Massensterben: Grauwale im Klimawandel
Von der Schnauzenspitze bis zur mächtigen Fluke ist er dunkelgrau und weiß marmoriert – ein Grauwal (Eschrichtius robustus) ist auf Luftbildern sofort zu erkennen. Jedes Jahr wandern die grauen Meeresriesen aus den nahrungsreichen nordischen Gewässern nach Süden, im Schutz der warmen Lagunen vor der Baja California kommen ihre Jungen zur Welt. Und seit 2017 spioniert ein Forscherteam um den dänischen Meeresbiologen Fredrik Christiansen per Drohne aus, wie sie die Lagune von San Ignacio durchqueren. Dabei achtet es auf den Ernährungszustand der Grauwale – und sieht nun die bedrohlichen Anzeichen eines beginnenden Massensterbens: 2017 waren die ankommenden Wale gut genährt, 2018 deutlich schlanker und 2019 mager.
Gleichzeitig werden mehr tote Grauwale an den Küsten Mexikos, der USA und Kanadas angespült: 2019 waren es 214, 2020 schon 174. Auch Anfang 2021 kamen die Wale abgemagert in ihrer Kinderstube an, und bis Anfang Februar strandeten bereits drei Kadaver. Zudem werden weniger Grauwale geboren: Luftbilder zeigten viel weniger Mutter-Kind-Paare als in normalen Jahren, und der Anteil der Kälber an den Totfunden ist ebenfalls geringer. Die tatsächliche Todesrate ist weit höher als die gezählte: Meist versinken tote Tiere im Meer und tauchen in der Statistik nie auf, nur etwa zehn Prozent landen am Strand.
Die Ursache des ungewöhnlichen Massensterbens, eines so genannten »unusual mortality events« (UME), ist noch nicht abschließend geklärt. Der schlechte Ernährungszustand der Wale deutet stark auf einen Futtermangel in der Arktis hin. Das sorgt dafür, dass besonders viele heranwachsende Tiere stranden – sie haben keine so dicke Speckschicht wie die älteren Tiere und leiden früher unter der Nahrungsknappheit.
Fotogrammetrie im Wal-Management: Fatness is Fitness
Forscher können heute aus der Luft erkennen, über welche Energiereserven ein Wal im Meer unter ihnen verfügt: Man erkennt dies an dem deutlichen Speckgürtel um die Körpermitte herum. Die Breite eines Tieres gibt so Aufschluss über die körperliche Fitness – oder »Fatness«, wie Fredrik Christiansen von der dänischen Universität Aarhus sagt. Der Meeresbiologe hat zusammen mit seinem Kollegen Lars Bejder von der University of Hawai'i in Manoa ein neues Tool zum Einschätzen der Fit-Fatness von Walen per Drohne entwickelt: die Fotogrammetrie.
Mit Kameras bestückte Drohnen waren seit Langem wertvolle und kostengünstige Werkzeuge in der Walforschung. Ein perfektes Fotogrammetrie-Luftbild kann nun aber mehr: Wenn der gesamte Umriss des Meeressäugers klar erkennbar ist, dann erlaubt die Technik den Biologen, Länge und Breite des Tieres zu berechnen. Die Drohne startet dafür von einem kleinen Forschungsschiff aus und überfliegt die Wale in einer bekannten Flughöhe, während die Biologen deren Körperdimensionen messen und die ganz eigen marmorierte Walflanke für die Fotoidentifikation fotografieren. Aus den Werten lässt sich das Körpervolumen eines Meeressäugers berechnen und sein individueller Futterstand beurteilen.
Auch das Alter, der jahreszeitlich bedingte Ernährungszustand und der Familienzusammenhang der Wale sind für die Einschätzung wichtig. Die meisten Großwale fressen sich im Sommer fett und zehren dann monatelang davon. Jungtiere haben die dünnste Speckschicht, trächtige Walmütter die dickste. Während der Wanderungen und über den Sommer verliert ein Grauwal bis zu 29 Prozent seines Körpergewichts.
Christiansen untersucht die Bioenergetik von Walen, also ihren Energiehaushalt und die ökologische Energiebilanz: Wie viel Energie bekommen sie aus ihrer Nahrung, und wie setzen sie diese in Wachstum und Fortpflanzung um? Seine Studien an anderen Walarten hatten klar gezeigt, dass die Speckdicke die körperliche Fitness abbildet: Ein fetter Wal ist fit. Bei Walkühen entscheidet die Fettreserve außerdem über ihre Fruchtbarkeit und den Gesundheitszustand des jungen Wals – die Mütter müssen ihrem Kalb so viel fette Milch geben, dass es in nur sieben Monaten von fünf auf zehn Meter Länge wächst.
Bei einem gut genährten Wal geht der Kopf dann ohne sichtbaren Hals in den Körper über, und ein Speckgürtel rundet die Bauchmitte. Die meisten Kadaver des Walsterbens 2019 und 2020 hatten eine Einbuchtung im Nacken, und statt Speckrundungen waren Wirbelsäule und Rippen sichtbar – klare Zeichen für Auszehrung.
Eiskaltes Büfett in der Tschuktschen-See
Die jährliche Grauwalwanderung über 15 000 bis 20 000 Kilometer hinweg ist eine der größten Tierwanderungen der Erde. Sie hat einen guten Grund: Gerade die Tschuktschen-See und das nördliche Beringmeer gehören im kurzen polaren Sommer zu den produktivsten Meeresbereichen der Welt.
Die Basis des Nahrungsnetzes ist das schwimmende Ökosystem Meereis, an dessen Unterseite dichte Eisalgenteppiche wachsen. Mit dem Sonnenlicht im Frühling vermehren sich die Eisalgen massenhaft, und das Meer wimmelt bis zum Einbruch der herbstlichen Dunkelheit vor Leben. Die organischen Abfälle sinken auf den Boden und bieten ein reichhaltiges Büfett für die Flohkrebse. Diese Amphipoden-Arten bauen sich aus Schlamm, Schleim und Seidengespinst winzige Wohnröhren, von denen sich bis zu 8000 pro Quadratmeter finden lassen. Grauwale tauchen zum flachen Grund des Schelfmeeres und saugen dort mit ihren stumpfen Schnauzen wie Staubsauger die kalorienreiche Schlamm-Community ein, sie sind die einzigen Wale mit dieser Ernährungsmethode. Die Blubberschicht vom großen Fressen zwischen Mai und Oktober muss dann für ihre Wanderungen und den Lagunen-Aufenthalt reichen.
Grauwale sind Überlebende der Eiszeiten
Grauwale wandern und fressen sich im Sommer in subarktischen, flachen Meeren an Schlammkrebsen satt. Aber war das schon immer so? Dieser Frage sind der Paläontologe und Walexperte Nicholas Pyenson vom Smithsonian's National Museum of Natural History und der Evolutionsbiologe David Lindberg von der University of California in Berkeley nachgegangen. Anhand von ozeanografischen Tiefenprofilen haben sie im Fachmagazin »PLOS« die Historie des Lebensraums und die ökologische Geschichte der Grauwale in den letzten 120 000 Jahren rekonstruiert. Die wahrscheinliche Populationsgröße dürften demnach mal größer, mal kleiner gewesen sein, im Mittel aber haben die Ozeane insgesamt vermutlich genug Nahrung für etwa 90 000 Wale bereitgestellt, also für etwa viermal so viele Tiere wie heute.
Fossilfunde zeigen, dass Grauwale schon vor rund 2,5 Millionen Jahren entstanden sind. Sie haben demnach bis zum Ende des Pleistozäns vor rund 11 700 Jahren mehr als 40 Warm- und Kaltzeiten mit starken Meeresspiegelschwankungen überlebt. Die Meeresoberfläche lag dabei zeitweise bis zu 200 Meter höher als heute – und damals gab es dann keine flachen Schelfmeere, und die Meeresböden waren für die Tiere jenseits der maximalen Grauwal-Tauchtiefe unerreichbar.
Das sollte Folgen gehabt haben. Aber wären in diesen Zeiten viele Wale verhungert und die Bestände geschrumpft, dann wäre ebenso die genetische Vielfalt verarmt. Genetische Daten »zeigen aber keinen solchen genetischen Flaschenhals – sie müssen also etwas anderes gefressen haben«, sagt Nicholas Pyenson. Demnach waren Grauwale also nicht immer auf das Filtern des Meeresbodens spezialisiert, sondern haben notfalls auch weniger wählerisch andere Beute aus dem Meer gesiebt. Tatsächlich existiert bis heute eine alternative Lebensweise unter Grauwalen: Ein kleiner Teil schließt sich nicht der Wanderung an, sondern frisst im Sommer in den Gewässern zwischen Alaska und Nordkalifornien Heringe und Krill. Das Nahrungsangebot ist dort zwar kleiner, aber dafür sparen sie sich die Kräfte zehrende Wanderung.
Grauwalsterben – Klimakrise oder Überbevölkerung?
In der Arktis schwindet durch die Erderwärmung schnell der Lebensraum: Weniger Meereis bedeutet weniger Eisalgen und letztendlich auch weniger Meeresbodenbewohner. Die Grauwale bekommen die ökologischen Folgen der Arktiserwärmung also direkt zu spüren. »Zeugen des Klimawandels« nennt die Grauwalforscherin Amelia Brower die grauen Riesen; sie beobachtet seit einigen Jahren, wie die Tiere auf der Suche nach Nahrung immer weiter nach Norden schwimmen müssen.
2016 hatten die NOAA-Forscher 27 000 Grauwale vor der ostpazifischen Küste gezählt, 2019 bis 2020 waren es nur noch 21 000. Solche Bestandsschwankungen beobachten die Wissenschaftler schon länger, in der Saison um die Jahrtausendwende hatte es eine ähnliche Todesserie gegeben: In zwei Jahren waren 651 Grauwale tot angespült worden, die Population war von 21 000 Tieren im Jahr 1998 um 25 Prozent geschrumpft, auf 16 000 im Jahr 2002. Auch damals sprach vieles für Nahrungsmangel in den arktischen Gewässern. Schließlich wuchs der Walbestand wieder an, bis jetzt. Vielleicht handelt es sich beim Auf und Ab der Walstrandungen also um eine natürliche Fluktuation.
In einem Punkt sind die NOAA-Wissenschaftler immerhin zuversichtlich: Sie denken nicht, dass die auffälligen Massensterben das Überleben der Art Eschrichtius gefährden kann. »Grauwale sind Überlebende – sie können Veränderungen ihrer Ökosysteme überleben«, meint auch Pyenson: »Ich denke, diese Wale werden unter den Gewinnern des großen Klimawandelexperiments sein.« Forscher wie Fredrick Christiansen sind sich dagegen nicht so sicher, ob die Grauwale sich wirklich schnell genug an die vom Menschen verursachte Klimakrise anpassen können – sie verläuft doch wesentlich rasanter als ein Klimawandel im Pleistozän.
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