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Minderjährige Straftäter: Gewalt von Kindern kommt niemals aus dem Nichts

Kinder begehen zum Glück nur äußerst selten schwere Gewalttaten. Oft sind sie selbst lange Opfer, bevor sie zu Tätern werden.
Schatten von drei Kindern. Ein Kind schubst ein anderes.
Häusliche Gewalt und soziale Ungerechtigkeit erhöhen das Risiko, dass Aggressionen bei Kindern eskalieren.

»Auch nach 30 Dienstjahren gibt es immer wieder Dinge, die man so nie erlebt hat. Das ist auch hier der Fall.« Die Worte des Polizeisprechers Jürgen Fachinger auf einer Pressekonferenz zum Tod der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg im März 2023 dürften vielen Ermittlern aus der Seele gesprochen haben. Kurz zuvor hatten zwei Mitschülerinnen, 12 und 13 Jahre alt, gestanden, das Mädchen mit einem Messer erstochen zu haben. Details zum Tathergang und zum Motiv gab die Staatsanwaltschaft aus Gründen des Jugendschutzes nicht bekannt. Dennoch sorgte die Tat deutschlandweit für Schlagzeilen und Entsetzen: Die beiden mutmaßlichen Täterinnen sind so jung, dass sie noch nicht einmal strafrechtlich belangt werden können. Zuständig ist stattdessen das Jugendamt.

Freudenberg ist kein Einzelfall: In den vergangenen Monaten berichteten Medien immer wieder von Gewalttaten unter Kindern und Jugendlichen. In Salzgitter töteten im Juni 2022 zwei Jungen, 13 und 14 Jahre alt, eine 15-Jährige. Und im Januar 2023 wurde in Wunstorf ein 14-Jähriger von einem gleichaltrigen Jungen mit einem Stein erschlagen. Im Dezember 2022 titelte die »Berliner Morgenpost« sogar »Mehr respektlose und gewalttätige Kinder und Jugendliche« und berief sich dabei auf die jüngste Statistik der Berliner Polizei.

Um konkrete Fälle soll es in diesem Artikel nicht gehen. Sie bieten vielmehr einen Anlass, genauer hinzuschauen und zu fragen: Verhalten sich tatsächlich immer mehr Kinder in Deutschland gewalttätig gegenüber anderen Kindern? Was bringt so junge Menschen dazu, zuzuschlagen – oder sogar zum Messer zu greifen? Gibt es Warnsignale? Und vor allem: Wie können Eltern und andere Bezugspersonen der Gewalt vorbeugen?

Die Kinder- und Jugendkriminalität sinkt seit 2007

Eine wichtige Datenquelle, um herauszufinden, wie häufig Kinder in Deutschland Gewalttaten begehen, bieten so genannte Hellfeldstatistiken. In sie fließen alle Straftaten ein, die bei der Polizei angezeigt und registriert werden. Laut der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik hat die Zahl der Straftaten durch Kinder unter 14 Jahren im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 35,5 Prozent zugenommen. Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren begingen im gleichen Zeitraum rund 22,1 Prozent mehr Straftaten. Schaut man sich nur die Gewaltkriminalität an, zu der unter anderem Delikte wie Mord, Totschlag, Raub, sexuelle Übergriffe und gefährliche Körperverletzung zählen, ist der Trend sogar noch etwas deutlicher: Die Zahl der Gewaltdelikte stieg bei Kindern unter 14 Jahren um 41 Prozent an, bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren um 29 Prozent.

Fachleute überrascht der Zuwachs allerdings nicht. Während des Lockdowns gab es schließlich weniger Möglichkeiten, straffällig zu werden, die Kriminalitätsrate war sogar allgemein gesunken. Vergleicht man die Zahlen aus dem Jahr 2022 mit denen aus dem Jahr 2019, ergibt sich aber immer noch ein leichter Anstieg: bei Kindern um 16 Prozent und bei Jugendlichen um etwa 7 Prozent, was die Gesamtzahl der Straftaten betrifft.

Unterstützung für Betroffene

Familien, deren Kinder Anzeichen von gewalttätigem Verhalten zeigen, können sich an die Erziehungsberatungsstellen der Kommunen oder den allgemeinen sozialen Dienst des Jugendamts wenden. Ein Besuch beim Kinderarzt oder bei der Kinderärztin kann ebenfalls sinnvoll sein, um abzuklären, ob eine psychische Erkrankung oder eine Entwicklungsstörung das Verhalten bedingt.

Kinder oder Jugendliche, die zu Hause Gewalt oder Missbrauch erleben, erhalten unter anderem Hilfe bei der »Nummer gegen Kummer«. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kinder- und Jugendtelefons beraten montags bis samstags von 14 Uhr bis 20 Uhr unter 116 111 anonym und kostenlos in ganz Deutschland. Erste Ansprechpartner bei häuslicher Gewalt sind außerdem erwachsene Verwandte oder Bekannte, Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Erzieherinnen, das Jugendamt und die Polizei. Wie Heranwachsende Hilfe bekommen, schildert auch die Seite »Gewalt ist nie ok!« der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen ausführlich.

»Und doch bedeutet das nicht, dass die Kinder- und Jugendkriminalität in den vergangenen Jahren immer schlimmer geworden ist«, erläutert Rainer Rettinger vom Deutschen Kinderverein, der sich seit Jahrzehnten für die Rechte und den Schutz von Kindern einsetzt. »Im Vergleich zu 2000 bewegen sich die Zahlen tatsächlich kontinuierlich mit kleinen Wellen nach unten, jetzt im Moment sehen wir, wie schon öfter, eine kleine Bewegung nach oben.« Das bestätigen auch die Statistiken: Zwischen 2007 und 2015 ist der Anteil der wegen Gewaltdelikten polizeilich registrierten Kinder und Jugendlichen tatsächlich kontinuierlich gesunken, wie eine Übersichtsarbeit der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention aus dem Jahr 2021 zeigt. Nach 2016 folgte eine leichte Zunahme, die aber bei Weitem nicht das frühere Niveau erreichte. Während Corona sanken die Zahlen dann wieder, um im Jahr 2022 erneut etwas anzusteigen.

Immer mehr Taten werden mittlerweile angezeigt

In die gleiche Richtung deuten Dunkelfeldstudien, bei denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, auch jene Fälle zu erfassen, die nicht zur Anzeige gebracht werden. Das geschieht etwa durch gezielte Befragungen zu Opfer- und Tätererfahrungen unter Schülern und Schülerinnen. Hier deutet ebenfalls vieles auf einen Rückgang von Gewaltdelikten seit 2007 hin. Außerdem zeigen die Erhebungen, dass die Gesellschaft immer besser für Gewalt sensibilisiert ist und entsprechend ein immer größerer Anteil der Taten schließlich bei der Polizei gemeldet wird.

»Nicht die Kinder- und Jugendkriminalität steigt, sondern die Wellen der Empörung und Entrüstung über die Fälle, in denen Kinder gewalttätig werden«, sagt Rettinger. Dabei werde oft suggeriert, dass die Delikte unter jungen Menschen zunähmen und die Vorfälle immer brutaler würden. »Eine Behauptung, die jeglicher Grundlage entbehrt.«

»Wir sehen heute nichts, was wir nicht schon vor 20 Jahren gesehen haben«, sagt auch Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, der neben seiner Hochschultätigkeit mit delinquenten Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien arbeitet. »Die Kinder von heute sind nicht gefährlicher als früher.« Extreme Taten, bei denen Kinder unter 14 Jahren andere Kinder töten, sind nach wie vor sehr selten: Die Zahl der erfassten Fälle bewegte sich pro Jahr zuletzt im niedrigen zweistelligen Bereich.

Gewalt in der Familie ist der wichtigste Risikofaktor

Dass manche Menschen dennoch schon in jungen Jahren verstärkt zu Gewalt neigen, könne verschiedene Ursachen haben, erklärt Baumann. Die genauen Gründe müssten stets im Einzelfall geprüft werden. Erst einmal ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Kinder sich im Alltag auch mal aggressiv verhalten. Durch starke, aufwühlende Emotionen wie Wut, Frustration oder Angst kann es zu Übersprungshandlungen kommen, die sich dann nach außen entladen. Man denke etwa an den klassischen Wutanfall im Supermarkt, bei dem sich die Kleinen auf den Boden werfen oder versuchen, sich mit Tritten lautstark loszureißen. »Diese Form von Aggressivität kommt im Alltag häufig vor und ist in der Regel sehr flüchtig, wenn die Erziehungspersonen angemessen auf das Kind reagieren«, erklärt der Pädagoge.

Davon abzugrenzen sind Gewalthandlungen. »Im Gegensatz zu Aggressionen verfolgen sie ein konkretes Ziel, das Kinder eben bloß mit Gewalt erreichen können«, erklärt Baumann. In manchen Fällen sei die Gewalt auch selbst das Ziel, etwa weil das Erleben von Brutalität positive Gefühle auslöst. Gerade Letzteres käme aber nur äußerst selten vor und sei in der Regel das Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener biografischer und gesellschaftlicher Faktoren.

Auf der biografischen Ebene stellt häusliche Gewalt den größten Risikofaktor für gewalttätiges Verhalten bei Kindern dar. Das zeigt unter anderem eine Übersichtsarbeit zur Entwicklung von Jugendgewalt, die der Schweizer Kriminologe Dirk Baier im Jahr 2022 veröffentlichte: »Junge Menschen, die von Seiten der eigenen Eltern Gewalt erlebt haben, weisen eine höhere Bereitschaft auf, Normen zu brechen«, heißt es dort. Ein Anstieg elterlichen Gewaltverhaltens würde dementsprechend mit einem Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität einhergehen.

»Gerade bei sehr frühen Gewalterfahrungen passt sich oft sogar der Körper an und reduziert das Schmerzempfinden«Menno Baumann, Pädagoge

Früher erklärten Fachleute den Zusammenhang meist mit der Theorie vom Lernen am Modell: Kinder, die daheim Zeuge von Schlägen oder Beleidigungen werden, vielleicht sogar selbst Misshandlung erleben, lernen demnach, dass dieses Verhalten normal ist. Diese Theorie greift jedoch zu kurz: »Entscheidend ist, wie das Kind die Übergriffe erlebt«, erläutert Pädagoge Baumann. Viele Kinder assoziierten familiäre Gewalt vor allem mit Missachtung und Ohnmacht.

Geht die Gewalt von den Eltern oder einer anderen nahen Bezugsperson aus, wissen Kinder nie, ob sie gerade sicher oder in Gefahr sind. Entsprechend befinden sie sich in ständiger Alarmbereitschaft. »Gerade bei sehr frühen Gewalterfahrungen passt sich oft sogar der Körper an und reduziert das Schmerzempfinden«, berichtet Baumann. Für die Betroffenen sei das ein wichtiger Schutzmechanismus – der es ihnen auf der anderen Seite aber erschweren könne, eigenes übergriffiges Verhalten zu erkennen. Opfer von Gewalt unterschätzten leichter die Wirkung ihrer Handlungen, etwa wenn sie jemanden quer durch den Raum schubsen und anschließend sagen würden: »Wie? Ich habe ihn doch nur zur Seite geschoben.« Nicht zuletzt kann Zuschlagen auch eine Strategie sein, um sich selbst aus der Opferrolle zu befreien, sagt Baumann.

Kinder, die autoritär erzogen werden, lernen nicht, ihre Gefühle zu regulieren

Ein autoritärer Erziehungsstil, gepaart mit hohem Leistungsanspruch, kann die Gewaltbereitschaft ebenfalls erhöhen. »Das Problem dieser Methode ist, dass sie sich allein am Verhalten der Kinder orientiert«, erklärt Familienberaterin Nicole Wilhelm, die seit mehr als 20 Jahren Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Kinder in Konfliktsituationen begleitet. Statt beispielsweise zu hinterfragen, woher die Wutausbrüche kommen, muss das Kind parieren. Auf diese Weise wird es zwar folgsam, lernt jedoch nicht, seine Gefühle zu kontrollieren und seine Persönlichkeit aufzubauen. Eine Studie der OECD aus dem Jahr 2020 bestätigt diese Einschätzung. Um herauszufinden, welcher Erziehungsstil für Kinder grundsätzlich am förderlichsten ist, werteten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen 81 Forschungsarbeiten sowie 29 Übersichtsarbeiten aus. Das Ergebnis: Kinder, deren Eltern vor allem auf Gehorsam und strenge Regeln setzen, ohne die Bedürfnisse ihres Nachwuchses zu berücksichtigen, fielen unter anderem vermehrt durch externalisierende Verhaltensweisen auf, also etwa Aggressivität und Verhaltensstörungen.

Hinzu kommen gesellschaftliche Faktoren: Leben Familien in Armut oder sind von ihr bedroht, erzeugt das Stress, der auch die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigen kann. In manchen Fällen sind Eltern dann nicht immer in der Lage, adäquat auf die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen, berichtet Pädagoge Baumann: »Spätestens in der Schule merken die Heranwachsenden, dass sie ihre Ziele nicht mit denselben Mitteln erreichen können wie andere.« Gefühle von Frustration und Ausgegrenztsein münden dann teils wiederum in Gewalt. Ähnliches gilt für Kinder, die Bildungsungerechtigkeit erleben, nicht richtig ins Schulsystem integriert sind oder von anderen Mitschülern und Mitschülerinnen ausgegrenzt, wenn nicht gar gemobbt werden. Bei Jugendlichen spielen dazu noch Gruppendynamiken eine Rolle: Wenn ein Großteil der Peergroup gewaltbereit ist, machen häufig auch jene mit, die sich damit eigentlich nicht wohlfühlen. Manche agieren dabei aus Loyalität, andere aus Angst, sonst nicht mehr Teil der Gruppe zu sein.

Der Konsum brutaler Medien, etwa in Form von Computerspielen, scheint die Gewaltbereitschaft hingegen nicht zu erhöhen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine Zunahme des Gewaltmedienkonsums mit einem Anstieg der Jugendkriminalität in Verbindung steht, konstatiert Baier in seinem Bericht. »So genannte Ballerspiele sind tatsächlich nur ein Risikofaktor, wenn die Kinder bereits gewaltbereit sind«, stimmt Pädagoge Baumann zu. Im Spiel können sich solche Kinder und Jugendliche dann gewissermaßen »professionalisieren«: Sie lernen, ihre Reflexe zu kontrollieren, stumpfen ab gegenüber brutalen Bildern und bauen womöglich Gewaltfantasien auf. »Zwar folgt nicht aus jeder Gewaltfantasie eine gewaltvolle Tat«, erklärt der Pädagoge. »Doch jeder gewaltvollen Tat geht eine Fantasie voraus.«

Gewalt gegen andere Kinder und die eigenen Eltern sollte ein Warnzeichen sein

Erste Warnzeichen dafür, dass ein Kind verstärkt zu Gewalt neigen könnte, gibt es oft schon früh. Geht ein Kind in der Kita beispielsweise jeden Tag auf andere los oder greift die eigenen Eltern an, wenn es abgeholt wird, gibt es wahrscheinlich ein Problem, erklärt Baumann. Gewalt von Kindern gegenüber Eltern gilt allerdings häufig als Tabuthema. »Statt sich Hilfe zu holen, halten viele Eltern Übergriffe daher geheim«, hat Baumann beobachtet. »Auch, weil sie sich schämen und befürchten, etwas falsch gemacht zu haben.« Fachleute, die solche Dynamiken beobachten, sollten deshalb immer das Gespräch suchen – und zwar ohne das Verhalten zu bewerten.

Oft könne es sinnvoll sein, nicht auf das Kinder selbst zu schauen, sondern auf sein Umfeld, erklärt Pädagogin Wilhelm. In welchem Setting wächst es auf? Wie sind seine Beziehungen? Fühlt es sich willkommen? Sind seine Grundbedürfnisse erfüllt? »Letztlich ist Gewalt immer ein Zeichen dafür, dass es einem Menschen nicht gut geht, und ein Hinweis auf eine seelische Verletzung. Jeder Mensch ist immer zuerst Opfer, bevor er zum Täter wird. Das gilt auch für Kinder.«

Zu schauen, ob ein Kind gut versorgt ist, sei die Verantwortung von Erwachsenen und gleichzeitig eine Form von Gewaltprävention, erläutert Wilhelm. Dieser Ansicht ist auch Pädagoge Baumann. Er geht sogar noch einen Schritt weiter: »Gewaltprävention ist Aufgabe der Politik«, sagt er. Sie müsse dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht noch weiter auseinanderklaffe, stärker gegen Diskriminierung vorgehen und die Zukunfts- und Bildungschancen der jungen Generation sichern.

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