Zukunft machen, ist noch nicht klar. Es gibt aber Theorien: Der »Constructive Episodic Simulation Hypothesis« zufolge bauen wir persönliche Erinnerungen neu zusammen, um uns die Zukunft vorzustellen. Die »Semantic Scaffolding Hypothesis« geht davon aus, dass unser semantisches Wissen dabei als eine Art Gerüst fungiert, an dem entlang wir die episodischen Bauteile zusammenfügen.
Ein Blick in die Zukunft
Wenn Wissenschaftler das Zukunftsdenken untersuchen wollen, müssen sie sich in aller Regel auf die Aussagen ihrer Versuchspersonen verlassen. Häufig befragen sie ihre Probanden im Rahmen eines autobiografischen Interviews zu deren Gedanken. Dabei sollen diese sich vergangene oder zukünftige Erlebnisse vorstellen. Anschließend ordnen die Forscher die Details einer von zwei Kategorien zu: intern/episodisch und extern/semantisch.
Allerdings ist es nicht immer möglich, Vergangenheits- und Zukunftsdenken strikt voneinander zu trennen. Denn manche Erinnerungen lassen uns unweigerlich an die Zukunft denken und umgekehrt. Das erschwert mitunter auch die Interpretation von Studien, die mit Hilfe bildgebender Verfahren unter die Lupe nehmen wollen, was beim Pläneschmieden im Kopf passiert. Australische Wissenschaftler plädierten 2018 deshalb in einem Review dafür, durchdachtere Verhaltenstests zu entwickeln, die verschiedene Störfaktoren von Anfang an ausschließen.
Leidet eine der beiden Gedächtnisfunktionen, sind gedankliche Reisen in die Zukunft jedenfalls schwierig. Das zeigen etwa Studien mit Demenzpatienten, deren semantisches Gedächtnis beeinträchtigt ist, während sie sich an persönliche Erfahrungen noch gut erinnern können: Ihnen fällt es schwer, Erlebtes aus der Vergangenheit zu neuen Möglichkeiten zusammenzufügen. Dasselbe scheint für Menschen mit retrograder Amnesie zu gelten. So beschreiben italienische Forscher den Fall eines Patienten, der sich nach einem Schlaganfall weder an vergangene Erfahrungen erinnern noch sich seine Zukunft vorstellen konnte.
Wie sehr wir uns beim Ausmalen der Zukunft auf semantisches oder episodisches Wissen stützen, scheint sich allerdings auch so im Lauf des Lebens zu verändern. Scott Cole und seine Kollegen baten in einem Experiment jüngere und ältere Menschen, sich plausible zukünftige Ereignisse vorzustellen, die mit einem von 16 verschiedenen Wörtern zusammenhingen – darunter Begriffe wie »Zug«, »Geld«, »Berg« oder »Geschenk«. Die jüngeren Erwachsenen schmückten ihre Erzählungen eher mit episodischen Details aus und beschrieben etwa, wie sie sich in dieser Situation fühlen oder was sie denken würden. Ältere Personen legten den Fokus hingegen auf semantisches Faktenwissen. »Ein Grund dafür ist vermutlich die Anatomie des Gehirns«, erklärt Cole. »Im Alter schrumpfen Hirnregionen, die wichtig für episodische Erinnerungen sind.« Somit seien weniger persönliche Erfahrungen vorhanden, die man zu neuen Szenarien umorganisieren kann – ganz ähnlich wie bei Kindern.
Planen und Erinnern sind im Gehirn verknüpft
Vergangenheit und Zukunft sind auf neuronaler Ebene eng miteinander verflochten. Für das Erinnern wie auch für das Planen spielt ein Netzwerk eine Rolle, das aus dem Hippocampus und Teilen der Großhirnrinde im Scheitel-, Schläfen- und Frontallappen besteht. Es überlappt sich stark mit jenen des »Default Mode Network« (auch: Ruhezustandsnetzwerk), das immer dann aktiv wird, wenn wir gerade nichts zu tun haben oder Tagträumen nachhängen.
Von besonderer Bedeutung ist sowohl beim Erinnern als auch beim In-die-Zukunft-Schauen der Hippocampus. Ist er geschädigt, können Patienten in manchen Fällen keine neuen Erinnerungen bilden, also keine Gedächtnisinhalte vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis überführen. Doch der Abruf alter Gedächtnisinhalte kann mitunter ebenfalls leiden – so wie die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen. »Der Hippocampus stellt also auch verschiedene Erinnerungen zu neuen Szenarien zusammen«, schlussfolgert Roland Benoit, Leiter der Forschungsgruppe »Adaptives Gedächtnis« am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Weitere Regionen des beschriebenen Hirnnetzwerks sind für ganz bestimmte Aspekte beim Zukunftsdenken zuständig. Je nachdem, ob wir über Ereignisse, Menschen, Objekte oder Orte nachdenken, werden andere Bereiche des Netzwerks aktiv. Das legte eine bildgebende Studie US-amerikanischer Forscher nahe. Wie weit das Ereignis in der Zukunft liegt und inwiefern es uns selbst betrifft, macht ebenfalls einen Unterschied: Gedanken über eine Bundestagswahl in den kommenden Jahren aktivieren andere Areale als solche an die nächste Mahlzeit.
Entscheidungshilfe und Wutbremse
Ganz grundsätzlich bringt unsere Fähigkeit, die Zukunft im Geiste zu visualisieren, verschiedene Vorteile mit sich. So hilft uns eine mentale Zeitreise dabei, besonnenere Entscheidungen zu treffen. Dass das schon im Kleinen funktioniert, zeigt etwa die Studie eines taiwanesischen Forscherteams. Die Wissenschaftler stellten ihre Versuchspersonen vor die Wahl: Wollten sie lieber sofort bei einem Lottospiel 120 Dollar gewinnen oder ein Jahr später eine höhere Belohnung einstreichen? Wer sich vorher intensiv und bildlich ausmalen sollte, in einem Jahr ein besserer Mensch zu sein, war eher bereit, auf den größeren Betrag zu warten.
Zudem kann eine genaue, bildliche Planung dabei helfen, sich später besser an ein Vorhaben zu erinnern. Wer am Abend viele Dinge im Kopf hat, die er am nächsten Tag auf der Arbeit erledigen muss, vergisst leicht etwas. In so einem Fall kann es sinnvoll sein, bereits vorher in Ruhe mental die einzelnen Schritte durchzugehen: Wann mache ich was, wie und in welcher Reihenfolge? Vor allem ältere Menschen können von dieser Gedächtnisstütze profitieren.
Wenn psychische Störungen die Perspektive rauben
Wie sehen Menschen mit Depressionen oder Schizophrenie ihre Zukunft? Mit dieser Frage beschäftigen sich David Hallford und sein Team an der Deakin University in Melbourne, Australien. Sie fanden heraus, dass depressive Probanden weniger detailliert vorausblicken: Sie schmücken ihre simulierten Szenarien nicht so stark aus und nehmen sie dadurch als nicht so lebhaft wahr. Vor allem positive Dinge können sie sich nicht so gut vorstellen. Dafür denken sie offenbar weiter in die Zukunft – und mit eher negativen Erwartungen.
Menschen mit Schizophrenie fällt es ebenfalls schwerer, sich angenehme Ereignisse auszumalen. Wie Hallford gemeinsam mit Kollegen aus China, Großbritannien und Spanien feststellte, scheinen sich die Betroffenen weniger Gedanken um die Zukunft zu machen als gesunde Kontrollpersonen – ganz gleich, ob diese Gedanken positiv oder negativ sind. Zudem stützen sie sich offenbar vorrangig auf ihr semantisches Faktenwissen. Episodische, autobiografische Details nutzten sie weniger.
Wie genau Depression und Schizophrenie mit verändertem Zukunftsdenken zusammenhängen, wissen die Forscher noch nicht. Ebenso ist unklar, ob sich diese Tatsache für eine Behandlung nutzen lässt.
Gedanken an zukünftige Situationen machen es uns zudem leichter, unsere Gefühle zu regulieren. Wer sich schon vor einem Gespräch mit dem Chef darauf einstellt, dass dieser ihn unfair behandeln könnte, kann womöglich gelassener reagieren und einen großen Streit von vornherein verhindern. »Zukunftsdenken hilft uns, Ziele zu setzen und zu planen, und gibt uns die Motivation, unsere Pläne auch umzusetzen«, sagt Roland Benoit.
Allerdings fand er 2016 gemeinsam mit britischen Kollegen heraus, dass es manchmal sogar ratsam sein kann, Zukunftsgedanken zu unterdrücken. Die Forscher ließen Probanden verschiedene zukünftige Szenarien auflisten, die ihnen Sorge bereiteten. Wer sich diese anschließend im Geiste vorstellen sollte, reagierte deutlich ängstlicher als Teilnehmer, die Gedanken an die negativen Ereignisse bewusst vermeiden sollten. Allzu viel Grübelei über negative Ereignisse sollte man sich also nicht erlauben.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.