Verhaltensbiologie: Mutterblut dicker als Wasser
Fürsorgliche Körperpflege, geschwisterliches Futterteilen, gemeinsames Wacheschieben - Zusammenarbeit ist auch im Tierreich weit verbreitet. Doch hilft jeder jedem oder gibt es Favoriten?
Es macht Sinn, jemanden zu unterstützen, wenn man mit einer geeigneten Gegenleistung rechnen kann. Zwar nehmen beide Parteien beim Helfen Anstrengungen in Kauf, die strenggenommen nicht nötig gewesen wären. Der durch die Zusammenarbeit zusätzlich erzielte Gewinn übertrifft jedoch die Kosten – eine Erkenntnis, die in der Wirtschaft unter dem Namen "Synergie-Effekt" populär geworden ist. Dieses Eine-Hand-wäscht-die-andere-Vorgehen ist auch im Tierreich verbreitet und dient letztlich jedem Beteiligten dazu, seine Überlebens- und Fortpflanzungschancen zu erhöhen und damit die eigenen Gene in die nächste Generation zu bugsieren. Zusammengearbeitet wird also mit jedem, der eine angemessene Gegenleistung bringen kann.
Für die optimale Verbreitung der eigenen Gene wäre es allerdings noch effektiver, jegliche Zusammenarbeit allein auf die Familie zu beschränken. Schließlich gibt auch die Verwandtschaft einen Teil des gemeinschaftlichen Erbgutes an die Folgegenerationen weiter. Sollte in der Natur also bevorzugt Vetternwirtschaft herrschen? Das lässt sich im Falle wildlebender Tiere nur sagen, wenn klar ist, ob ein kooperierendes Gespann verwandt ist. Dafür allerdings braucht man zuverlässige Genanalysen und eine Gruppe tierischer Probanden, die groß genug ist, um an ihr das Ausmaß des Nepotismus zu beurteilen.
Insgesamt zwanzig Monate zwischen 1999 und 2005 verbrachte Linda Vigilant vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie mit ihren Kollegen im Busch, um diese gängige Theorie mit der Wirklichkeit wilder Schimpansen abzugleichen. Dazu beobachteten die Wissenschaftler die 41 Männchen einer Gruppe von knapp 150 Schimpansen in Ngogo, Teil des Kibale-Nationalparks Ugandas. Sie hielten fest, wie oft und mit wem die Affen Nahrung teilten oder an den Grenzen des Territoriums patrouillierten, wer wen lauste und wie bei Auseinandersetzungen die Koalitionsgrenzen verliefen. Am Ende verglichen die Forscher ihre Ergebnisse aus über fünftausend Beobachtungsstunden mit den Verwandtschaftsgraden, die sie per DNA-Analyse aus Ausscheidungen und verlorenen Haaren der Affen bestimmt hatten.
Ist Blut also nun dicker als Wasser? Wirklich zeigte sich, dass Söhne einer gemeinsamen Mutter öfter zusammenarbeiteten als nicht verwandte Paarungen ähnlichen Alters. Dennoch beschränkte sich die Kooperation nicht auf die Sippe. Die Schimpansenmännchen gingen sehr häufig auch Allianzen mit anderen Schimpansen ähnlichen Alters ein, von denen sie erwarten konnten, dass sie auch in kommenden Jahren noch Interessen teilen würden. Die Forscher beobachteten also ein gewisses Maß an Familienklüngel, aber weit weniger, als mancher erwartet hätte.
Hinzu kam, dass Söhne eines gemeinsamen Vaters einander nicht bevorzugt behandelten – sie kooperierten auf demselben Niveau wie nicht verwandte Männchen auch. Vigilant und ihre Kollegen erklären dies damit, dass diese Halbgeschwister nicht wissen konnten, ob sie verwandt waren: Während die lebenslange starke Bindung an die Mutter dafür sorgt, dass Brüder mütterlicherseits einander erkennen, ist das auf Seiten des Vaters schwieriger. Zwar gibt es Hinweise, dass einige Affenarten Verwandte möglicherweise am Geruch erkennen können, für Schimpansen ist das jedoch nicht belegt.
Unsere nächsten Verwandten zeigen also durchaus einen gewissen Familiensinn, aber nicht nur: In vielen Fällen sind die geteilten Interessen Gleichaltriger wichtiger als die gemeinsame Mutter – Zweckgemeinschaft siegt über Blutsbande.
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