Lebensmittelknappheit: Wie ein lokaler Krieg eine globale Krise auslöst
Wegen der russischen Invasion in der Ukraine droht eine globale Nahrungsmittelkrise. Vor dem Krieg exportierten Russland und die Ukraine zusammen rund 100 Millionen Tonnen Weizen, etwa 14 Prozent des weltweiten Handelsvolumens. Hinzu kommen weitere Getreidesorten und andere Feldfrüchte wie Sonnenblumenkerne. Kriegsfolgen und Embargos schränken den Handel nun ein. In Europa merkt man das vor allem an steigenden Lebensmittelpreisen, andere Regionen könnte der Versorgungsschock ins Chaos stürzen.
Derzeit fehlt auf dem Weltmarkt nur der bislang unverkaufte Bruchteil der vergangenen Saison. Wegen des Krieges können jedoch große Flächen in der Ukraine nicht bestellt werden. »Das größere Problem kommt mit der nächsten Ernte, die eigentlich im Juni, Juli, August 2022 laufen müsste«, sagt Stephan von Cramon-Traubadel, Professor für Agrarpolitik an der Georg-August-Universität in Göttingen. Deshalb wird ein Teil der rund 65 Millionen Tonnen Getreide ausbleiben, die üblicherweise jährlich geerntet werden. »Es gibt Schätzungen, dass 35 Millionen Tonnen, 40 Millionen Tonnen fehlen könnten.« Das seien etwa sieben bis acht Prozent der weltweit gehandelten Getreidemenge.
»Es gibt Schätzungen, dass 35 Millionen Tonnen, 40 Millionen Tonnen fehlen könnten«Stephan von Cramon-Traubadel, Universität Göttingen
Zudem lasse sich ein Teil der verbleibenden Ernte wahrscheinlich nicht exportieren, sagte der gelernte Landwirt Georg von Nolcken in einem Webinar. »Mit den bestehenden Bahnverbindungen können lediglich acht Millionen Tonnen Getreide in die EU transportiert werden«, erklärt von Nolcken weiter, Vorstandsvorsitzender der Continental Farmers Group, die in der Westukraine 191 000 Hektar bewirtschaftet. Man könne die Kapazität vielleicht auf 15 Millionen Tonnen erweitern, »aber selbst dann würden neun oder zehn Millionen Tonnen im Land feststecken«. Würden die Häfen am Schwarzen Meer nicht geöffnet, »werden wir wahrscheinlich einen sehr ernsten Engpass sehen«.
Der Krieg ist nur eine Ursache der steigenden Lebensmittelpreise
Seiner Ansicht nach könnten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu beitragen, die Getreideexporte aus der Ukraine zu stabilisieren. Einerseits gelte es, dafür die Verkehrsverbindungen aus dem Land Richtung Westen auszubauen, um die Ausfuhr auch ohne ansteuerbare Häfen sicherzustellen. Andererseits müsste man die Landwirte in der Ukraine finanziell und mit Kraftstoff unterstützen. So ließe sich womöglich zumindest die Ernte des Jahres 2023 sicherstellen, sagt von Nolcken.
Doch solche Maßnahmen brauchen Zeit, während Lebensmittel bereits drastisch teurer werden. Bereits im ersten Monat des Kriegs stiegen die Weltmarktpreise für Weizen um mehr als 25 Prozent und für Gerste um mehr als 30 Prozent. Die globalen Getreidepreise könnten nach Ansicht von Fachleuten in absehbarer Zeit noch einmal um mindestens 50 Prozent steigen.
Eine solche Teuerung kann ganze Regionen destabilisieren. Vor dem Arabischen Frühling 2011 waren die Getreidepreise deutlich gestiegen, in sieben der neun größten Länder, die im Nahen Osten Getreide importieren, kam es in jenem Jahr zu blutigen Unruhen. Weil insbesondere der Nahe Osten und Teile Afrikas stark abhängig von Korn aus der Schwarzmeerregion sind, fürchten Fachleute dort eine vergleichbare Entwicklung.
Die Versorgungskrise könnte Staaten rascher ereilen, als viele meinen. Denn »die internationalen Getreidemärkte waren schon vor der Invasion belastet«, erklärt der Agrarökonom Stephan von Cramon-Traubadel. Während der Pandemie fehlten Schiffe und Container, und in vielen Häfen konnten Händler weniger Güter als üblich umschlagen. Zusätzlich ließen Dürren in manchen Regionen Ackerboden zu Staub werden, andernorts spülten Überschwemmungen die Ernten fort. In Ostafrika beispielsweise sind die vergangenen drei Regenzeiten ausgefallen, die Region ist so trocken wie seit dem Jahr 1981 nicht mehr. Derweil vernichteten extreme Regenfälle im Osten Australiens eine der besten Weizenernten der letzten Jahre.
Nahrungsmittel sind äußerst ungleich verteilt
»Die Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft jene Haushalte sehr hart, die bereits 50 Prozent ihres Einkommens oder mehr für Essen ausgeben«, sagt von Cramon-Traubadel weiter. Das sind weltweit mehrere hundert Millionen Menschen – in manchen Ländern wie Bangladesch oder Ghana betrifft es jeden durchschnittlichen Haushalt. Schon im November 2021 hatte das World Food Programme der Vereinten Nationen gewarnt, dass 45 Millionen Menschen in 43 Ländern kurz vor einer Hungersnot stünden. Die erwarteten Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt, warnen Fachleute, könnten beispielsweise Millionen Menschen in Afghanistan, Äthiopien oder Syrien verarmen oder gar verhungern lassen.
Trotz der Ausfälle in Russland und der Ukraine mangle es nicht an Nahrung, erklärt der Volkswirt Benjamin Bodirsky, Experte für Landnutzung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. »Wir haben schon in den vergangenen Jahren weltweit genug produziert, um eine viel größere Bevölkerung satt zu bekommen«, sagt er. Das Problem sei nicht die Menge, sondern die Verteilung. Die ärmsten Leute hätten schlicht nicht die Kaufkraft, um mit der Nachfrage an Futtermitteln und Biokraftstoff zu konkurrieren, sagt Bodirsky.
Die aktuelle Krise betrifft zuerst einmal jene Länder, die Lieferverträge mit der Ukraine hatten. Diese können nun nicht mehr bedient werden. Das betrifft Deutschland nicht direkt, denn die meisten Importe kommen aus anderen EU-Ländern, vor allem Tschechien. Langfristig aber kommt es zu einer Kettenreaktion, in die sich alle Getreide importierenden Länder reihen. Die Staaten, denen künftig Getreide fehlt, werden versuchen, sich aus anderen Quellen zu versorgen – die Nahrungsmittel werden wiederum anderswo fehlen.
Getreidelieferungen aus Russland, dem zweitgrößten Getreideexporteur der Welt, sind wegen der Krise ebenfalls unsicher geworden. Zwar dürfte die dort geerntete Gesamtmenge kaum sinken, doch Krieg und Embargo behindern Handel und Transport und sorgen für erhöhte Preise. Auch russische Transporte über das Schwarze Meer sind eingeschränkt, neue Transportrouten und Schiffe müssen gefunden werden, Versicherungen werden teurer.
Kurzfristige Nothilfe, langfristig Veränderung
Fachleute wie Bodirsky appellieren an die Industrieländer, die drohende Krise entschlossen zu bekämpfen – sowohl mit kurzfristigen Maßnahmen gegen den Hunger als auch mit einem widerstandsfähigen Nahrungssystem.
»Kurzfristig ist das Allerwichtigste, das UN World Food Programme zu stärken«, erklärt Bodirsky. Dem fehle schlicht das Geld, um alle Hungernden zu versorgen, und die Kosten machten alles nur noch schlimmer. Das WFP ist die größte humanitäre Organisation der Welt und liefert unter anderem Nahrungsmittel in Regionen, in denen die Lebensmittelversorgung kritisch ist, derzeit zum Beispiel nach Afghanistan, in die Sahelzone oder nach Haiti.
Zudem sei es entscheidend, das System rasch und grundlegend umzustellen. »Die Krise wird im September nicht vorbei sein, sondern uns auch die nächsten Jahre beschäftigen«, sagt Bodirsky. Entsprechend wichtig ist es, langfristig vorzusorgen. Um die Ernährung der Weltbevölkerung zu sichern, sollte man demnach dafür sorgen, dass Menschen weniger Lebensmittel in den Müll werfen, weniger Fleisch essen und weniger Bioethanol nutzen, heißt es in einem offenen Brief an die Bundesregierung; Bodirsky ist einer der Autoren.
Allein die Menge des in der EU verschwendeten Weizens entspreche der Hälfte des ukrainischen Exports, wie ein Team von Fachleuten in einem Aufruf vorgerechnet hat, den inzwischen mehr als 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschrieben haben. Doch selbst wenn: Fachleute und Organisationen versuchen seit Jahren, den Anteil der verschwendeten Nahrung zu verringern – bisher ohne größere Erfolge.
Fleisch und Biodiesel treiben die Preise
Der weltweit wachsende Bedarf an Fleisch wiederum hat die Preise für Lebensmittel in den vergangenen Jahren ebenfalls in die Höhe getrieben, weil für die Tiermast große Mengen Futtermittel nötig sind. Zwar fressen Tiere unter anderem für den Menschen nicht verwertbare Pflanzen, für gute Fleischerträge muss man jedoch Getreideschrot zufüttern. »In Deutschland wird ungefähr die Hälfte der gesamten Ackerflächen für den Anbau von Futtermitteln verwendet«, erklärt Bodirsky. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.
Und dann ist da noch der Kraftstoff. »Wir verwenden weltweit laut UFOP-Bericht von 2020 global gesehen neun Prozent der Erntemenge aus der Pflanzenproduktion für Bioethanol und fünf Prozent für Biodiesel«, sagt Sebastian Lakner, Professor für Agrarökonomie an der Universität Rostock. Der Gesetzgeber könne die Beimischung von Biokraftstoff einfach abschaffen und so erhebliche Mengen an Getreide und Mais für den Lebensmittelmarkt frei geben.
Die Politiker und Politikerinnen der EU haben derweil Brachflächen für den Anbau von Futter- und Lebensmitteln frei gegeben. Unklar ist allerdings, wie sinnvoll das ist. »Das sind die schlechtesten Standorte«, sagt Lakner, ebenfalls ein Unterzeichner des offenen Briefs. Man könne empirisch zeigen, dass Brachflächen vor allem in Regionen zu finden sind, die insgesamt ein niedriges Ertragspotenzial haben. Zusätzlich hätten diese Brachflächen wichtige ökologische Funktionen. »Es kann sein, dass wir diese Brache nutzen müssen, aber dann wäre ich dafür, genau zu überlegen: Wie machen wir das?«
Die EU scheint sich derzeit vor allem darauf zu konzentrieren, die Landwirtschaft zu intensivieren und so die Produktion zu steigern. Manche Fachleute sehen das kritisch. Bei dem Versuch, die Nahrungslücke für die kommenden Monate zu füllen, könnten wichtige Regeln für Umwelt, Klima und Artenschutz wegfallen oder aufgeweicht werden, fürchten sie. Verschoben ist zum Beispiel eine geplante neue Pestizidverordnung, und die eigentlich als ökologische Vorrangfläche vorgeschriebenen Brachen verlieren derzeit ihren geschützten Status.
Mehr Flächen brauchen auch mehr Dünger
Die Anbauflächen in Europa zu vergrößern hätte außerdem den Nachteil, das zweite Problem hinter der aktuellen Lebensmittelkrise zu verschärfen. Neben den Lebensmitteln selbst werden nämlich zudem Düngemittel knapp und teuer. Ein Grund dafür sind steigende Energiekosten; vor allem Stickstoffdünger ist teurer geworden, dessen Herstellung nach Schätzungen zwischen ein und zwei Prozent des weltweiten Energieverbrauchs erfordert. Schon in der zweiten Jahreshälfte 2021 hatten hohe Preise für Erdgas Hersteller gezwungen, die Produktion des Grundstoffs Ammoniak einzustellen.
»Die Krise wird im September nicht vorbei sein, sondern uns auch die nächsten Jahre beschäftigen«Benjamin Bodirsky, PIK
Die Energiekosten verteuern auch die in Bergwerken gewonnenen Phosphat- und Kalidünger, ebenso die während der Pandemie gestiegenen Transportkosten. Wegen Corona ging außerdem das Interesse an Dünger zuerst drastisch zurück, die Nachfrage stieg seit Mitte 2021 aber fast ohne Vorwarnung so stark an, dass Hersteller und Lieferanten nicht hinterherkamen.
Zu den pandemiebedingten Schwierigkeiten kommt nun der Krieg. Und der betrifft die Düngermärkte stark. Ein beträchtlicher Anteil der globalen Düngemittelmenge stammt aus Russland, das etwa zehn Prozent der global verbrauchten Mengen von Stickstoff- und Phosphatdünger herstellt, und aus Belarus, das zusammen mit Russland etwa ein Drittel des Kaliumdüngers liefert. Die russische Regierung hat bereits am 10. März 2022 die vom Embargo nicht betroffenen Düngerlieferungen in den Westen gestoppt.
Die Kombination aus Pandemie und Krieg hat die Preise für Dünger nun auf das drei- bis Vierfache des Niveaus von 2019 steigen lassen. Während sich das in den Industrieländern vor allem auf die Preise für Lebensmittel auswirkt, sind die Folgen besonders in ärmeren Ländern schwerwiegender. Dort nämlich können sich Bauern den für ihre Flächen nötigen Dünger nicht mehr leisten und ernten weniger Nahrungsmittel, die sie verkaufen können. Dadurch haben die Bauern weniger Geld, die Lebensmittel im Land werden knapper, und viele Staaten müssen mehr Geld für Importe zahlen.
Die Regierungen der europäischen Länder könnten einen wichtigen Beitrag leisten, um die schlimmsten Folgen abzuwenden. So fordern manche Menschen zwar, die Importe von Düngemitteln zu subventionieren. Das aber würde gerade in jenen Teilen der Welt, die ohnehin von Nahrungsmangel bedroht sind, den Zugang zu Dünger erschweren. Es sei sehr wichtig, dass Regierungen weltweit der Versuchung widerstehen, egoistische Maßnahmen wie Verbote von Getreide-Exporten zu beschließen, sagt deswegen Agrarpolitiker Stephan von Cramon-Traubadel.
Stattdessen müssten Deutschland und die EU eine groß angelegte und international koordinierte Lebensmittelhilfe vorbereiten und mitfinanzieren, sagt er. Mittel- und langfristig dagegen sollten Staaten gemeinsam daran arbeiten, die Landwirtschaft produktiver sowie nachhaltiger zu gestalten.
Denn auch wenn Russlands Truppen in der Ukraine die Schlagzeilen beherrschen, findet der Klimawandel weiterhin statt. Damit werden Dürren und Überschwemmungen häufiger, die bereits in vielen Teilen der Welt die Ernten bedrohen. »Wir müssen Wege finden, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, die gleichzeitig klima- und umweltfreundlich sind«, sagt von Cramon-Traubadel. Das gilt nicht nur in Zeiten, in denen in Europa Krieg herrscht.
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