Neues Gravitationswellensignal: Schwarzes Loch frisst Neutronenstern
Vor etwa 870 Millionen Jahren verschmolzen in einer weit entfernten Galaxie zwei tote Sterne. Der Zusammenstoß ließ das Raumzeitgefüge erzittern, wie ein Hammer, der auf einer unendlich ausgedehnten Stahlplatte niedergeht. Die Vibrationen – Physiker nennen sie Gravitationswellen – breiteten sich in alle Richtungen aus.
Am vergangenen Mittwoch, dem 14. August 2019, erreichten sie die Erde. Dabei kam der Wellenzug auch an drei Paaren sorgfältig kalibrierter Laser vorbei. Sie sind Teil von speziellen Detektoren, die nach den winzigen Erschütterungen der Raumzeit Ausschau halten. 21 Sekunden nach Eingang des verdächtigen Signals verschickten die Messstationen einen Alarm, der rund um den Globus Smartphones vibrieren ließ.
Ein besonderes Ereignis
Fast vier Jahre nach dem erstmaligen Nachweis von Gravitationswellen sind solche Warnungen Alltag geworden. Damals hatten Forscher den Zusammenstoß zweier Schwarzer Löcher nachgewiesen. Nun scheinen die Gravitationswellen aber einen anderen Ursprung zu haben. »Als ich die Daten sah, klappte mir die Kinnlade runter«, sagt Geoffrey Lovelace von der California State University. Er ist Mitglied der Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO) Scientific Collaboration, die über das gleichnamige Paar von US-Detektoren wacht.
LIGO spürte die Gravitationswellen am 14. August um 21:11:18 Uhr (UTC) auf, zur selben Zeit schlug auch das kleinere europäische Pendant Virgo in Italien aus. Laut einer ersten, automatischen Schnellanalyse stammten die Wellen von zwei Himmelskörpern, deren Masse ungewöhnlich klein war. Das ließ Astronomen aufhorchen. Bei ungewöhnlichen Gravitationswellensignalen suchen sie den Himmel sogleich nach einer neuen Quelle elektromagnetischer Strahlung ab – den leuchtenden Trümmer des gewaltigen Crashs. Bei der Kollision zweier Neutronensterne im August 2017 führte die Strategie zum Erfolg, der Zusammenstoß hielt tausende Astronomen wochenlang in Atem.
»Es ist der vielversprechendste Fall, der uns bisher untergekommen ist«
Geoffrey Lovelace, California State University
Hinter den Gravitationswellen vom 14. August 2019 scheint etwas anderes zu stecken: Eine erste Analyse der Forscher ordnete das Signal als Kollision zwischen einem Schwarzen Loch und einem Neutronenstern ein. Es wäre das erste Mal, dass Forscher einen derartigen Crash zweifelsfrei nachweisen können.
Sollte die Analyse standhalten, könnte das Ereignis, genannt S190814bv, gar den Beginn eines neuen Kapitels der Astrophysik markieren: Forscher hoffen, dass sie Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, den Tod von Sternen und das Verhalten von Materie unter extremen Bedingungen noch besser verstehen lernen als bisher.
Ein Signal, das aus dem Rahmen fällt
Chad Hanna, ein LIGO-Forscher und Astrophysiker an der Pennsylvania State University, feierte gerade den Hochzeitstag mit seiner Frau, als am 14. August sein Telefon klingelte. Seine Gruppe ist auf die schnelle Klassifizierung von LIGO-Events spezialisiert, so dass er die Details der eingegangenen Gravitationswellen umgehend überprüfte. »Ich sah sofort, dass es ein extrem deutliches Ereignis war«, erinnert er sich, »und dass es irgendwie aus dem Rahmen fiel.«
Die Algorithmen-Pipeline der LIGO-Virgo-Kollaboration spuckte nach kurzer Zeit eine grundlegende Klassifizierung aus, die auf der Form der Welle, der Dauer des Signals und anderen Faktoren basiert. Zunächst erklärte das automatische System zuversichtlich, mindestens eines der Himmelsobjekte hinter S190814bv falle in die so genannte »Masselücke«. So nennen Astrophysiker den Bereich zwischen drei und fünf Sonnenmassen, in dem es nach bisherigen Erkenntnissen keine Schwarzen Löcher und Neutronensterne gibt.
Die allermeisten bekannten Schwarzen Löcher wiegen mehr als fünf Sonnen, während alle bekannten Neutronensterne weniger als drei Sonnen schwer sind. Fiele nun eines der S190814bv-Objekte in diesen Bereich, wäre das eine Premiere – mit potenziell weitreichenden Folgen für die Modelle der Astrophysik.
Aber das vorläufige Etikett der LIGO-Analyse-Software hielt nicht lange. Eine genauere, von Menschen gemachte Analyse aus Europa, die bis zum nächsten Morgen in Arbeit war, kam zu einem anderen Ergebnis. Die amerikanischen Wissenschaftler wurden am Donnerstagmorgen daher von einer neuen, präziseren Klassifizierung begrüßt.
Ihr zufolge stimmt die Sache mit der Masselücke nicht. Doch eine andere Hoffnung bestätigte sich: Mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent gehen die nachgewiesenen Gravitationswellen auf eine Fusion aus Neutronenstern und Schwarzem Loch zurück. Es wäre eine spektakuläre Erweiterung des Gravitationswellen-Katalogs. In ihm sind bisher nur ein gutes Dutzend Signale von Schwarzes-Loch-Paaren verzeichnet sowie zwei Neutronenstern-Crashs.
»Darauf habe ich lange gewartet«, sagt James Lattimer, Astronomieprofessor an der Stony Brook University. Er interessiert sich für das exotische Szenario schon lange: 1976 sagte er in seiner Doktorarbeit voraus, dass beim Zusammenstoß von Neutronensternen und Schwarzen Löchern schwere Elemente wie Gold und Uran entstehen müssten.
Das Ereignis vom 14. August ist derweil nicht ganz das erste, hinter dem Forscher ein Zusammentreffen von Schwarzem Loch und Neutronenstern vermuten. Bereits im April 2019 fing LIGO eine ähnliche Welle auf. Damals konnten sich die Wissenschaftler jedoch nicht sicher sein, dass das Signal aus dem Weltraum stammte. Die Wahrscheinlichkeit für einen Fehlalarm lag bei eins zu sieben. Rein statistisch müsste solch ein falsches Signal einmal alle 20 Monate auftauchen, schätzen die Forscher.
Ein Fehlalarm? Sehr unwahrscheinlich
Bei dem neuen Signal sieht die Sache viel besser aus: Es ist so deutlich, dass eine entsprechende zufällige Schwankung nur einmal in 100 Billiarden Jahren in den Detektoren auftauchen sollte. »Wenn es um mehr als das Zeitalter des Universums geht, kann man sich schon sicher sein«, findet Lovelace.
Noch bestehen jedoch Zweifel, ob Astrophysiker wirklich die erste Neutronenstern-Schwarzes-Loch-Kollision dingfest gemacht haben. Aktuelle Analysen kommen zu dem Ergebnis, dass das schwerere Objekt in den Bereich gewöhnlicher Schwarzer Löcher fällt (mehr als fünf Sonnenmassen). Der leichtere Partner hingegen müsste weniger gewogen haben als drei Sonnen.
Damit fällt er in einen Bereich, in dem nicht klar ist, um was für ein Objekt es sich handelt. Es ist etwas zu schwer für einen Neutronenstern, die normalerweise eher ein bis zwei Sonnenmassen auf die Waage bringen. Es könnte also entweder einer den schwersten bekannten Neutronensterne sein – oder eines der leichtesten Schwarzen Löcher.
Zukünftige Analysen lassen hier vermutlich klarere Aussagen zu. Diese sind jedoch sehr kompliziert und benötigen viel Rechenzeit. Computersimulationen haben oft Schwierigkeiten, wenn sie die Annäherung zweier Partner durchspielen sollen, die sehr unterschiedliche Massen haben. Die Forscher müssen also vorsichtig sein, wenn sie es mit unbekannten Gegebenheiten zu haben. »Wir sind immer noch dabei, die Daten zu analysieren«, sagt Lovelace. »Aber es ist der vielversprechendste Fall, der uns bisher untergekommen ist.«
Auf der Suche nach der Strahlung
Die Welle vom 14. August ließ zunächst nur Virgos Detektor in Italien und eines der beiden LIGO-Laserinterferometer ausschlagen. Über Nacht konnten die Forscher das Signal auch im LIGO-Zwillingsgerät rekonstruieren. Dadurch ließ sich die Position der Quelle am Himmel genauer bestimmen, als es bei früheren Gravitationswellen so kurz nach dem Nachweis der Fall war.
Demnach kam die Gravitationswelle aus Richtung eines Flecks, der gerade einmal 0,06 Prozent der Gesamtfläche des Himmels ausmacht. Für astronomische Teams ist eine so genaue Lokalisierung ein Segen. Sie suchen nach einem Gammastrahlenblitz oder sichtbarem Licht, das den Tod eines Neutronensterns begleiten müsste. »Im Prinzip ist es eine Sache von Minuten, dieses Gebiet abzusuchen«, sagt Marcelle Soares-Santos von der Brandeis University, die von Chile aus an den Beobachtungen beteiligt war.
Mit einem Schluck aufgesogen?
Bisher haben die Wissenschaftler jedoch keine verdächtige Lichterscheinung aufgespürt. Dabei sagen manche Modelle voraus, dass bei solch einem Ereignis Strahlung freigesetzt werden müsste. Das Schwarze Loch könnte beispielsweise den Neutronenstern zerfetzt haben, was einen Ring aus leuchtenden Trümmern zurücklassen würde.
Denkbar ist aber auch ein anderes Szenario: Das Schwarze Loch könnte den Neutronenstern mit einem kräftigen Schluck aufgesogen haben, wobei es wenig zu sehen gäbe. LIGO-Virgo-Simulationen für S190814bv favorisieren diesen Ausgang der Kollision. Doch letztlich weiß niemand, was tatsächlich passiert ist.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Ausbleiben eines Strahlungssignals ein interessanter Hinweis. »Wir gehen ganz unvoreingenommen an die Sache heran«, sagt Soares-Santos. »Wenn es kein Gegenstück zu den Gravitationswellen in Form von elektromagnetischer Strahlung gibt, wird das sicherlich einen Einfluss auf die Theorien haben.«
Das Innere von Neutronensternen
Und Neutronensterntheorien gibt es viele. Kernphysiker träumen schon lange von einem Blick ins Innere der extremen Objekte. In ihnen wird Materie enorm stark zusammengepresst. Der Druck könnte sogar so groß sein, dass Neutronen in ihre Bestandteile aufgelöst werden und dann in einer geladenen Suppe durcheinanderschwimmen. Sollte das zutreffen, würden Neutronensterne einer bestimmten Masse kleiner erscheinen als gedacht.
Das wiederum müsste sich anhand der Gravitationswellen erkennen lassen: Aus feinen Merkmalen des Signals sollte sich die Größe des Sterns ableiten lassen – und damit auch die Konsistenz der Materie in seinem Inneren. Weiteres über die Größe können die Forscher daraus lernen, ob beim Totentanz eines Neutronensterns um ein Schwarzes Loch Strahlung abgegeben wird oder ob das Ganze weitgehend im Dunkeln stattfindet.
Genaue Messungen über die Größe von Neutronensternen gelten als »eine Art heiliger Gral der Kernphysik«, wie Ben Margalit sagt. Er ist Postdoc an der University of California, Berkeley, und war nicht an den aktuellen Messungen beteiligt.
Ein Schwarzes Loch, das einen Neutronenstern frisst, stellt auch eine neue Arena für die allgemeine Relativitätstheorie dar. Laut Lovelace ist die Anwendung von Einsteins Gravitationstheorie auf das Umfeld Schwarzer Löcher für sich genommen schon schwierig genug. Wenn nun heiße, turbulente, magnetisierte Neutronensternmaterie hinzukomme, werde die Sache noch viel komplizierter – und damit interessanter.
Selbst wenn das Raumzeitbeben vom 14. August hier keine nennenswerten Fortschritte bringen sollte, sind die Forscher zuversichtlich, langfristig voranzukommen. Schließlich erwarten sie, dass LIGO und Virgo immer wieder vergleichbare Ereignisse auffangen werden. »Ich hoffe, dass wir etwas über die Verschmelzung von Schwarzen Löchern und Neutronensternen lernen«, sagt Lovelace. »Aber selbst wenn nicht, stimmt es mich trotzdem sehr optimistisch. Schließlich gibt es noch viele andere Gravitationswellensignale da draußen.«
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