Meere: Kehren die Seepferdchen in die Nordsee zurück?
Ihre Vorfahren sollen einst Poseidons Streitwagen gezogen haben. Durchs Mittelmeer natürlich, wo der griechische Meeresgott der Antike seinen Stützpunkt hatte. Sollte ihm künftig der Sinn nach einem Ausflug an die deutsche Nordseeküste stehen, könnte er allerdings auch dort geeignete Zugtiere finden. Denn im Wattenmeer tauchen immer mehr Seepferdchen auf, die eigentlich eher in wärmeren Meeresregionen zu Hause sind.
Diesen Trend beobachtet die Schutzstation Wattenmeer etwa seit dem Jahr 1999. Auf Süderoogsand im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer wurde damals einer der exzentrischen kleinen Fische mit dem Greifschwanz und dem pferdeähnlichen Kopf entdeckt. Und seither häufen sich die Beobachtungen in der Region. In einer 2008 erschienenen Studie berichtete ein britisches Forschungsteam zum Beispiel über ein 2006 vor der Dogger Bank gefangenes Weibchen und über zwölf weitere Tiere, die zwischen 2001 und 2007 vor Sankt Peter Ording aufgetaucht waren.
Auch beim Thünen-Institut für Seefischerei in Bremerhaven sind die Raritäten bereits aktenkundig. Schon seit Anfang der 1970er Jahre erfassen die dortigen Fachleute jedes Jahr den Nachwuchs der Bodenfische entlang der Nordseeküste. Bei diesem »Demersal Young Fish Survey« sind ihnen 2020 zum ersten Mal zwei Seepferdchen ins Netz gegangen, die vor der Küste Nordfrieslands schwammen. Im gleichen Sommer berichteten Fischer von einem Tier im Hafen der Insel Borkum.
Das alles war aber noch nichts im Vergleich zum bisherigen Höhepunkt des Seepferdchen-Booms: Im Winterhalbjahr 2021/22 gingen auf der Internetplattform »Beach Explorer« der Schutzstation Wattenmeer rund 30 Meldungen über angespülte Exemplare ein. Die meisten davon hatten Spaziergänger an der niederländischen Küste und im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer gefunden. Aus Schleswig-Holstein kamen zunächst keine solchen Berichte. Bis dann im September ein lebendes Tier im Dreieck zwischen Pellworm, der Hallig Hooge und dem Außensand entdeckt wurde.
Was ist los im Wattenmeer?
»In früheren Jahren konnte man solche Seepferdchensichtungen an einer Hand abzählen«, erinnert sich Hans-Ulrich Rösner, der das Wattenmeerbüro der Naturschutzorganisation WWF in Husum leitet. »So viele Beobachtungen in so kurzer Zeit sind wirklich ungewöhnlich.« Zumal er die registrierten Funde nur für die Spitze des Eisbergs hält. Schließlich sind die kleinen Fische relativ unscheinbar, da wird selbst an belebten Strandabschnitten wohl längst nicht jedes angeschwemmte Tier entdeckt. Entsprechend groß ist das Rätselraten auch in der Fachwelt: Wie viele Seepferdchen gibt es im Wattenmeer tatsächlich? Wo halten sie sich auf? Leben sie dauerhaft dort oder wurden sie nur vorübergehend von den Meeresströmungen vor die Küste gespült? Das alles weiß kein Mensch.
Auch ist unklar, ob das entdeckte Kurzschnäuzige Seepferdchen (Hippocampus hippocampus) tatsächlich der einzige Vertreter seiner Verwandtschaft im Wattenmeer ist. Fachleute halten es durchaus für möglich, dass auch die zweite europäische Art dieser bizarren Fische den Sprung dorthin geschafft haben könnte. Ein Langschnäuziges Seepferdchen (Hippocampus guttulatus) mit den typischen Zottelfransen auf dem Kopf hat bislang aber noch niemand gemeldet.
Mehr Licht ins Dunkel soll nun ein Forschungsprojekt zum Mitmachen bringen. Nationalparkverwaltungen, Naturschutzorganisationen wie WWF und Schutzstation Wattenmeer sowie Bildungseinrichtungen wie das Multimar Wattforum rufen alle Interessierten zu einer gezielten Fahndung nach Poseidons Zugtieren auf: Wer im Spülsaum am Strand ein Seepferdchen entdeckt, sollte ein Foto machen – am besten mit einer Münze als Größenvergleich. Zusammen mit Datum und Fundstelle kann man es dann bei Beach Explorer hochladen oder per Mail an die beteiligten Institutionen schicken. Die wissenschaftliche Auswertung übernehmen Fachleute vom Thünen-Institut für Seefischerei und vom Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg.
»Wir sind sehr gespannt, was bei diesem Projekt herauskommen wird«, sagt Hans-Ulrich Rösner. Die beiden europäischen Seepferdchen gehören zu den Fischen, über deren Verbreitungsgebiet und Bestandsgröße man bisher nur wenig weiß. Auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN stehen sie in der Kategorie »Data deficient« – es gibt also zu wenig Informationen, um das Ausmaß ihrer Gefährdung einschätzen zu können. Denn beide Arten sind gut getarnt und schwierig zu erfassen. Untersuchungen über ihre Vorkommen beschränken sich meist auf relativ kleine Gebiete.
Spurensuche in Europa
Ein italienisches Forschungsteam um Cataldo Pierri von der Universität Bari hat kürzlich versucht, aus solchen einzelnen Puzzleteilen ein etwas umfassenderes Bild zusammenzusetzen. Dazu haben die Forscherinnen und Forscher 134 Studien aus mehr als 30 Jahren zusammengetragen und ausgewertet. Sie wollten vor allem wissen, wo Kurz- und Langschnäuzige Seepferdchen leben und welche ökologischen Bedingungen dort herrschen. Beide Arten haben demnach ein großes Verbreitungsgebiet und kommen sowohl im Atlantik als auch im Mittelmeer und im Schwarzen Meer vor. Allerdings treten sie dort nicht flächendeckend auf, sondern eher punktuell und in geringer Dichte.
Im Atlantik scheinen sie geschützte Bereiche wie Lagunen, Flussmündungen und Buchten zu bevorzugen – vielleicht, weil sie dort weniger mit starkem Wellengang und Stürmen zu kämpfen haben. Zudem liegen dort viele Flachwasserbereiche mit Tiefen bis zu etwa sechs Metern, für die beide Arten eine Vorliebe haben. Auch was ihre sonstigen Ansprüche angeht, scheinen die Verwandten recht ähnlich zu ticken. Wichtig ist ihnen vor allem genügend Beute in Form von winzigen Krebsen und anderem Plankton, die sie wie mit einem Strohhalm blitzschnell in ihre röhrenförmige Schnauze saugen. Als langsame Schwimmer brauchen sie zudem genügend Deckung, um sich vor den Augen von Raubfischen und anderen Feinden zu verbergen. Und schließlich legen sie noch Wert auf etwas, an dem sie sich mit ihrem Greifschwanz festhalten können, etwa große Algen oder andere Pflanzen.
Gefährdete Exzentriker: Seepferdchen
Weltweit haben Fachleute bereits mehr als 40 Arten von Seepferdchen beschrieben, die in tropischen und gemäßigten Meeren leben. Besonders groß ist ihre Artenvielfalt im Süden Australiens und vor Neuseeland. Typischerweise leben die kleinen Fische in relativ geschützten Bereichen wie Korallenriffen, Mangroven oder Seegraswiesen.
Außer für ihr bizarres Äußeres sind die Tiere auch für ihren ungewöhnlichen Lebensstil bekannt. Denn bei ihnen werden die Männchen trächtig. Während der Paarung spritzen die Weibchen ihnen ihre Eier in die Brusttasche, wo sich der Nachwuchs dann zwei bis drei Wochen lang entwickelt. Danach verteilen sich die Jungtiere im Seegraswald – und ihre Eltern können darangehen, eine neue Generation zu zeugen.
Diese Art von Paarbeziehung und Familienleben birgt allerdings Risiken. Denn Seepferdchen leben nirgends in dichten Beständen zusammen. Wenn sie also ihren Partner oder ihre Partnerin verlieren, finden sie mitunter nur schwer Ersatz. Und selbst wenn das klappt, ist das Team noch nicht so gut eingespielt und daher eventuell nicht so erfolgreich bei der Jungenaufzucht.
Selbst unter perfekten Bedingungen aber vermehren sich die Tiere relativ langsam und reagieren entsprechend empfindlich auf Überfischung. Dazu kommt, dass sie komplexe Lebensräume brauchen, die in vielen Meeresregionen immer seltener werden. Die Weltnaturschutzunion IUCN stuft viele Arten deshalb als gefährdet oder stark gefährdet ein. Seit 2004 fallen alle Seepferdchen unter das Washingtoner Artenschutzübereinkommen CITES, so dass es Beschränkungen für den internationalen Handel gibt.
Eine Seegraswiese scheint all diese Bedingungen aus Seepferdchensicht perfekt zu erfüllen. Zwar kommen beide Arten europaweit in zahlreichen anderen Lebensräumen vor. Doch dort haben sie offenbar ihre Hochburgen. »Es könnte durchaus sein, dass die Tiere früher in den Seegraswiesen des Wattenmeers gelebt haben«, meint Hans-Ulrich Rösner. Größere Bestände dieser Pflanzen wachsen heute nur noch in Wattbereichen, die bei Ebbe trockenfallen und deshalb für Seepferdchen ungeeignet sind. Doch das war nicht immer so. »Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auch im Wattenmeer Seegraswiesen, die ständig unter Wasser standen«, sagt der WWF-Experte. In den 1930er Jahren wurden diese Bestände durch den Erreger Labyrinthula zosterae vernichtet. Und davon haben sie sich bis heute nicht erholt.
Hat das Verschwinden dieser Lebensräume damals also das vorläufige Ende der Seepferdchen im Wattenmeer besiegelt? »Das ist bislang nur eine Theorie«, betont der Biologe. »Wir wissen es einfach nicht.« Fachleute sind sich nicht einmal sicher, ob die Tiere früher überhaupt vor den deutschen Küsten gelebt haben. Es gibt zwar Gerüchte darüber, hieb- und stichfeste Beweise fehlen jedoch. So erforschen Fachleute seit mehr als 100 Jahren das Wattenmeer um Sylt. Doch die beiden Hippocampus-Arten tauchen in den alten Artenlisten nicht auf. Ob es sich beim aktuellen Seepferdchen-Boom tatsächlich um eine Rückkehr ausgestorbener Wattbewohner handelt, ist deshalb unklar. »Es könnte ebenso sein, dass sich die Tiere auf Grund der wärmeren Wassertemperaturen im Zuge des Klimawandels nun zum ersten Mal hier ansiedeln«, erklärt Rösner.
Eine alte Geschichte
Ganz ähnliche Spekulationen gab es vor Jahren über die Seepferdchen in Großbritannien. Dann machten sich Neil Garrick-Maidment und seine Mitstreiter von der Seepferdchen-Schutzorganisation Seahorse Trust auf Spurensuche. Sie stießen nicht nur auf Beobachtungsnotizen, die bis ins Jahr 1821 zurückreichten. Sondern ebenso auf ein paar verräterische Kunstobjekte aus alten Zeiten.
Der Schatz von Staffordshire zum Beispiel enthält Tausende von angelsächsischen Gold- und Silbergegenständen aus dem 6. und 7. Jahrhundert. Darunter befindet sich eine kunstvoll gestaltete Brosche in Seepferdchenform. Auch auf piktischen Steinsäulen aus dem 3. und 4. Jahrhundert finden sich Darstellungen der Fische mit dem charakteristischen Greifschwanz. Die damaligen Künstler müssen lebende oder erst kurz zuvor verendete Exemplare als Vorbild gehabt haben, ist Neil Garrick-Maidment überzeugt. Sonst hätten sie die bizarren Wasserbewohner wohl kaum mit all den kleinen Flossen und sonstigen Details so lebensecht darstellen können. Für ihn steht damit fest, dass es die Tiere in Großbritannien schon sehr lange gibt. Inzwischen sind das Kurz- und das Langschnäuzige Seepferdchen dort offiziell als Teil der heimischen Fauna anerkannt.
In letzter Zeit werden die alten Nachbarn mit dem Pferdekopf im Vereinigten Königreich ebenfalls immer häufiger gesichtet. Im Jahr 1994 hat der Seahorse Trust begonnen, alte Berichte auszuwerten und neue Beobachtungen zu sammeln. Daraus ist mittlerweile die größte und am weitesten in die Vergangenheit reichende Seepferdchen-Datenbank der Welt geworden. Und die Zahlen dieses »British Seahorse Survey« sprechen eine deutliche Sprache. In den Jahren 1821 bis 1990 wurden im Schnitt zwischen einem und vier Seepferdchen an Großbritanniens Küsten entdeckt. Zwischen 1990 und 2019 waren es dagegen 48 bis 49 pro Jahr. Nach Einschätzung von Neil Garrick-Maidment liegt das allerdings vor allem daran, dass sich inzwischen mehr Menschen für die bizarren Tierchen interessieren und die Augen nach ihnen aufhalten. Handfeste Indizien für einen Zusammenhang mit dem Klimawandel sieht er bisher nicht.
Eine rätselhafte Reise
Als eine mögliche Ursache für die aktuellen Entwicklungen im Wattenmeer ist die globale Erwärmung dennoch weiterhin im Gespräch. Denn als eher Wärme liebende Arten könnten die Seepferdchen dort von steigenden Wassertemperaturen profitieren. Und es gibt noch eine weitere Veränderung, die ihnen zugutekommen könnte. Vielleicht nutzen sie statt Seegras inzwischen den Japanischen Beerentang Sargassum muticum als Lebensraum. Diese invasive Braunalge, die ursprünglich aus Asien stammt, hat sich mit Austerntransporten und an Schiffsrümpfen klebend an fast allen europäischen Küsten ausgebreitet. Auch in der Nordsee. Bei Seepferdchen ist sie sehr beliebt, weil sie genügend Unterschlupf und Möglichkeiten zum Festklammern bietet.
Dass die kleinen Fische aus eigener Kraft ins Wattenmeer geschwommen sind, um sich neue Lebensräume zu erschließen, hält Hans-Ulrich Rösner allerdings für unwahrscheinlich. Denn sie sind ausgesprochen sesshafte Tiere, die nicht besonders gut schwimmen können. Wahrscheinlich brauchten sie also eine Mitfahrgelegenheit. »Vielleicht sind sie von Meeresströmungen vor die deutschen Küsten getragen worden«, überlegt der Biologe.
Wie auch immer die exzentrischen Fische eingereist sind und wie lange sie auch bleiben mögen: Grund zur Sorge sieht Hans-Ulrich-Rösner in ihrem Auftauchen nicht – eher im Gegenteil: »Sie werden anderen Arten nicht schaden«, denkt der Naturschützer. »Sie sind eine Bereicherung der Artenvielfalt.«
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