Demografie: Problem Mann
Junge oder Mädchen? Was den meisten werdenden Eltern hierzulande egal ist, kann in einigen Regionen Asiens zur Überlebensfrage werden. Dort wächst eine Generation heran, in der Millionen Männer frau- und kinderlos bleiben dürften. Die Einschätzung der Folgen reicht bis hin zur Bedrohung des Weltfriedens durch die einsamen Herzen.
1992 kamen in Südkorea auf hundert neugeborene Mädchen 229 Jungen – beim vierten Kind. Alle Neugeborenen betrachtet, zählten die offiziellen Stellen immer noch pro hundert Mädchengeburten 114 männliche Sprösslinge. In manchen Provinzen Indiens erblicken ein Viertel mehr Jungen das Licht der Welt, in ländlichen Regionen Chinas sogar fast ein Drittel. Und damit endet der Skandal nicht: Werden sie nicht schon als Neugeborene getötet, sorgt weitere Vernachlässigung und mangelhafte medizinische Versorgung dafür, dass so manches Mädchen kaum das Schulalter erreicht. Das vom Vater beigesteuerte X im Chromosomensatz wird zum tödlichen Kreuz für den weiblichen Nachwuchs.
Dabei ist es ganz normal, dass mehr Jungen als Mädchen auf die Welt kommen – schon 1710 beschrieben der frühe Statistiker John Graunt und seine Kollegen das Phänomen an der damaligen Londoner Bevölkerung. Heute stehen im globalen Durchschnitt hundert weiblichen Neugeborenen 105 bis 107 männliche gegenüber. Normalerweise sorgt dann die höhere Sterblichkeit auf männlicher Seite für den Ausgleich.
Prinzen statt Prinzessinnen
In vielen Ländern Asiens aber werden Jungen höher geschätzt als Mädchen: Sie dürften später als Arbeiter mehr Geld nachhause bringen, sie führen die Stammeslinie der Familie fort, sind in der Regel die Erben des Familienbesitzes und gleichzeitig Altersversicherung der Eltern, um die sie sich kümmern werden. Ihre Schwestern hingegen gelten als pure wirtschaftliche Belastung, weil sie eine teure Mitgift erfordern und nach der Heirat der angeheirateten und nicht der eigenen Familie dienen – reine Kostenverursacher also ohne späteren Nutzen. Zwei Faktoren ließen daher den prä- wie postnatalen Mädchenmord explodieren: die Verbreitung der Ultraschalltechnik, die eine geschlechtsspezifische Abtreibung ermöglichte, und die politische Vorgabe hin zur Kleinfamilie mit womöglich nur einem erlaubten Kind wie in China, welche die Chance auf den Wunschsohn drastisch einschränkte und damit Mädchen noch unbeliebter machte.
Obwohl sich die medizinische Versorgung auch für Mädchen inzwischen gebessert hat und einige Regierungen beispielsweise strenge Strafen für Ärzte und Hebammen verhängt haben, die Eltern vor der Geburt das Geschlecht des Kindes verraten und womöglich eine Abtreibung vornehmen, kommt jetzt eine Generation ins Heiratsalter, in der hundert Millionen Frauen fehlen – geschätzt. Oder anders gesagt: In der hundert Millionen Männer wahrscheinlich keine Familie gründen werden, und das in Gesellschaften, in denen Heirat und Kinder zu den höchsten Statussymbolen zählen. Wie sieht ihre Zukunft aus?
Wenig rosig, so fassen Therese Hesketh vom University College in London und Zhu Wei Xing von der Zhejiang Normal University den aktuellen Forschungsstand zusammen. Meist werden davon Männer mit schlechter Ausbildung und niedrigem sozioökonomischen Status betroffen sein – bleibt den Frauen die große Auswahl, heiraten sie eher aussichtsreichere Kandidaten. Damit wächst die Zahl junger Männer aus schwächeren sozialen Schichten, die ihr Single-Dasein noch weiter an den Rand der Gesellschaft treibt – und die auch einen Ausweg für unerfüllte sexuelle Befriedigung suchen.
Gewalt im Anmarsch?
Forscher fürchten daher eine Zunahme asozialen Verhaltens und Gewalt, die sogar die Stabilität und Sicherheit der Gesellschaft bedrohen könnten. Nicht umsonst zeigten verschiedene Datengrundlagen, dass Verbrechen überwiegend von jungen, unverheirateten Männern aus unteren Schichten verübt werden. Eine Studie in Indien offenbarte einen engen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Morden und dem Männerüberschuss in verschiedenen Provinzen, nachdem Faktoren wie Armut oder Verstädterung berücksichtigt wurden. Manche Wissenschaftler gehen sogar so weit zu vermuten, dass sich diese Benachteiligten womöglich gar von militärartigen Gruppierungen angezogen fühlen und sich so die Gefahr organisierter Gewalt bis auf internationale Ebene steigern könnte.
Die Gewalt richte sich dabei nicht unbedingt vermehrt gegen Frauen, betonen Hesketh und Xing. Zumindest scheint die Zahl der Prostituierten oder auch verschleppter Frauen nur bedingt mit der Verzerrung des Geschlechtsverhältnisses zusammenzuhängen – wobei die Datenlage hier sehr lückenhaft ist. Allerdings droht den Frauen womöglich neue Gewalt auf ganz andere Weise: Erfahren sie nun als "seltenes Gut" vielleicht höhere Wertschätzung, kommt ihnen das nicht unbedingt direkt zugute. Vielmehr könnten die Männer um sie herum davon profitieren wollen – Vater, Ehemann, Verwandte –, die darum versuchen dürften, das Leben ihres "Schatzes" noch stärker zu kontrollieren.
Bleibt die Frage: Was tun? Die Lücke in der Generation der aktuellen Familiengründer lässt sich nicht mehr schließen. Das Ziel muss aber sein, das Ungleichgewicht in folgenden Generationen zu mindern. Südkorea, in dem einst der technische Fortschritt sehr früh und sehr ausgeprägt das Geschlechtsverhältnis verzerrte, berichtet bereits erste Erfolge. Allein nach der harten Bestrafung von acht Ärzten aus Seoul, denen nach einer vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung die Lizenz entzogen wurde, sank das Verhältnis von neugeborenen Jungen zu hundert Mädchengeburten innerhalb eines Jahres von 117 auf 113. Auch Öffentlichkeitsarbeit zeigte dort große Erfolge. Hesketh und Xing halten es hier für aussichtsreicher, wenn die die zunehmender Probleme der jungen Männer bei der Brautsuche hingewiesen wird, als die Diskriminierung weiblicher Föten und Kinder zu thematisieren.
Erste Anzeichen von Umdenken
Um den Kostenfaktor "Mädchen" zu senken, sollte ihrer Ansicht nach die grundlegende medizinische Versorgung kostenlos sein, damit mangelndes Geld nicht mehr als Ausrede für eine entsprechende Vernachlässigung dienen kann. Und Eltern ohne Söhne sollten angemessene Unterstützung im Alter erhalten, damit sie nicht benachteiligt sind gegenüber den Nachbarn mit männlichem Nachwuchs.
In einer kürzlich durchgeführten Umfrage sagten 37 Prozent der befragten jungen chinesischen Frauen aus vorwiegend urbanen Gebieten, ihnen wäre das Geschlecht ihres Kindes gleichgültig. 45 Prozent äußerten die Überzeugung, eine ideale Familie habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Etwa ebenso viele erklärten sogar, bei nur einem Kind wäre ihnen ein Mädchen lieber. "Es gibt also eindeutige Anzeichen für den notwendigen und grundlegenden Wandel der Einstellung", schließen daher die Autoren. "Für die vielen jungen Männer und Jungen von heute aber ist der Schaden schon geschehen."
Dabei ist es ganz normal, dass mehr Jungen als Mädchen auf die Welt kommen – schon 1710 beschrieben der frühe Statistiker John Graunt und seine Kollegen das Phänomen an der damaligen Londoner Bevölkerung. Heute stehen im globalen Durchschnitt hundert weiblichen Neugeborenen 105 bis 107 männliche gegenüber. Normalerweise sorgt dann die höhere Sterblichkeit auf männlicher Seite für den Ausgleich.
Prinzen statt Prinzessinnen
In vielen Ländern Asiens aber werden Jungen höher geschätzt als Mädchen: Sie dürften später als Arbeiter mehr Geld nachhause bringen, sie führen die Stammeslinie der Familie fort, sind in der Regel die Erben des Familienbesitzes und gleichzeitig Altersversicherung der Eltern, um die sie sich kümmern werden. Ihre Schwestern hingegen gelten als pure wirtschaftliche Belastung, weil sie eine teure Mitgift erfordern und nach der Heirat der angeheirateten und nicht der eigenen Familie dienen – reine Kostenverursacher also ohne späteren Nutzen. Zwei Faktoren ließen daher den prä- wie postnatalen Mädchenmord explodieren: die Verbreitung der Ultraschalltechnik, die eine geschlechtsspezifische Abtreibung ermöglichte, und die politische Vorgabe hin zur Kleinfamilie mit womöglich nur einem erlaubten Kind wie in China, welche die Chance auf den Wunschsohn drastisch einschränkte und damit Mädchen noch unbeliebter machte.
Obwohl sich die medizinische Versorgung auch für Mädchen inzwischen gebessert hat und einige Regierungen beispielsweise strenge Strafen für Ärzte und Hebammen verhängt haben, die Eltern vor der Geburt das Geschlecht des Kindes verraten und womöglich eine Abtreibung vornehmen, kommt jetzt eine Generation ins Heiratsalter, in der hundert Millionen Frauen fehlen – geschätzt. Oder anders gesagt: In der hundert Millionen Männer wahrscheinlich keine Familie gründen werden, und das in Gesellschaften, in denen Heirat und Kinder zu den höchsten Statussymbolen zählen. Wie sieht ihre Zukunft aus?
Wenig rosig, so fassen Therese Hesketh vom University College in London und Zhu Wei Xing von der Zhejiang Normal University den aktuellen Forschungsstand zusammen. Meist werden davon Männer mit schlechter Ausbildung und niedrigem sozioökonomischen Status betroffen sein – bleibt den Frauen die große Auswahl, heiraten sie eher aussichtsreichere Kandidaten. Damit wächst die Zahl junger Männer aus schwächeren sozialen Schichten, die ihr Single-Dasein noch weiter an den Rand der Gesellschaft treibt – und die auch einen Ausweg für unerfüllte sexuelle Befriedigung suchen.
Gewalt im Anmarsch?
Forscher fürchten daher eine Zunahme asozialen Verhaltens und Gewalt, die sogar die Stabilität und Sicherheit der Gesellschaft bedrohen könnten. Nicht umsonst zeigten verschiedene Datengrundlagen, dass Verbrechen überwiegend von jungen, unverheirateten Männern aus unteren Schichten verübt werden. Eine Studie in Indien offenbarte einen engen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Morden und dem Männerüberschuss in verschiedenen Provinzen, nachdem Faktoren wie Armut oder Verstädterung berücksichtigt wurden. Manche Wissenschaftler gehen sogar so weit zu vermuten, dass sich diese Benachteiligten womöglich gar von militärartigen Gruppierungen angezogen fühlen und sich so die Gefahr organisierter Gewalt bis auf internationale Ebene steigern könnte.
Die Gewalt richte sich dabei nicht unbedingt vermehrt gegen Frauen, betonen Hesketh und Xing. Zumindest scheint die Zahl der Prostituierten oder auch verschleppter Frauen nur bedingt mit der Verzerrung des Geschlechtsverhältnisses zusammenzuhängen – wobei die Datenlage hier sehr lückenhaft ist. Allerdings droht den Frauen womöglich neue Gewalt auf ganz andere Weise: Erfahren sie nun als "seltenes Gut" vielleicht höhere Wertschätzung, kommt ihnen das nicht unbedingt direkt zugute. Vielmehr könnten die Männer um sie herum davon profitieren wollen – Vater, Ehemann, Verwandte –, die darum versuchen dürften, das Leben ihres "Schatzes" noch stärker zu kontrollieren.
Bleibt die Frage: Was tun? Die Lücke in der Generation der aktuellen Familiengründer lässt sich nicht mehr schließen. Das Ziel muss aber sein, das Ungleichgewicht in folgenden Generationen zu mindern. Südkorea, in dem einst der technische Fortschritt sehr früh und sehr ausgeprägt das Geschlechtsverhältnis verzerrte, berichtet bereits erste Erfolge. Allein nach der harten Bestrafung von acht Ärzten aus Seoul, denen nach einer vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung die Lizenz entzogen wurde, sank das Verhältnis von neugeborenen Jungen zu hundert Mädchengeburten innerhalb eines Jahres von 117 auf 113. Auch Öffentlichkeitsarbeit zeigte dort große Erfolge. Hesketh und Xing halten es hier für aussichtsreicher, wenn die die zunehmender Probleme der jungen Männer bei der Brautsuche hingewiesen wird, als die Diskriminierung weiblicher Föten und Kinder zu thematisieren.
Erste Anzeichen von Umdenken
Um den Kostenfaktor "Mädchen" zu senken, sollte ihrer Ansicht nach die grundlegende medizinische Versorgung kostenlos sein, damit mangelndes Geld nicht mehr als Ausrede für eine entsprechende Vernachlässigung dienen kann. Und Eltern ohne Söhne sollten angemessene Unterstützung im Alter erhalten, damit sie nicht benachteiligt sind gegenüber den Nachbarn mit männlichem Nachwuchs.
In einer kürzlich durchgeführten Umfrage sagten 37 Prozent der befragten jungen chinesischen Frauen aus vorwiegend urbanen Gebieten, ihnen wäre das Geschlecht ihres Kindes gleichgültig. 45 Prozent äußerten die Überzeugung, eine ideale Familie habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Etwa ebenso viele erklärten sogar, bei nur einem Kind wäre ihnen ein Mädchen lieber. "Es gibt also eindeutige Anzeichen für den notwendigen und grundlegenden Wandel der Einstellung", schließen daher die Autoren. "Für die vielen jungen Männer und Jungen von heute aber ist der Schaden schon geschehen."
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