Industriemathematik: Ohne Mathematik steht alles still

»Wir leben in Deutschland mit einem Mathetrauma.« Christof Büskens klingt zwar etwas frustriert, aber keineswegs mutlos. Die meisten anderen Länder haben ein positives Bild von Mathematik, erklärt er. In Indien etwa entscheiden die mathematischen Fähigkeiten sogar über das Ansehen einer Familie. »Bei uns würde niemand einfach so sagen, dass er Legastheniker ist. Aber es ist schick zu sagen, dass man Mathe nicht kann«, klagt Büskens. Dabei weiß er als Professor am Zentrum für Industriemathematik der Universität Bremen, dass im heutigen Alltag alles mit Mathematik zusammenhängt.
Wenn die Kaffeemaschine morgens den Kaffee kocht, regelt sie Temperatur und Mahlsystem anhand von mathematischen Erkenntnissen. Der Motor des Autos, mit dem man zur Arbeit fährt, hat ein mathematisches Steuermanagement, ebenso die Ampel, die auf dem Weg liegt. Der Weg selbst – beziehungsweise der Straßenbelag – wurde so zusammengesetzt, dass die Materialien abhängig von der Temperatur die gewünschte Textur aufweisen, Niederschläge schnell abfließen lassen und möglichst lange halten. Die Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen, auch durch immaterielle Dinge wie die Wettervorhersage.
»In der Nachkriegszeit boomte die Industrialisierung«, erläutert Büskens, »aber da stand die Ingenieurleistung im Vordergrund. Die Mathematik war nur ein Hilfsmittel im Hintergrund und inspirierte nicht zu neuen Wegen.« Heute würden in Deutschland aber immer weniger Gewinne durch Maschinen erwirtschaftet. »Was in Deutschland erfunden wird, kann überall in der Welt nachgebaut werden«, erklärt der Mathematiker. »Gewinn wird inzwischen durch gute begleitende Software gemacht, die zum Beispiel vorhersagt, ob etwas fehlerhaft ist, wann die Maschine kaputtgeht, oder durch Programme, welche die Steuerung optimieren.« Während Hard- und Software in anderen Ländern im Gleichklang stünden, habe Deutschland bei Letzterer den Anschluss verloren.
Schuld daran sei das Bildungssystem. Die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) untersuchte im Jahr 2010 in einer Modellrechnung, wie sich das Bruttoinlandsprodukt eines Landes ändern würde, wenn der Pisa-Test innerhalb von fünf Jahren um 25 Punkte besser ausfiele. So viele Punkte hatte Deutschland in Mathematik 2022 gegenüber 2018 verloren. Das ifo-Institut wandte diese Kalkulation 2023 auf Deutschland an – mit erstaunlichem Ergebnis: Bis 2100 würde das BIP in Deutschland um insgesamt 14 Billionen Euro wachsen. Das sind rund 500 Millionen Euro pro Tag.
»Muss jeder den Satz des Pythagoras wirklich beweisen können? Oder ist es nicht wichtiger zu sehen, was ich alles mit Mathematik machen kann?«Christof Büskens, Mathematiker
»Und wir hören auf, die Schüler genug zu unterstützen, sobald man Zahlen durch Buchstaben ersetzt«, sagt der Mathematiker. So beherrschten laut IQB-Bildungstrend 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bremen, die nicht aufs Gymnasium gehen, am Ende der Jahrgangsstufe neun nicht einmal das Basiswissen Mathematik. »Diese Schüler verstehen keine Prozentrechnung, und wenn sie die Höhe des Kölner Doms schätzen sollten, tippen manche 2,50 Meter und andere 5000 Kilometer.« Auch die Lerninhalte seien nicht optimal: »Muss jeder den Satz des Pythagoras wirklich beweisen können? Oder ist es nicht wichtiger zu sehen, was ich alles mit Mathematik machen kann – und die Anwendungen zu verstehen?«
Löschroboter, Drohnen, Schiffe: Aus mathematischer Sicht ist alles gleich
Als Koordinator von MOIN, der Modellregion Industriemathematik, die sich im Großraum Bremen dafür einsetzt, Mathematik in Schule und Gesellschaft, Politik und Industrie besser zu etablieren, fallen Büskens jede Menge Beispiele für praxisnahe Anwendungen ein.
Wenn bei Großbränden etwa ein Dach einstürzen könnte oder ein altes Militärgelände brennt, auf dem noch Munition liegen könnte, ist der Ort für Feuerwehrleute tabu – zu gefährlich. Ideal wäre ein autonomer Löschroboter, der sich nicht verletzen und somit näher an den Brandherd heranrücken kann. Ein solcher Roboter muss bei extremen Verhältnissen wie Rauch und Flammen aber erkennen können, wo er sich befindet. Falls ein Hindernis im Weg ist, berechnet er, ob er es besser um- oder überfährt. Darüber hinaus muss man entscheiden: Soll der Roboter sich möglichst energiesparsam bewegen? Oder der Strecke mit dem geringsten Risiko folgen?
Ein ähnliches Problem gibt es in der Luft. Bevor die Landwirte im Frühjahr ihre Felder mähen, gehen sie das gesamte Gebiet ab, um sicherzustellen, dass sich dort keine Rehkitze verstecken. Nähert sich ein Mähdrescher, ducken sich die jungen Tiere in der Regel statt wegzulaufen – ihr sicherer Tod. Flugdrohnen können das Feld viel schneller absuchen. Dafür brauchen die Maschinen eine Route, um in möglichst kurzer Zeit das gesamte Gebiet abzudecken und gleichzeitig zu erkennen, ob irgendwo ein Kitz liegt.
Auf dem Wasser muss man bei einem Containerschiff, das von Bremerhaven nach New York fährt, Strömungen und Winde berücksichtigen, Eisberge meiden sowie sich zwischen der schnellsten und der kraftstoffsparendsten Route entscheiden. Transportiert es beispielsweise flüssigen Wasserstoff, sollte es so am Hafen eintreffen, dass es nicht lange auf die Einfahrt warten muss – denn zur Kühlung dieser Ladung ist viel Energie nötig. Noch spannender wird es auf dem Weg von Singapur nach Bremerhaven. Statt bei Afrika den Suezkanal durchqueren zu müssen, wird wegen des Klimawandels immer öfter die rund 40 Prozent kürzere Route durch die Arktis nutzbar. Das Meereis ändert allerdings laufend seine Dicke und Position. Deshalb muss man mit Hilfe von Echtzeit-Satellitenbildern einen Weg finden, auf dem das Eis durchgängig dünn genug ist, um hindurchzufahren.
Alle drei Beispiele folgen aus mathematischer Sicht den gleichen Prinzipien. Um die Aufgaben zu bewältigen, nutzen Fachleute einen digitalen Zwilling. Der Begriff bezeichnet ein virtuelles Abbild eines physischen Objekts oder Prozesses. Am Computer lässt sich dann dessen Verhalten simulieren. Der digitale Zwilling besteht aus drei Komponenten. Beim Frachtschiff etwa wird zunächst ein Modell vom Schiff selbst und seiner Ware erzeugt. Der zweite Teil ist die Umgebung, die auf das Schiff einwirkt, also Strömungen, Wind und Hindernisse. Die dritte Komponente entspricht dem Kapitän, der entscheidet, wie navigiert wird.
Das Schiff soll innerhalb einer gewissen Zeitspanne von einem Ort zu einem anderen gelangen. Mathematisch ausgedrückt heißt das, dass sich das Modell von einem Anfangswert zu einem bestimmten Endwert ändert. Das entspricht einer Differentialgleichung: eine Gleichung, die auch Ableitungen enthält. Um sie zu lösen, kann man ein Integral nutzen, das beispielsweise alle Ereignisse während der simulierten Fahrt summiert. Als Ergebnis erhält man dann entweder die Fahrtdauer, den Energieverbrauch oder das mit der Route verbundene Risiko. Mathematische Formeln beschreiben auch die Umgebung des Schiffs. Zum Beispiel wird eine ausreichend dünne Eisdecke als Grundvoraussetzung für einen passierbaren Weg durch eine Ungleichung angegeben.
Auf diese Weise lässt sich eine Simulation entwickeln und mit ihr das jeweilige Problem angehen – ein Schiff navigieren, Rehkitze aus der Luft erfassen oder einen Löschroboter steuern. »Wir wollen aber nicht nur die Situation simulieren, sondern die Reaktion aktiv beeinflussen, um das Ergebnis zu optimieren«, erklärt Büskens. Also zum Beispiel einem Kapitän dazu raten, wegen den Witterungsbedingungen eine andere Route zu wählen.
Mathe in allen Branchen
Entgegen dem landläufigen Klischee ist man im späteren Leben häufig auf mathematische Inhalte angewiesen – gerade wenn man einen Beruf in der Industrie anstrebt. Das sind einige Beispiele für mathematische Anwendungen in der Praxis:
- Bau- und Ingenieurwesen: Bei Tragwerksplanung, Materialoptimierung und Simulationen braucht es etwa Statik und Analysis.
- Energieversorgung: Um Stromnetze oder den Energieverbrauch zu optimieren, verwenden Mathematiker unter anderem numerische Simulationen.
- Finanzmärkte und Risikoanalyse: Auch wer Optionen und Derivate berechnen, Portfolios managen oder Kreditrisiken bewerten will, benötigt Stochastik, Differentialgleichungen und Statistik.
- Logistik und Supply-Chain-Management: Ob Lageroptimierung, Routenplanung oder Minimierung von Lieferkosten – die Antworten liegen in linearer Algebra und Graphentheorie.
- Marketing und Preisgestaltung: Kundensegmentierung, Preisoptimierung und Marktanalysen basieren auf Spieltheorie, Regression und Statistik.
- Versicherungswirtschaft: Prämienberechnung, Schadenprognosen und Risikomodelle erfordern Versicherungsmathematik und Statistik.
Dazu brauchen die Fachleute ein Diskretisierungsverfahren: Sie unterteilen das Problem in endlich viele Zwischenschritte. »Der eigentliche Prozess ist unendlichdimensional«, schildert der Mathematiker. In der Praxis beeinflusst man aber nicht jeden Zustand zu jedem Zeitpunkt; ein Kapitän ändert nicht permanent die Fahrtrichtung. Durch die Diskretisierung wird aus dem unendlichdimensionalen Optimierungsproblem ein hochdimensionales. Trotzdem bleibt es hochkomplex: »Darin gibt es über eine Milliarde Freiheitsgrade«, sagt Büskens – also mehr als eine Milliarde freie Parameter, die das Ergebnis beeinflussen können. Dieses System optimieren die Forschenden schließlich durch unterschiedliche computergestützte Methoden.
So geschieht es meist in der Industriemathematik: Man überführt ein System von Anfangszustand A in einen Endzustand B. Dabei bezieht man veränderliche Nebenbedingungen ein (etwa eine Eisschicht) und sucht nach dem optimalen Verlauf.
Beschleunigung durch die richtige Mathematik
Welchen Unterschied ein mathematisches Verständnis dabei machen kann, hat Büskens in der Zusammenarbeit mit einem Automobilhersteller erlebt. Der hatte einen digitalen Zwilling entwickelt, um den Alterungsprozess einer Batterie über 15 Jahre zu simulieren. Ein reales Experiment kann man schließlich kaum so lange laufen lassen. »Das war ein tolles Modell und erfüllte die Aufgabe«, erinnert sich Büskens. Allerdings nahm ein einzelner Simulationslauf 15 Tage in Anspruch – und für die Optimierung waren Millionen an Durchläufen erforderlich. »Als das Unternehmen mit diesem Problem zu uns kam, hatten wir nach vier Tagen die Rechenzeit für jeden Lauf auf fünf Minuten reduziert«, berichtet der Mathematiker.
Der Autohersteller hatte das so genannte Runge-Kutta-Verfahren genutzt, um die auftretenden Differentialgleichungen zu lösen. Für ihren Fall gibt es aber eine geeignetere Methode, das Runge-Kutta-Fehlberg-Verfahren. Dabei geht man die Gleichungen entlang des Anfangszeitpunkts bis zum Endzeitpunkt durch. An jedem Punkt untersucht man, wie komplex sie dort sind. Sind sie einfach zu lösen, macht man einen großen Schritt in die Zukunft; sind sie hingegen schwierig, macht man nur kleine Schritte. »Das ist keine Hochtechnologie, Mathematiker behandeln das im dritten oder vierten Semester«, erklärt Büskens. »Aber im Ingenieurstudium wird die Methode im Regelfall nicht mehr vermittelt.«
Ein weiterer Fall aus der Praxis betrifft das autonome Fahren. Auch hier greifen Ingenieure auf das übliche Verfahren mit dreikomponentigen digitalen Zwillingen und anschließender Optimierung zurück. »Die Industrie nutzt häufig Methoden, die sehr viel Rechenleistung brauchen«, erläutert Büskens. Autonomes Fahren erfordert deshalb riesige Rechensysteme im Hintergrund und hat einen entsprechend hohen Energiebedarf. »Wir nutzen Methoden aus der mathematischen Hochtechnologie – und deshalb reicht bei uns die Rechenleistung eines Smartphones.«
Damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt, ist mathematische Förderung und Bildung unerlässlich. Das Fach gilt als abstrakt, aber es ist eben gerade in der Industrie und bei praxisnahen Anwendungen enorm wichtig. Wer mathematisches Wissen mitbringt, kann etliche Ressourcen sparen und Prozesse optimieren. Darüber hinaus zahlen sich auch grundlegende Erkenntnisse der reinen Mathematik im Nachgang immer wieder aus. So wären die hochmodernen Quantentechnologien ohne den zugehörigen mathematischen Unterbau undenkbar.
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