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Niederwälder: Die Wiederkehr der alten Wälder

Jahrhundertelang prägten sie die Landschaft Europas: Niederwälder sind Biotope von brummender Vielfalt für ein Leben am und vom Wald. Sie verdienen eine zweite Chance.
Ein Fußweg führt durch einen Eichen- und Haselniederwald in der Bretagne

Ein Waldspaziergang um eine mittelalterliche Siedlung wäre abwechslungsreicher gewesen, als er es heutzutage ist: hier ein lichtdurchflutetes Wäldchen mit einem Stangengewirr von Hasel, Pappel oder Hainbuche, dort eine freie Fläche mit Wurzelstöcken, aus denen sich erste Triebe gen Himmel recken. Dann wieder der parkartige Wald mit einzelnen großen Eichen, eine Herde Schweine wühlt darunter im Boden. Nur eines würde man vergeblich suchen: den dichten Wald aus geraden, gleich alten Stämmen, wie er heute unsere Landschaft prägt.

Seit der Steinzeit macht sich die Menschheit eine erstaunliche Eigenschaft vieler Laubbäume zu Nutze. Eiche, Hainbuche, Hasel, Linde oder Pappel – sie alle können wieder und wieder neue Austriebe bilden, selbst wenn man sie bis auf den Wurzelstock abschneidet. Das hilft ihnen, Steinschlag oder Wildverbiss zu überstehen. Es ermöglicht aber auch den Menschen eine ganz besondere Form der Nutzung. Man schneidet das Holz, wenn es etwa Armdicke erreicht hat, kurz über dem Boden ab, belässt die Wurzel im Boden und kehrt nach ein paar Jahren wieder zurück. Dann haben sich erneut Triebe passender Dicke gebildet, bereit für die nächste Ernte.

Durch das wiederholte Schneiden dieses Stockausschlags entstehen lichte, vielstämmige Wälder: Niederwälder.

Über viele Jahrhunderte war die Niederwaldwirtschaft eine vorherrschende Form der Waldbewirtschaftung. Die »Umtriebszeit«, also das Intervall zwischen zwei Holzernten, liegt bei ihnen zwischen 10 und 30 Jahren. Ein überschaubarer Zeitraum im Vergleich zum heutigen Hochwald, in dem Bäume erst nach 80, 100 oder gar mehr als 150 Jahren geerntet werden.

Die Erfindung der Nachhaltigkeit

Niederwälder wurden schon seit dem Mittelalter nachhaltig bewirtschaftet, indem man den Gemeinschaftswald um die Dörfer in genau so viele gleich große beziehungsweise gleich ertragreiche Parzellen unterteilte, wie Jahre für die Umtriebszeit festgelegt waren. Bei einer Umtriebszeit von 20 Jahren wurde also jedes Jahr nur auf einem Zwanzigstel der Fläche Holz entnommen. Die Landschaft wurde zu einem Flickenteppich aus kleinen Waldflächen, die jede für sich alle 20 Jahre »auf den Stock gesetzt« wurden und danach wieder 19 Jahre lang unangetastet blieben. So stellte man eine kontinuierliche Brennholzversorgung sicher, ohne dass mehr Holz geschlagen wurde, als im selben Zeitraum wieder nachwuchs. Manche Gemeindewälder in Franken werden noch heute nach solchen Regelwerken bewirtschaftet, die teils seit dem 18. Jahrhundert gelten.

Edelkastanie wird »auf den Stock gesetzt« | Ein britischer Waldarbeiter schneidet Stangenholz in einem Edelkastanien-Niederwald.

Lässt man zwischen den regelmäßig beschnittenen Bäumen im Niederwald auch einige Stämme zu voller Größe aufwachsen, sprechen Förster von einem Mittelwald. Das »Oberholz« in Mittelwäldern besteht aus hartholzigen Baumarten wie der Eiche, die 120 Jahre und älter werden dürfen. Sie lieferten und liefern wertvolles Bauholz – früher vor allem für Häuser, Brücken und Schiffe. Immer noch werden in Mittelwäldern besonders wertvolle Edellaubhölzer geerntet, die man in Hochwäldern meist vergeblich sucht. Das Furnierholz einer Elsbeere etwa kann den fünffachen Preis einer Furniereiche einbringen.

Lange Zeit waren die Grenzen zwischen Acker, Weide und Wald fließend, und die Wälder wurden sehr intensiv genutzt. In Dorfnähe ließ man Rinder, Ziegen und Schafe im Wald weiden, und im Herbst trieben die Bauern ihre Schweine zur Eichelmast in den Wald. Man schnitt Laub und Zweige als Viehfutter und gewann Einstreu für die Ställe. Teilweise entnahm man sogar die Humusschicht und brachte sie auf den Äckern aus. Derart übernutzte Wälder verloren mit der Zeit mehr und mehr Nährstoffe. Auch die Nieder- und Mittelwaldwirtschaft ist also nicht per se nachhaltig.

Lowtech im Wald

Wegen der handlicheren Stämme ist die Holzernte im Niederwald zwar arbeitsintensiv, dafür jedoch mit relativ geringem technischem Aufwand zu bewerkstelligen. Neben dem verlässlichen Holzertrag bietet die Niederwaldwirtschaft dank ihrer ausgeprägten Strauch- und Krautschicht eine reiche Palette weiterer Waldprodukte wie Nüsse, Beeren, Kräuter, Pilze, Honig und Wildfleisch. Früher gewann man zudem Gerbstoff aus der Eichenrinde. Das Holz kann nicht nur als Brennholz, sondern auch als Stangenholz etwa für Zäune oder Wein-, Bohnen- und Hopfenstangen genutzt werden. Niederwälder schützen zudem effektiv vor Bodenerosion, Steinschlägen, Lawinen und Erdrutschen.

»Nieder- und Mittelwälder sind Musterbeispiele für einen multifunktionalen Wald«, sagt Tobias Plieninger, Forstwissenschaftler und Professor für sozial-ökologische Interaktionen in Agrarsystemen an den Universitäten Kassel und Göttingen. »Sie waren traditionell die Wälder des ›kleinen Mannes‹, also der Bauern, die in Dorfnähe vielfältige Produkte für den Eigenbedarf oder regionale Wirtschaftskreisläufe aus dem Wald gewannen.«

Kopfweiden im niederländischen Nationalpark De Biesbosch | »Schneitelt« man Weiden auf Brusthöhe, entstehen solche Kopfweiden. Ihre Triebe sind vor Tierverbiss geschützt. Der Nationalpark De Biesbosch produzierte einst gewaltige Mengen Holz, das zur Stabilisierung von Kanälen und Deichen eingesetzt wurde.

Als Erdöl und Kohle ihren Siegeszug antraten, sank die Nachfrage nach Brennholz, das sich jeder mit Axt oder Säge selbst beschaffen konnte. Auch die vielfältigen anderen Dienstleistungen der nahe gelegenen Wälder verloren an Relevanz. Dagegen setzte eine immer professioneller werdende Forstwirtschaft auf Hochwald mit schnell und gerade wachsenden Nadelhölzern wie Fichte und Kiefer. Und dank ihres Maschinenparks und eines langen Atems, um über Generationen auf die nächste Ernte zu warten, konnte sie den Holzertrag noch einmal deutlich steigern.

Die traditionellen Bewirtschaftungsformen verschwanden allmählich. Heute wird in Deutschland weniger als ein Prozent der Waldfläche als Nieder- oder Mittelwald bewirtschaftet. Die größten Anteile der verbliebenen Flächen sind in Rheinland-Pfalz und Bayern zu finden. Meist liegen sie an steilen Hängen, auf denen sich die Hochwaldwirtschaft nicht lohnte – etwa an Rhein, Mosel und Nahe, im Siegerland oder im Schwarzwald. Je nach Region haben sich unterschiedliche Traditionen bei der Bewirtschaftung herausgebildet, die oft in ausgeklügelter räumlicher und zeitlicher Abfolge den Holzeinschlag mit Beweidung, Ackerbau und Brache kombinierten. Bekannt dafür sind zum Beispiel die Siegerländer Hauberge oder die Reutewälder im Mittleren Schwarzwald.

In Südeuropa noch weit verbreitet

Europaweit werden noch mehr als zehn Prozent der Waldfläche, also über 20 Millionen Hektar, als Niederwald genutzt, hauptsächlich im Mittelmeerraum. Das entspricht der doppelten Waldfläche Deutschlands. Allein in Frankreich wird die Niederwaldfläche auf sechs Millionen Hektar geschätzt. In Serbien und in Bosnien-Herzegowina wird noch mehr als die Hälfte der Waldfläche als Niederwald bewirtschaftet. Und auch in manchen Regionen Italiens wie in Umbrien oder der Toskana gibt es große Niederwälder. Hinzu kommen viele ehemalige Niederwälder, die noch als solche erkennbar sind, aber schon seit Jahren oder Jahrzehnten brach liegen. Man erkennt sie daran, dass aus den einst dünnen Stockausschlägen dicke Stämme geworden sind, die in Bündeln zusammenstehen.

»Das Potenzial traditioneller Waldnutzungen ist groß, wird jedoch bislang kaum genutzt«, sagt Tobias Plieninger. Vielleicht ändert sich das ja durch die zunehmenden Herausforderungen für die Wälder durch die Klimaerwärmung. Denn viele Laubbaumarten der Niederwälder kommen besonders gut mit heißen, trockenen Sommern klar. Zu diesen Hoffnungsträgern gehören die lichthungrigen Eichen, Wildobst wie Elsbeere und Speierling, aber auch für mediterrane Niederwälder typische Baumarten wie Hopfenbuche, Manna-Esche oder Edelkastanie. »In Niederwäldern finden wir einen Pool an klimaresistenten Baumarten, die in den Hochwäldern fast verschwunden sind«, sagt Plieninger.

Die Lebenszyklen im Niederwald | Die kahlen Stellen nach der Holzernte geben einer Vielzahl von Arten ein Zuhause – hier profitieren Hasenglöckchen vom Lichteinfall. In der Bildmitte sind mehrjährige Stockausschläge zu sehen, im Hintergrund nähert sich ein Waldstück bereits der Erntereife.

Das Holz vieler dieser Laubbaumarten hat einen guten Brennwert, eignet sich also zum Beispiel bestens für die Produktion von Hackschnitzeln. So könnten nachhaltig bewirtschaftete Niederwälder wie schon vor 200 Jahren einen wichtigen Beitrag zur Brennholzversorgung leisten. »Auf den meisten Standorten kann die Niederwaldwirtschaft bei der Produktion von Biomasse aber nicht mit einem Hochwald mithalten«, sagt Roland Irslinger, Professor a. D. für Waldökologie an der Hochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg am Neckar. »Aus Sicht des Klimaschutzes wäre es deswegen auch kontraproduktiv, Hochwälder in Niederwälder umzuwandeln.« Besser sei es, ungenutzte Niederwälder wieder zu bewirtschaften oder in Südeuropa etwa auf entwaldeten Flächen neue Wälder anzulegen.

Dynamik sorgt für Vielfalt

Ihren größten Wert allerdings haben die traditionellen Waldbewirtschaftungsformen wohl für die biologische Vielfalt in unseren Wäldern. Die Liste bedrohter Tiere und Pflanzen, die auf lichte, strukturreiche Wälder angewiesen sind, ist lang. Dazu zählen Orchideen, bedrohte Baumarten wie der Speierling und zahlreiche selten gewordene Tierarten wie Haselhuhn, Pirol, Grauspecht und viele Insekten. Allein aus den Eichen-Hainbuchen-Mittelwäldern der Windsheimer Bucht in Franken sind rund 800 Großschmetterlinge bekannt, darunter viele vom Aussterben bedrohte Arten wie Maivogel, Gelbringfalter und Spanische Flagge. Außerdem kommen dort an die 500 holzbewohnende Käferarten wie der Hirschkäfer oder der Gefleckte Pappelbock (Saperda perforata) vor.

Viele dieser Arten sind an Wälder mit einer starken natürlichen Dynamik angepasst, wie man sie von Natur aus in Auwäldern entlang von Flüssen findet. Durch die regelmäßigen Überschwemmungen verändern sich diese Wälder ständig, und es gibt viele offene Bereiche, in die Licht eindringen kann. Genau solche Bedingungen werden durch die periodisch wechselnde, intensive Nutzung der einzelnen Niederwaldparzellen erzeugt – und das macht sie zu wertvollen Ersatzlebensräumen für die bei uns weitgehend zerstörten Überschwemmungswälder.

Waldflickenteppich

Durch die kleinräumige Bewirtschaftung entsteht im Nieder- und Mittelwald ein vielfältiges Mosaik aus Parzellen unterschiedlichen Alters und vielfältiger Strukturen. Dort, wo viel Licht ankommt, entwickelt sich eine arten- und blütenreiche Strauch- und Krautschicht. »Das ist praktisch das Gegenteil eines hochgewachsenen, dunklen Nadelwalds«, sagt Andreas Mölder, Artenschutzexperte bei der Nordwestdeutschen Forstlichen Versuchsanstalt in Hann. Münden. Beim Stichwort »ökologisch wertvoll« denken viele nur an die geschützten alten Urwälder mit viel Totholz und über 120 Jahre alten Bäumen. Doch was hier zu Lande eben auch fehle, sagt Mölder, seien die lichteren Bereiche. Im Schnitt sind die Wälder Europas seit dem Zweiten Weltkrieg immer dichter und dunkler geworden.

Niederwald oder Kurzumtriebsplantage? | Traditionelle Niederwälder sind multifunktional und haben eine artenreiche Fauna und Flora. Moderne Kurzumtriebsplantagen (KUP), in denen wie hier oft Pappelhybriden angebaut werden, können wirtschaftlich interessant sein, bringen aber weniger Vorteile für die Artenvielfalt. Sie gelten daher eher als landwirtschaftliche Kultur zur Diversifizierung bäuerlicher Betriebe denn als Wald. Meist sind die KUP-Umtriebszeiten mit zwei bis fünf Jahren auch noch kürzer als im traditionellen Niederwald.

Ein großer Teil der verbliebenen Niederwälder befindet sich im so genannten Kleinprivatwald, der etwa ein Viertel der deutschen Wälder ausmacht – viele tausend Flurstücke von weniger als 20 Hektar Größe. Für die forstliche Bewirtschaftung ist das mühevoll. »Aber gerade die kleinräumig verteilten Besitzverhältnisse im Privatwald sorgen bei uns für eine vielfältige Waldlandschaft«, sagt Mölder.

Egal ob Hoch- oder Niederwald: Einig ist man sich darüber, dass die Wälder strukturell vielfältiger werden sollen. Davon hätten alle etwas, denn landschaftliche Vielfalt erfreut nicht nur das Auge, sondern ist auch stabiler gegenüber Wetterextremen und bietet mehr Arten einen Lebensraum.

Aufklärungsbedarf bei Waldbesuchern

Wenn Förster oder Försterin die Artenvielfalt fördern, stößt das bei Waldbesuchern allerdings mitunter auf Unverständnis: Eine frisch geschlagene Niederwaldfläche erschrecke die Leute, genauso wie herumliegendes Kronentotholz, obwohl es der Vielfalt dient, sagt der Insektenkundler Heinz Bußler, der seit Jahren die Insektenfauna der Nieder- und Mittelwälder bei Bad Windsheim in Franken untersucht. »Für viele Menschen ist nur ein dichter, aufgeräumter Hochwald ein guter Wald.« Für andere wiederum seien oftmals bloß Totalreservate eine legitime Naturschutzmaßnahme, bedauert Bußler.

Vielleicht erfordern die Probleme von heute eine Rückbesinnung auf das Wissen von gestern. Niederwälder könnten einen größeren Beitrag zur Versorgung mit Energieholz leisten und dabei gleichzeitig die Vielfalt in unseren Wäldern erhöhen. Doch dafür muss das Wissen um diese Form der Waldnutzung erhalten bleiben und weiterentwickelt werden. Denn für Niederwälder gilt das Gleiche wie für andere besonders artenreiche Kulturlandschaften, etwa Streuobstwiesen oder Magerrasen: Fällt die Nutzung weg, werden sie überwuchert, und jene Arten, die sich nur dort heimisch fühlen, verlieren ihren Lebensraum. Bei der reinen Holzertragsmenge pro Hektar können Niederwälder nicht mit Hochwäldern mithalten. Aber in ihnen stecken andere Werte.

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