Ostsee: Rummel am Riff
Ein Teppich aus zarten Pflanzen wiegt sich im Rhythmus der Wellen, dazwischen wie hingetupft vereinzelte Seesterne, Schwämme, die den Algenwald überragen. Man würde sich ins Mittelmeer versetzt fühlen, wäre da nicht das unwirkliche Grün, das die ganze Szene einhüllt. Und dann schwimmt auch noch ein Fisch vorbei, den sein hellbraunes Fleckenmuster und der Bartfaden am Kinn als Dorsch verraten. Kein Zweifel, wir sind in der Ostsee.
Das kleine Binnenmeer ist eher für seine endlosen Sandböden bekannt. Dass es fernab der Strände auch ganz anders aussehen kann, weiß man noch gar nicht so lange: »Diese küstenfernen, großen Riffe wurden erst vor 20 Jahren wissenschaftlich dokumentiert und erst seit einigen Jahren exakt vermessen«, sagt der Meeresbiologe Alexander Darr vom Institut für Ostseeforschung in Warnemünde. Das Fundament der Riffe bildet Geröll, das die Gletscher der Eiszeit hier zurückließen. Darauf wachsen Lebensgemeinschaften, die laut Darr »zu den artenreichsten Unterwasserlandschaften der Ostsee« gehören.
So weit noch Sonnenlicht ins Meer reicht, wachsen bis zu drei Meter lange Zuckertange und andere grüne, rote und braune Algen. Ab 20 Meter Tiefe wird es für die Pflanzen zu dunkel. Dann bilden festsitzende Tiere wie Schwämme, durchsichtige Manteltiere und filigrane Hydropolypen einen fremdartigen Wald, dazwischen fangen bunte Seeanemonen und Seelilien mit ihren giftigen Tentakeln Kleinstlebewesen aus der Strömung.
Die schönste Rifflandschaft findet man im Fehmarnbelt – so nahe der Nordsee-Anbindung ist das Wasser noch besonders salzhaltig und sauerstoffreich. Und je salzhaltiger, desto größer die Artenvielfalt, erklärt Darr: »Nach Osten hin werden die baltischen Riffe artenärmer. Im Fehmarnbelt liegt in 18 Meter Tiefe unter dem wärmeren, wenig salzhaltigen Wasser ein kühlerer Wasserkörper mit höherem Salzgehalt. Dort leben sogar richtige Meeresarten – 2015 haben wir da einen Sonnenstern entdeckt!« Diese großen Seesterne kennt man sonst vor allem aus dem Nordatlantik.
Die Kinderstuben der Dorsche
Die Rifflebensgemeinschaft bietet Nahrung und Schutz für Nesseltiere, Muscheln, Schnecken, Krebse und Fische. Besonders für junge Tiere, die auf dem Speiseplan größerer Fische und sogar der Schweinswale stehen, ist es überlebenswichtig, dass Nahrungsquellen und Versteckmöglichkeiten direkt nebeneinanderliegen. Auch einer der wichtigsten Speisefische der Ostsee lebt besonders gern am Riff – der Dorsch. Die größten Dorsche filmten die Biologen bei ihren Surveys mit dem Videoschlitten aber im Arkona-Becken vor Rügen – in 45 Meter Tiefe lagen 80 Zentimeter große Exemplare zum Ausruhen zwischen den Steinen.
Weiter östlich, vor dem Ostseebad Nienhagen, liegt ein anderes Riff. Dort überzieht eine Muschelbank aus dicht gedrängt sitzenden Miesmuscheln den Untergrund. Das Riff-Fundament scheint mit seinen geometrischen Formen jedoch nicht so recht in die Natur zu passen – kein Wunder: Es wurde von Menschenhand geschaffen.
»Früher war der Ostseeboden reich an Steinen, aber die sind als wertvolles Baumaterial über Jahrzehnte hinweg abgefischt worden. Der heutige schlammig-weiche Meeresboden ist eher artenarm«, erklärt der Fischereitechnik-Spezialist Thomas Mohr. »Wir wollten herausfinden, ob wir mit einem künstlichen Riff wieder Dorsche und andere Tiere ansiedeln können.« Der Ostseedorsch ist ein wichtiger Speisefisch, doch die Bestandszahlen der Art, die man andernorts Kabeljau nennt, sind niedrig; nicht nur wegen der Überfischung, sondern auch wegen der Lebensraumzerstörung.
Eine belebte Plattenbausiedlung
Im Fischereischutzgebiet der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei haben Mohr und seine Kollegen in mehr als zehn Meter Tiefe mit dem künstlichen Riff einen verlorenen Lebensraum rekonstruiert. Im Experiment erwies sich eine Ansammlung aus Betontetrapoden und -ringen sowie Natursteinen bei den Meeresbewohnern als besonders beliebt. Dass die rechten Winkel und Röhrensegmente wie eine Unterwasser-Plattenbausiedlung wirken, stört den darauf siedelnden Roten Meerampfer und den Kalkröhrenwurm nicht.
Schnell hatte die zerklüftete Unterwasserlandschaft mit ihrer vielgestaltigen Lebensgemeinschaft auch Fische angezogen: Plattfische wie Kliesche und Steinbutt etwa, die ebenfalls begehrte Speisefische sind. Bunt schillernde Klippenbarsche. Und natürlich Dorsche, vor allem Jungtiere, kaum größer als 20 Zentimeter. Um herauszufinden, ob die Dorsche nur zur Stippvisite am Riff vorbeikommen oder dauerhaft dort leben, haben die Wissenschaftler einige davon in Fischfallen gefangen und markiert. »Ein Jahr später haben wir an den gleichen Stellen oft die gleichen Fischindividuen wiedergefunden«, sagt Thomas Mohr – offenbar sind Dorsche standorttreu. Und dieses Riff gefällt ihnen besonders gut, dort leben mehr Dorsche und andere Arten als auf einer Vergleichsfläche. »Dieses künstliche Riff hat ganz klar den Lebensraum fischereilich aufgewertet.«
Hightechparcours im Kunstriff
Doch die reiche Unterwasserlandschaft zieht nicht nur Meeresbewohner an. Hier trainiert beispielsweise auch Gerd Niedzwiedz angehende Forschungstaucher. Das Riff kommt dem Meeresforscher von der Universität Rostock dabei als perfektes Übungsgelände für die Arbeit unter Wasser gelegen.
Überhaupt ist das Fischereischutzgebiet mit dem künstlichen Riff ideal geeignet für die Forschung: Es liegt in Hafennähe, trotzdem gibt es dort keinen Schiffsverkehr. In den kommenden Jahren soll darum hier unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung das Digital Ocean Lab entstehen. Auch dabei handelt es sich um ein Übungsgelände. Aber erprobt wird hier vor allem die Technik, zum Beispiel autonome Unterwasserroboter, ihre Sensoren und die künstliche Intelligenz an Bord. Denn ob alles funktioniert, zeigt sich immer noch am besten in der realen Welt, wo es echtes Salzwasser gibt, echte Wellen und echtes Sediment.
Im Riffgebiet Nienhagen steht nun auf drei Pfählen eine Forschungsplattform mit einem Servicecontainer, Unter- und Überwasserkameras und WLAN-Anschluss; Solar- und Windenergie versorgen die Technikinsel mit Strom. Insgesamt 300 Hektar misst das Unterwasserlabor. Ergänzt wird es von Einrichtungen an Land, mit denen es gemeinsam den Rostocker Ocean Technology Campus bildet.
Entscheidender noch ist aber, was sich bald unter der Wasseroberfläche abspielen soll, in den »Gärten«, wie sie der Riff-Forscher und Projektleiter des Digital Ocean Lab Christof Schygulla nennt. Hier wollen die Forscher in rund 16 Meter Tiefe typische Szenarien nachbauen, mit denen es Firmen und Forscher auch in der realen Welt zu tun bekommen. Im Kabelgarten sollen sich Arbeiten an Unterwasserkabeln üben lassen, im Munitionsgarten geht es um die Entwicklung und Erprobung neuer Sensoren sowie Bilderkennungsverfahren zum Aufspüren von Kampfmitteln. Gerade in der Nord- und Ostsee mit ihren explosiven Altlasten aus zwei Weltkriegen ist das ein wichtiges Thema. Schließlich müssen die vor Beginn jedes Bauprojekts im Meer – wie etwa einem Offshorewindpark – erst einmal geräumt werden.
Das künstliche Riff, das sich in direkter Nähe zum künftigen Unterwasserlabor befindet, wird ebenfalls mit den Unterwasserdrohnen und Tauchrobotern angesteuert. Dort können die Vehikel und ihre Piloten ihren späteren Einsatz für Industrie und Forschung trainieren. Bisher gibt es in Europa nur sehr wenige solcher Unterwassertestgelände. Und natürlich können auch die Meeresbiologen weitere Technik erproben, um die Riffe der Ostsee und deren Lebensgemeinschaften genauer zu erforschen. Wer weiß, welche Geheimnisse man diesen Hotspots der Artenvielfalt noch entlocken kann.
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