Mangelernährung in Kliniken: »55 000 Todesfälle pro Jahr wären vermeidbar«
Bereits 2006 hatte ein Forschungsteam um den Mediziner Matthias Pirlich nachgewiesen, dass jeder vierte Mensch, der eine stationäre klinische Behandlung bekommt, mangelhaft ernährt ist. Die Studie namens »German Hospital Malnutrition Study« sorgte damals für viel Aufsehen. Inzwischen ist vielfach belegt, dass Mangelernährung an Kliniken gravierende Gesundheitsprobleme nach sich zieht – bis hin zu vermeidbaren Todesfällen. Erwiesen ist auch: Ernährungstherapeutische Maßnahmen könnten vielen Betroffenen helfen.
Pirlich ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). Im Interview spricht er darüber, wie groß das Problem ist und warum es bis heute kaum gelingt, gegenzusteuern.
Herr Professor Pirlich, in einem wohlhabenden Land wie Deutschland sind gesunde Lebensmittel ausreichend verfügbar. Warum stellt Mangelernährung dann hier zu Lande ein Problem dar?
Zunächst sollten wir klären, was damit überhaupt gemeint ist. Es gibt verschiedene Formen der Mangelernährung. In Regionen, in denen Armut und Krieg herrschen, fehlt es an Nahrungsmitteln. Das ist in Deutschland weniger der Fall; hier ist Mangelernährung vor allem eine Folge von Krankheiten. Diese verhindern beispielsweise, dass wir genügend Nährstoffe aus unseren Lebensmitteln ziehen. Krankheiten können den Energiebedarf erhöhen, so dass wir ihn nicht mehr hinreichend über die Nahrung abdecken, oder sie können den Appetit reduzieren, so dass die Betroffenen nicht mehr genug essen. Wer schon einmal auf Grund einer schweren Erkrankung stark abgenommen hat, kennt das wahrscheinlich. Normalerweise sind solche Zustände nach ein paar Tagen wieder vorbei. Bei einer chronischen Erkrankung aber entsteht ein Problem. Oft ist der Gewichtsverlust sogar das erste Symptom, das bemerkt wird.
Gilt das auch für Übergewichtige? Immerhin bringt in Deutschland mehr als jeder zweite Erwachsene zu viel auf die Waage.
Ja. Stellen Sie sich einen Menschen mit 120 Kilogramm Körpergewicht vor. Wenn er chronisch krank wird und ein paar Kilo verliert, ist er immer noch übergewichtig. Seine Gewichtsabnahme geht aber vielleicht mit einem Eiweißmangel einher, wodurch sich die Muskulatur zurückbildet. Oder es fehlt an Vitaminen und Mineralstoffen, die der Körper braucht. Das Problem der Mangelernährung in Deutschland ist, dass man sie den Betroffenen häufig nicht ansieht. Trotzdem haben sie eine deutlich schlechtere gesundheitliche Prognose als Patientinnen und Patienten mit derselben Krankheit, die nicht mangelernährt sind.
Sie haben schon vor zwei Jahrzehnten nachgewiesen, dass etwa jeder vierte stationär behandelte Klinikpatient mangelernährt ist. Was hat sich seither getan?
Wenig. Inzwischen belegen Studien aus vielen Ländern rund um den Globus, dass im Schnitt 20 bis 30 Prozent der Klinikpatienten mangelernährt sind.
Es hat sich nichts verbessert?
Nein, aber das ist ein Stück weit nachvollziehbar. Eine Mangelernährung entsteht häufig infolge von lang anhaltenden Krankheiten, die heute ebenso auftreten wie damals. Im ambulanten Bereich, etwa in Arztpraxen, wird sie viel seltener bemerkt als in Kliniken, weshalb vielen das Problem nicht so bewusst ist.
Tragen schlechte Ernährungsgewohnheiten zu dem Problem bei, oder die Qualität des Essens in Schulen beziehungsweise Pflegeheimen?
Das ist tatsächlich der Fall. Eine bessere Schulverpflegung etwa würde das Risiko für viele Krankheiten verringern, etwa für Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie würde auch präventiv gegen Mangelernährung wirken, das ließe sich aber erst nach vielen Jahren erkennen. Bis heute ist es so, dass ein Mangel an Nahrungsstoffen oft erst in der Klinik bemerkt wird – falls überhaupt. Andererseits hat sich in den zurückliegenden 20 Jahren deutlich gezeigt: Wenn wir den Ernährungszustand der Patienten und Patientinnen behandeln, können wir ihn auch verbessern und damit die medizinische Prognose insgesamt. Das macht einen erheblichen Unterschied. Der Einfluss der Ernährung ist größer als der vieler Medikamente.
Was heißt das konkret?
Mangelernährte Personen leiden unter schwereren Krankheitsverläufen und mehr gesundheitlichen Komplikationen. Es kommt bei ihnen nachweislich zu mehr Todesfällen als unter normal ernährten Patienten. Wir wissen aus vielen Studien, dass ein systematisches Ernährungsmanagement in Kliniken dazu führen kann, die Sterblichkeit bei internistischen Patienten um fast 30 Prozent zu senken. Bei Krebspatienten ist der Effekt sogar noch größer. Anhand der Erkenntnisse aus zahlreichen Untersuchungen schätzen wir, dass jedes Jahr in Deutschland mehr als 200 000 mangelernährte Klinikpatientinnen und -patienten sterben. Natürlich lassen sich nicht alle dieser Todesfälle verhindern – schätzungsweise 55 000 pro Jahr wären aber vermeidbar.
Hierfür fordern Sie ein »systematisches Ernährungsmanagement« in den Kliniken. Was heißt das?
Der erste Schritt wäre, bei der stationären Aufnahme den Ernährungszustand aller Patienten und Patientinnen zu prüfen. Ein solches Screening legt offen, bei wem ein Problem besteht. Anschließend müssen sich Ernährungsfachkräfte um diese Menschen kümmern, idealerweise ein interdisziplinäres Team aus Diätassistenten, geschulten Pflegekräften und Ernährungsmedizinern. Sie müssen versuchen, die Ursachen für etwaigen Gewichtsverlust oder Appetitlosigkeit zu ermitteln. Manchmal ist das ganz simpel. Bei älteren Menschen etwa kann es einfach daran liegen, dass eine Zahnprothese schlecht sitzt. Bei vielen anderen muss der Speiseplan individuell an persönliche Vorlieben und Verträglichkeiten angepasst werden. Indem man das Essen mit Kalorien oder Eiweiß anreichert und Zwischenmahlzeiten oder Trinknahrung zur Verfügung stellt, lässt sich die Nährstoffversorgung häufig rasch verbessern.
Vier Euro täglich für die Verpflegung
Für Krankenhäuser ist Essen ein Kostenfaktor. Manche Klinik gibt heute weniger als vier Euro pro Tag und Patient für Lebensmittel aus. Wird hier am falschen Ende gespart?
Absolut, da sind sich alle Fachleute sicher. Mit vier Euro ist es kaum möglich, Zwischenmahlzeiten anzubieten oder das Essen auf individuelle Wünsche abzustimmen. Es ist zudem eine Personalfrage. Manche Stationen sind derart knapp besetzt, dass sie froh sind, wenn sie alle Medikamente ausgeteilt bekommen. Die Ernährung ist das Letzte, worauf sie noch achten können. Oft räumen Hilfskräfte die Tabletts mit fast noch vollen Tellern aus den Zimmern. In vielen Kliniken wäre es möglich, dass ein Patient wochenlang fast nichts isst, ohne dass das auffällt.
»In vielen Kliniken wäre es möglich, dass ein Patient wochenlang fast nichts isst, ohne dass das auffällt«
Die meisten Menschen sind nur wenige Tage auf Station. In dieser kurzen Zeit kann das Krankenhauspersonal wahrscheinlich kaum kompensieren, wenn sich Patienten vorher jahrelang schlecht ernährt haben, oder?
Einerseits ja. Andererseits haben Studien klar belegt, dass Ernährungstherapie hocheffektiv wirkt und schon nach sehr kurzer Zeit die medizinische Prognose verbessern kann. Statistisch gilt: Wenn ich 36 Patienten über wenige Tage hinweg ernährungstherapeutisch behandle, habe ich bereits ein Leben gerettet. Um die gleiche Wirkung mit Blutdruckmitteln oder Statinen zu erzielen, muss man viele hundert Erkrankte über mehrere Jahre hinweg therapieren. Bei Blutdruckmitteln oder Statinen gilt es als selbstverständlich, solch einen kostspieligen Aufwand zu betreiben – bei der Ernährung bisher nicht. Übrigens bleibt jede zehnte stationär behandelte Person länger als vier Wochen in der Klinik. Ein schlechtes, unschmackhaftes Essen mit mangelndem Nährstoffgehalt wirkt sich über so einen langen Zeitraum hinweg sehr ungünstig aus.
Können Sie nachvollziehen, dass viele es unterschätzen, wie bedeutsam die Ernährung im klinischen Umfeld ist?
Ja, aber schon eine kurze Überlegung verdeutlicht das Problem. Vom Hungerstreik der IRA in Nordirland 1981 wissen wir: Wenn Menschen nichts essen, sterben die ersten nach 46 Tagen. Im Schnitt halten sie ungefähr 60 Tage durch, und da spreche ich von jungen, gesunden Personen. Nun stellen Sie sich einen älteren, kranken Menschen vor, der zehn Tage mit einer Lungenentzündung in der Klinik liegt und in dieser Zeit fast nichts zu sich nimmt. Der baut bereits in dieser Zeit eineinhalb Kilo Muskelmasse ab oder mehr. Dass das für den Krankheitsverlauf relevant ist, liegt doch auf der Hand. Und wir wissen, dass ein erheblicher Anteil der stationär Behandelten in der Klinik nicht bedarfsgerecht ernährt wird.
Die von Ihnen vorhin beschriebenen interdisziplinären Ernährungsteams bringen große Vorteile mit sich, das ist schon lange bekannt. Dennoch gibt es sie an den meisten Krankenhäusern nicht. Selbst eine Vorzeigeeinrichtung wie die Berliner Charité hat erst vor Kurzem mit dem Aufbau eines solchen Teams begonnen. Und ein systematisches Ernährungsmanagement, wie Sie es fordern, liegt in weiter Ferne. Scheitert es an den Kosten?
Es gab an der Charité schon vor 20 Jahren Ernährungsteams, allerdings nur in einzelnen Bereichen. Das Thema hat keine große Priorität, erst recht nicht angesichts der ökonomischen Zwänge. Ein großes Problem liegt darin, dass der Aufwand für eine Ernährungstherapie nicht vergütet wird. Die Diagnose Mangelernährung führt nicht dazu, dass eine Klinik mehr Geld für die Behandlung bekommt. Dabei würde das langfristig sogar helfen, Kosten zu senken: Die Patientinnen und Patienten haben weniger Komplikationen, bleiben kürzer auf der Intensivstation und können früher wieder entlassen werden. Und die Zahl ungeplanter Wiederaufnahmen innerhalb von sechs Monaten reduziert sich um ein Viertel. All das macht es möglich, pro Behandlungsfall rund 2600 Euro einzusparen. Insgesamt könnte das deutsche Gesundheitswesen durch Ernährungstherapien in Kliniken etwa neun Milliarden Euro jährlich einsparen. Eine einzelne Klinik aber stellt dafür kein Personal ein, solange sie es nicht vergütet bekommt.
Überfällige Maßnahmen
Im Zuge der Anfang 2024 beschlossenen Ernährungsstrategie der Bundesregierung wollte Minister Cem Özdemir ein verpflichtendes Screening auf Mangelernährung in den Kliniken vorschreiben, ebenso Standards für besseres Essen und mehr Personal für Ernährungsangelegenheiten. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Welche Rolle spielte Gesundheitsminister Karl Lauterbach dabei?
Das kann ich nicht sagen. Wir wissen nur, dass sich das Gesundheitsministerium dieses Themas derzeit nicht annehmen möchte. Fairerweise will ich erwähnen, dass gerade eine Initiative mit Pilotcharakter läuft: Krankenhäuser können seit Kurzem mit den Kassen Qualitätsverträge abschließen, die ein besseres Ernährungsmanagement vorsehen …
… was jedoch freiwillig bleibt und damit nur einem Bruchteil der Patienten zugutekommt.
Ja, das ist nicht das, was angesichts der wissenschaftlichen Evidenz geboten scheint und was sich all die Fachgesellschaften vorstellen, die von Herrn Lauterbach Maßnahmen für eine bessere Ernährung in Kliniken gefordert haben.
Aus internen Regierungsunterlagen zur Ernährungsstrategie geht hervor, dass das Gesundheitsministerium politische Vorgaben für die Kliniken grundsätzlich abgelehnt hat, um nicht in die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens einzugreifen.
Dieses Argument ist unzutreffend. Es fehlt nicht an überzeugten Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften, die gerne Ernährungsteams hätten. Es scheitert an denjenigen, die die Macht im Krankenhaus haben. Und das sind die Verwaltungsleitungen. Wenn ich denen erzähle, dass wir pro 60 Betten eine Ernährungsfachkraft brauchen, antworten sie: Wir haben bisher gar keine und kommen gut zurecht. Wir scheitern am Spardruck. Etwas ändern wird sich nur mit politischem Willen. Ohne strenge Vorgaben hätten die Kliniken bis heute keine Hygienebeauftragten.
»Das Problem lässt sich nicht an einer Einzelperson festmachen. Verantwortlich ist die Politik«
Diese Erkenntnisse sind schon viele Jahre alt, dennoch bleiben Gesetzesinitiativen aus. Wer ist verantwortlich?
Das Problem lässt sich nicht an einer Einzelperson festmachen. Verantwortlich ist die Politik. Sie hat die Rahmenbedingungen gesetzt, die zur Misere in den Kliniken geführt hat. Wir haben ja nicht zu wenig Geld im System, es ist nur nicht gut verteilt. Es wäre absolut vernünftig, die Klinikreform zu nutzen, um die Versorgung von mangelernährten Menschen zu verbessern. Eine bessere Ernährungsfürsorge in Kliniken ist nicht nur medizinisch und ökonomisch sinnvoll. Sie ist vor allem ethisch geboten.
Verborgener Hunger
Was ist Mangelernährung?
Der menschliche Organismus benötigt eine Reihe von Nährstoffen: Proteine, Fette und Kohlenhydrate sowie Vitamine, Mineralstoffe und bestimmte Aminosäuren. Fehlt es dauerhaft an einer ausreichenden Menge einer oder mehrerer Komponenten davon, liegt eine Mangelernährung vor. Sie entsteht in Deutschland häufig infolge von Krankheiten. Chronische oder schwer verlaufende Erkrankungen können den Appetit reduzieren oder verhindern, dass der Magen-Darm-Trakt die Nahrung hinreichend verwertet.
Eine unausgewogene Diät kann ebenfalls Mangelzustände verursachen, etwa wenn man zu wenig Proteine, Vitamine oder Mineralstoffe aufnimmt. Nicht immer fehlt es dabei an Kalorien, weshalb Mangelernährung auch Übergewichtige betreffen kann. Weil man diesen das Defizit oft nicht ansieht, sprechen Fachleute vom »verborgenen Hunger«.
Wie viele Menschen sind betroffen?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) ging im Jahr 2020 von mehr als 1,5 Millionen Mangelernährten in Deutschland aus. Betroffen sind vor allem Bewohner von Pflegeheimen, Ältere und stationär behandelte Klinikpatienten. Exakte Zahlen gibt es allerdings nicht, da Mangelernährung erstens unterschiedlich definiert wird und zweitens häufig unbemerkt bleibt.
Welche Folgen hat Mangelernährung?
Bei Kindern kann sie Entwicklungsstörungen verursachen. Bei Erwachsenen und Älteren führt sie häufig zu Schwäche, erhöhtem Sturzrisiko, eingeschränkter Immunfunktion, schlechteren Heilungsverläufen und erhöhter Sterblichkeit. Die DGEM geht davon aus, dass in Deutschland jedes Jahr mehr als 200 000 mangelernährte Klinikpatientinnen und -patienten sterben.
Welche Gegenmaßnahmen gibt es?
Mit Hilfe von Ernährungstherapien könnten Kliniken vielen Betroffenen helfen. Dazu wäre es nötig, sie bei der stationären Aufnahme auf Mangelernährung zu untersuchen und falls erforderlich von Fachkräften betreuen zu lassen. Der so genannte EFFORT-Versuch, dessen Ergebnisse 2018 veröffentlicht wurden, hat gezeigt, wie viel sich damit schon in kurzer Zeit erreichen lässt. Eine zehntätige Ernährungstherapie senkte selbst bei schweren Erkrankungen wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Komplikationen das Risiko, binnen 30 Tagen zu sterben, um 35 Prozent. Weitere Studien und Überblicksarbeiten haben ähnliche Ergebnisse geliefert. Experten sind überzeugt, dass sich jährlich etwa 55 000 Todesfälle vermeiden ließen, die durch Mangelernährung bedingt werden.
Inwiefern sind Kliniken davon betroffen?
Verpflegung ist für Krankenhäuser ein Kostenfaktor. Viele Einrichtungen geben weniger als fünf Euro pro Tag und Patient für Lebensmittel aus. Es ist zweifelhaft, ob sich damit ein gesunder und schmackhafter Speiseplan finanzieren lässt. Vor allem aber fehlt es an Fachkräften wie Diätassistenten. Nicht einmal jede zehnte Klinik hält interdisziplinäre Ernährungsteams vor, wie Erhebungen vermuten lassen. 2023 appellierten 24 medizinische Fachgesellschaften an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), dieses Problem im Zuge seiner Krankenhausreform anzugehen, etwa durch verpflichtende Vorgaben an Krankenhäuser.
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