Massengräber in Kanada : »Es ist ein kultureller Genozid«
In den vergangenen Wochen haben indigene Gemeinschaften in Kanada den Fund von Überresten von mehr als 1000 Kinderleichen aus indigenen Familien in der Nähe ehemaliger Umerziehungsheime gemeldet. Die unmarkierten Gräber erinnern an die Zeit, in denen Kinder ihren Familien entrissen und zur Missionierung in katholische Schulen eingewiesen wurden. Der Historiker Manuel Menrath arbeitet seit 2009 am Historischen Seminar der Universität Luzern. Die Forschung über die Missionierung der Indigenen Nordamerikas gehört zu seinen Schwerpunkten. Im Interview erklärt er, warum die Gräueltaten erst so spät bekannt wurden, was damals an den Schulen genau geschah und welche Folgen die erzwungene Missionierung bis heute hat.
»RiffReporter«: Wie sehr waren Sie von den Funden überrascht?
Manuel Menrath: Überrascht war ich vom großen Ausmaß in ganz Kanada. Erstaunt wiederum aber nicht, da mir Indigene im Norden Ontarios immer wieder von Verwandten berichtet haben, die Beamte in eine hunderte Kilometer weit entfernte Residential School verschleppt hatten und die spurlos verschwunden seien. Jetzt ist klar: Es handelte sich nicht um Einzelfälle; vielmehr wurden zahlreiche Kinder, die in den Schulen starben, nicht zu ihren Eltern in den Reservaten zurücküberführt.
Sie erforschen seit Längerem die katholische Missionierung Indigener in Nordamerika. Dass an Schulen so viele Kinder vorzeitig gestorben sind – ist das aus Ihrer Sicht Ausnahme oder System?
Es sind tausende Kinder in diesen Schulen gestorben. Gewiss gab es auch viele Todesfälle in eurokanadischen Internaten, also in Bildungseinrichtungen für weiße Kinder. Dennoch zeigt der Vergleich, dass die Sterberate in den Schulen für indigene Kinder um ein Vielfaches höher lag.
Woran lag das?
Das hat mehrere Gründe. Erstens waren die Kinder auf Grund unzureichenden Essens oft unterernährt und daher geschwächt. Viele waren auch gegenüber europäischen Viren nicht immun, weshalb diese sich dann in den engen Schlafsälen rasch ausbreiten konnten. Ein großes Problem war die unter indigenen Kindern epidemisch wütende Tuberkulose. Einige Schülerinnen und Schüler hatten Unfälle oder kamen bei der Flucht aus dem Internat ums Leben, weil sie bei Temperaturen bis minus 40 Grad Celsius versuchten, in ihre weit entfernten Dörfer zu gelangen.
»Indigene Kultur und Spiritualität galten den Missionaren als ›primitiv‹ und ›Teufelswerk‹«
Manuel Menrath, Historiker
Wie war es möglich, dass es an den katholischen Schulen so brutal zugegangen ist? Welche Haltung gegenüber Indigenen steckte dahinter?
Einerseits wollte man mit der so genannten »schwarzen Pädagogik« die Kinder disziplinieren und sie gottesfürchtig machen. Man dachte, ihre Seelen seien verloren, wenn sie keine aufrechten Christen würden. Bestrafungen im Diesseits sollten vor noch schlimmeren Qualen im Fegefeuer bewahren. Die indigene Kultur und Spiritualität galten den Missionaren als »primitiv« und »Teufelswerk«. Wenn die Kinder sich in den Schulen nicht dankbar zeigten, dass man ihnen den rechten Glauben vermittelte, hatten die Missionare kein Verständnis und bestraften ihre Schützlinge oft heftig.
Welches Ausmaß hatten diese Praktiken in Nordamerika und anderswo? Wie viele Kinder haben solche Schulen insgesamt durchlaufen?
Es dehnte sich über ganz Nordamerika aus. Selbst Inuit aus Alaska wurden tausende Kilometer in Schulen zum Beispiel im US-Bundesstaat Pennsylvania verschleppt. In Kanada wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1996 etwa 150 000 Kinder in kirchlichen Internatsschulen »zivilisiert«, wie man es nannte. Heute leben noch über 80 000 ehemalige indigene Schulkinder, die man in Kanada »survivors« nennt. In den USA waren es noch viel mehr. Allein 1973 lebten geschätzt 60 000 indianische Kinder in einer solchen Internatsschule.
Den Kindern war es »verboten, sich vom Schulgelände zu entfernen, ihre Sprache zu sprechen oder ihre Spiritualität auszuleben«
Wie muss man sich den Schulalltag für indigene Kinder in der Hochphase der Missionierung vorstellen? Was war ihnen verboten, wie war das Leben dort?
Der Alltag war geprägt von einem klar strukturierten Ablauf. Morgens um 5.30 Uhr Messe, dann Frühstück, Unterricht, Mittagessen, Unterricht, Abendessen und Abendgebet. Die Kinder mussten auch viele körperliche Arbeiten verrichten und mithelfen, damit sich die Schulen finanzieren konnten. Es war ihnen verboten, sich vom Schulgelände zu entfernen, ihre Sprache zu sprechen oder ihre Spiritualität auszuleben.
Haben Kinder die Schulen auch freiwillig besucht?
Nein! In wenigen Ausnahmefällen war dies vielleicht so, wenn Kinder ihre Eltern verloren hatten.
Was wurde indigenen Familien über den Verbleib ihrer Kinder gesagt?
Man hat ihnen gesagt, dass sie in guten Händen seien. Wenn ein Kind gestorben ist, hat man meist nur eine knappe Information zugestellt. Die genaue Todesursache wurden den Eltern ebenfalls nicht mitgeteilt.
»Kinderleichen kann man nicht einfach so ignorieren«
Wie kommt es, dass das Thema erst heute, Jahrzehnte nach Schließung der Schulen, aufkommt?
Die indigene Gesellschaft wurde stummgeschaltet. In den Internaten wurde den Kindern mit der Hölle gedroht, wenn sie etwas Böses über ihre Erzieher sagen würden. Viele fanden sich als Erwachsene nicht mehr zurecht, da ihre Identität gebrochen war. Sie ertränkten ihren Schmerz in Alkohol oder griffen zu Drogen. Die Menschen wollten vergessen, sie hatten auch Angst, dass niemand ihnen Glauben schenken würde, wenn sie über die Grausamkeiten berichteten, die ihnen widerfuhren.
Seit wann kommen die Gräueltaten ans Licht?
In Kanada wurde das Schweigen erst in den 1990er Jahren gebrochen, als erste indianische Würdenträger öffentlich über die Schrecken berichteten. Daraufhin meldeten sich immer mehr ehemalige Internatskinder zu Wort. 2008 folgte die Entschuldigung von Premierminister Stephen Harper. Eine Wahrheitskommission wurde eingesetzt, die 2015 ihren erschütternden Bericht veröffentlichte. Doch erst die zahlreichen unmarkierten Kindergräber rüttelten die kanadische Gesellschaft heftig auf. Denn Kinderleichen kann man nicht einfach so ignorieren.
Welche Folgen hat die erzwungene Missionierung bis heute?
Die indigene Gesellschaft wird noch Jahre unter den traumatischen Erlebnissen in den Internatsschulen zu leiden haben. Die Traumata sind generationsübergreifend.
Der Vorsitzende einer kanadischen Kommission rückte den Umgang der Kirche mit Indigenen in die Nähe von kulturellem Genozid. Wie beurteilen Sie diese Diagnose?
Es ist nicht nur in der Nähe eines kulturellen Genozids. Es ist ein kultureller Genozid, der auch viele Menschenleben forderte.
»Viele holt die Vergangenheit ein, und sie werden depressiv«
Gibt es von Seiten der Kirche überhaupt eine kritische Aufbereitung dieser dunklen Vergangenheit oder Zeichen von Reue?
Das Thema wurde zur Kenntnis genommen, und kirchliche Würdenträger haben auch ihre Betroffenheit ausgedrückt. Doch eine vollständige Aufarbeitung seitens der Kirchen wurde nicht angegangen.
In Deutschland steht die Kirche wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Fokus. Sind das getrennte Themen, oder gibt es Gemeinsamkeiten?
Nein, das sind keine getrennten Themen. Denn auch in den Internatsschulen litten Kinder furchtbar unter sexuellem Missbrauch. Sie konnten sich nicht wehren, ihre Eltern sprachen kein Englisch und hatten kein Geld, sich Anwälte zu nehmen. Hinter den Mauern der Internate waren die Täter lange Zeit geschützt. Doch jetzt kommt immer mehr ans Licht, und diese grausamen Verbrechen können nicht mehr einfach ignoriert werden.
Was sollte Papst Franziskus jetzt tun?
Eine offizielle Entschuldigung des Papstes ist unerlässlich. Hätte er sich sofort nach dem ersten Gräberfund in Kamloops entschuldigt und nicht nur sein Bedauern ausgedrückt, würden wohl nicht so viele katholische Kirchen brennen.
»Eine offizielle Entschuldigung des Papstes ist unerlässlich«
Erwarten Sie, dass in Kanada und den USA noch mehr dunkle Fakten ans Tageslicht kommen?
Ja, denn jetzt werden alle Gelände ehemaliger Internatsschulen untersucht, und der Geschichte kommt eine noch nie da gewesene Bedeutung zu.
Wie können indigene Gemeinschaften mit diesen traumatischen Ereignissen umgehen?
Es ist schwer für die betroffenen Menschen. Viele holt die Vergangenheit ein, und sie werden depressiv. Es hat für sie den Anschein, als höre der Schmerz der rassistischen Unterdrückung, den sie an Leib und Leben seit dem frühen Kindesalter erfuhren, niemals auf. Dennoch ist auch Erleichterung spürbar. Familien, die Jahrzehnte im Ungewissen über den Verbleib eines Kindes geblieben waren, erhalten nun erstmals Gewissheit und können die sterblichen Überreste in ihrer Heimaterde bestatten.
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