Plastikabkommen: Was hilft wirklich gegen die Plastikflut?
Im Jahr 2040 wird die Welt höchstwahrscheinlich mehr als 40 Milliarden Tonnen Kunststoff produziert haben. 40 Milliarden Tonnen, das sind 40 000 000 000 000 Kilogramm Plastik. Manches davon ist für kurze Zeit als Plastiktüte oder Lebensmittelverpackung in Gebrauch, manches etwas länger in Kleidung oder Gebrauchsgegenständen, manches für Jahre in Möbeln, Autos oder Flugzeugen. Der überwiegende Teil jedoch wird sich früher oder später auf Deponien sammeln, Gehwege, Stadtparks, Wälder und sonst unberührte Landschaften übersäen, in Flüssen und Seen schwimmen und sich eines Tages zu dem schon vorhandenen Plastikmüll im Ozean gesellen. Denn Plastik verrottet nicht.
Um das globale Problem in den Griff zu bekommen, wollen die Vereinten Nationen ein internationales Plastikabkommen schaffen. Ab dem 25. November 2024 treffen sich die Delegationen der Länder für eine Woche zum fünften Mal, Anfang Dezember soll das bindende Abkommen schließlich stehen. Nach Einschätzungen von Experten werden die Verhandlungen hart: Denn verschiedene Interessengruppen, von Umweltschutzorganisationen bis zu Industrieverbänden, begleiten und beraten die Parteien bei den Verhandlungen. Und sie haben völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Maßnahmen man ergreifen sollte. Die Scientists' Coalition for an Effective Plastics Treaty, ein Zusammenschluss von mehr als 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, will ein Abkommen, das tatsächlich in der Lage ist, die Welt Schritt für Schritt vom Kunststoffmüll zu befreien – und das auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Entscheidungen fußt. So fordern die Fachleute, dass sich die Maßnahmen auf den gesamten Lebenszyklus von Plastik beziehen und nicht nur einzelne Aspekte wie Recycling berücksichtigt werden.
Plastikproduktion drosseln
Es ist logisch: Will man die Plastikflut stoppen, muss man an der Quelle ansetzen. Wenn immer neue Kunststoffe hinzukommen, dann wächst auch der Berg an Plastikmüll stetig an. Steigt die Herstellung der Kunststoffe wie vorhergesagt, wird sich die Jahresproduktion von 460 Millionen Tonnen im Jahr 2019 bis zum Jahr 2060 verdreifachen. Deshalb fordern Experten, die Produktion von Neuplastik auf »das unbedingt Notwendige« zu reduzieren. Als Neuplastik zählen alle Kunststoffe, die erstmals aus fossilen oder biobasierten Quellen hergestellt werden – also alle, die nicht aus Recyclingmaterial stammen.
Was genau unter »unbedingt notwendig« zu verstehen ist, muss verhandelt werden. So gibt die Scientists' Coalition auch keine klaren Zahlen dafür an, wie stark die Produktion gedrosselt werden sollte. Melanie Bergmann, die sich als Tiefseeforscherin seit mehr als 20 Jahren mit der weltweiten Verschmutzung durch Plastikmüll beschäftigt, sagt im Gespräch mit »Spektrum« dazu: »Das haben wir absichtlich nicht gemacht. Denn es gibt keine verlässliche Datenausgangslage dazu, wie viel produziert wird und in welchen Bereichen.«
Daten, Daten, Daten
Das mag erstaunen, doch es stimmt: Nicht in allen Ländern ist vorgeschrieben, dass Unternehmen die produzierten Mengen tatsächlich berichten. Aus diesem Grund fordert die Scientists' Coalition mehr Transparenz. »Wenn man Vorgaben kontrollieren will, braucht man ein verlässliches und verpflichtendes Reporting für die verschiedenen Kunststoffe, die produziert werden«, sagt Bergmann. Ohne verlässliche Daten ist ein Abkommen nutzlos, weil man nicht verfolgen kann, ob die Parteien ihre Ziele einhalten.
»Wenn man Vorgaben kontrollieren will, braucht man ein verlässliches und verpflichtendes Reporting für die verschiedenen Kunststoffe, die produziert werden«Melanie Bergmann, Biologin
Aber nicht nur zur Produktion fehlen Daten, sondern auch zum Verbleib der Kunststoffe in der Umwelt. Erstmals machten sich Forscherinnen und Forscher im Jahr 2017 die Mühe zu ermitteln, wie viel Plastik weltweit bis dahin hergestellt wurde, wie viel jährlich dazukommt – und was damit geschieht, nachdem es die Produktionsstätten verlässt. Das Team kam auf 8,3 Milliarden Tonnen Plastik, die von 1950 bis 2015 entstanden sind. Daraus sind rund 6,3 Milliarden Tonnen Plastikmüll geworden, von denen neun Prozent recycelt wurden und zwölf Prozent verbrannt. Der größte Berg jedoch habe sich »in Deponien oder der Umwelt angesammelt«: 79 Prozent. Ähnliche Zahlen nennt die OECD im »Global Plastics Outlook« von 2022, einer Bestandsaufnahme über die Produktion und den Umgang mit Kunststoffen weltweit: Nur neun Prozent des Plastikmülls seien weltweit recycelt worden, ein knappes Fünftel verbrannt. Etwa die Hälfte landete in Deponien, während 22 Prozent des Mülls als »mismanaged« verbucht wurden, also in der Umwelt landeten.
Ohne verlässliche Daten darüber, was an Kunststoffen produziert wird, in Umlauf ist, recycelt wird, was auf der Deponie landet und was in die Umwelt gelangt, wird es äußerst schwierig, bindende Ziele festzulegen und zu überwachen.
Inhaltsstoffe auf dem Prüfstand
Kunststoffe bestehen nicht nur aus reinen Polymeren wie Polyethylen (PE) oder Polypropylen (PP), sondern enthalten viele weitere Chemikalien. Diese werden entweder zugesetzt, um bestimmte Eigenschaften zu erzeugen (Additive), oder sie gelangen während der Herstellung unabsichtlich in das Material (non-intentionally added substances, kurz NIAS).
Die Welt hat von 1950 bis 2020 schätzungsweise zehn Milliarden Tonnen Kunststoffe hergestellt. Jedes Jahr kommen mehrere hundert Millionen Tonnen dazu – 2019 waren es laut OECD rund 460 Millionen Tonnen –, wobei diese Menge stetig steigt und laut Wirtschaftsprognosen in den kommenden Jahren noch stärker wachsen soll. Steigern Unternehmen ihre Produktion wie vorhergesagt, werden bis zum Jahr 2040 weltweit mehr als 20 Milliarden Tonnen Kunststoffe produziert worden sein. Da sich diese langlebigen Materialien in der Umwelt nicht zersetzen, sieht man die Auswirkungen weltweit: Kein Ort der Erde ist mehr frei von Plastikabfall, mit fatalen Folgen für Menschen, Tiere und Ökosysteme.
Welche genau das sind und welche Inhaltsstoffe wo verwendet werden, ist nicht zentral erfasst. Denn die Rezepturen für die unterschiedlichen Materialien sowie deren schlussendliche Zusammensetzung sind Firmengeheimnis. So enthalten zwei verschiedene Gebrauchsgegenstände aus Polypropylen (PP) neben dem Hauptbestandteil möglicherweise ganz unterschiedliche Substanzen. Im März 2024 veröffentlichte ein Team um den Umwelttoxikologen Martin Wagner an der Universität Trondheim eine umfassende Datenbank an Plastikinhaltsstoffen. 16 000 Chemikalien kommen demnach in Kunststoffen vor, mindestens 4000 davon kategorisierten die Wissenschaftler als »Besorgnis erregend«, weil sie besonders langlebig sind, sich in der Umwelt ansammeln, rasch in Gewässer wandern oder giftig sind. Für rund 10 000 Chemikalien, die sie fanden, lagen keine toxikologischen Daten vor.
Angesichts dieser unübersichtlichen Vielfalt sehen es Fachleute als essenziell an, gefährliche und nicht nachhaltige Kunststoffe zu reduzieren. Das fordert auch ein Team um Martin Wagner in einer 2024 erschienenen Veröffentlichung. Zunächst müssten Inhaltsstoffe und deren Toxizität erfasst werden, sagt Melanie Bergmann. Anschließend könne man Positivlisten und Negativlisten erstellen: Positivlisten mit Gruppen von Chemikalien, die nachweislich nicht schädlich sind und daher eingesetzt werden dürfen; und umgekehrt Negativlisten mit Chemikaliengruppen, die nicht mehr verwendet werden dürfen. Dieser Gruppenansatz ist der Forscherin besonders wichtig: Es sei wenig zielführend, einzelne Stoffe zu verbieten, da Hersteller dann möglicherweise auf einen ähnlichen Stoff ausweichen, der vielleicht auch schädlich oder sogar schlimmer ist.
»Regrettable substitutition« nennt man diesen Effekt, für den es prominente Beispiele gibt: Als die EU im Jahr 2011 etwa verbot, den Weichmacher Bisphenol A in Fläschchen für Babynahrung einzusetzen, weil er hormonähnlich wirkt, folgte als Ersatz das zu dem Zeitpunkt noch nicht toxikologisch untersuchte Bisphenol S, später Bisphenol F. Alle drei sind Stoffe aus derselben Klasse mit vergleichbarer hormonähnlicher Wirkung, wie man heute weiß.
Ein globales Register von Plastikinhaltsstoffen und einheitliche Regeln dafür, was wie verwendet werden darf, würde zum einen für Transparenz sorgen. Zum anderen würde die Verwendung gefährlicher Chemikalien beschränkt.
Recycling von Anfang an mitdenken
Globale Vorschriften könnten letztlich auch das Recycling vereinfachen, da der Plastikabfall dann weniger unterschiedliche Chemikalien enthielte. »Eine Vereinheitlichung würde sicherlich die Recyclingquoten verbessern. Neun Prozent sind definitiv nicht gut«, sagt Bergmann dazu.
So wichtig Recycling ist: Immer wieder warnen Forscherinnen und Forscher davor, sich in der Diskussion um Kunststoffmüll zu stark auf das Einsammeln des Abfalls und dessen Wiederverwertung zu konzentrieren. »Allein durch Maßnahmen an diesen Punkten ist des Problems nicht Herr zu werden«, betont auch Bergmann. Ohne den Blick auf den gesamten Lebenszyklus und Produktionsgrenzen sind Initiativen, den Müll zu beseitigen, letztlich Sisyphosarbeit.
Das Problem des unzureichenden Recyclings gäbe es nicht, wenn dieser Schritt von Beginn an mitgedacht würde. Forschungsgruppen weltweit arbeiten daher an neuen Kunststoffen, die bereits so entworfen werden, dass sie sich am Ende ihrer Gebrauchszeit relativ einfach wiederverwerten lassen.
Ein Wort zu »Plastic Credits«
Im Vorfeld der letzten Verhandlungsrunde zum Plastikabkommen wurde zunehmend über »Plastic Credits« diskutiert. Das Konzept kennt man vom CO2-Emissionshandel: Wer Kohlenstoffdioxidausstoß verursacht, kompensiert diesen, indem er für dieselbe Menge CO2 ein Zertifikat kauft – von einem Anbieter, der angibt, ebendiese Menge an Treibhausgas vermieden zu haben, sei es durch Baumpflanzprojekte oder Ähnliches. Zuletzt waren die Zertifikate massiv in der Kritik, eine aktuelle Studie ermittelte gar, dass die meisten der Projekte, für die man dabei Geld bezahlt, »nutzlos« für das Klima sind.
Global Plastics Treaty
Das Global Plastics Treaty oder UN-Plastikabkommen soll als internationale Vereinbarung Maßnahmen gegen die globale Verschmutzung mit Plastikmüll festschreiben. Rückstände und Abbauprodukte bedrohen auf vielfache Weise Lebensräume und ihre Bewohner. Selbst die entlegensten Regionen der Erde sind inzwischen davon betroffen.
Im März 2022 hatte die Umweltversammlung der Vereinten Nationen (United Nations Environment Assembly, UNEA) den Start von Verhandlungen für ein solches Abkommen beschlossen. In fünf Verhandlungsrunden soll das Intergovernmental Negotiating Committee (INC) einen entsprechenden Vertragsentwurf ausarbeiten, der dann in der letzten Runde Ende November 2024 im südkoreanischen Busan zur Abstimmung steht.
Diese CO2-Zertifikate dienen als Vorbild für die »Plastic Credits«: Wer eine Tonne Kunststoff produziert, kann sie durch den Erwerb einer Tonne »vermiedenen Plastiks« kompensieren. Mit solchen Zero-Plastic-Bilanzen wirbt etwa das Unternehmen Verra, das derartige Zertifikate ausstellt. Nur: Wie soll das funktionieren? »Plastik geht nicht weg – man kann es nicht kompensieren. Außer man verbrennt es, und das erzeugt CO2 und Schadstoffe«, sagt Bergmann dazu. Schon der Markt mit CO2-Zertifikaten ist quasi unmöglich zu überwachen, dabei ist das Prinzip dort vergleichsweise einfach: Eine Tonne CO2 ist immer eine Tonne CO2. Bei Plastik hingegen gibt es schier unendliche viele Möglichkeiten der chemischen Zusammensetzung. Eine Tonne PVC lässt sich auch nicht einfach mit einer Tonne PE gegenrechnen. Hinzu komme die schlechte Datenlage. »Wir haben jetzt schon keine richtig verlässlichen Zahlen zu Produktion und Müllbeseitigung. Wie will man denn da eine verlässliche Überwachung erreichen?«
Effektive Lösungen für das Plastikproblem
All die verschiedenen Lösungen diskutieren die Delegationen von rund 200 Staaten bis zum 2. Dezember 2024 im koreanischen Busan. Die Hoffnung ist, dass am Ende ein bindendes Abkommen steht, mit dem die Flut an Plastikmüll wirkungsvoll eingedämmt wird. Wie immer bei solchen multilateralen Verhandlungen wird am Ende ein Kompromiss geschlossen werden. Einige Staaten, darunter auch Deutschland und die EU-Länder, setzen sich als »High Ambition Coalition« für ehrgeizige Ziele ein, ebenso viele afrikanische Länder. Andere wollen die Ziele nicht zu hoch stecken.
Bevor aber Details über die genaue Ausgestaltung besprochen werden, müssen sich die Verhandlungsparteien erst auf Grundsätzliches einigen: So steht noch immer die Frage im Raum, ob das Gremium Entscheidungen künftig per Mehrheitsbeschluss treffen kann oder ob alle Beschlüsse einstimmig erfolgen müssen, einzelne Länder also ein Vetorecht haben. Bei einem Mehrheitssystem wäre das Gremium immer noch handlungsfähig, wenn einzelne Parteien blockieren. Aus Melanie Bergmanns Sicht muss das Abkommen auch noch nicht in jeder Hinsicht perfekt sein. Wichtig sind ihr aber überprüfbare Ziele und Anker im Text für weitere Maßnahmen, so dass man später noch nachsteuern kann.
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