Tierschutzgesetz: Vom Leid qualgezüchteter Hunde
Leo ist nervös. Vor ihm liegt eine Operation, die hoffentlich sein leidiges Leben verändert. Schwer atmend und überhitzt kam er am Morgen aus Dresden in die Leipziger HNO. Eine Weile haben es sich seine Begleiter mit angesehen. Haben die Urlaube ihm zuliebe im kühlen Norden verbracht. Keine großen Spaziergänge. Wenn er sich mal wieder verschluckt hatte und davon eine Lungenentzündung bekam, wachten sie nächtelang an seinem Schlaflager, lagerten sein rundes Köpfchen hoch, falls er Lufthunger bekam. Und wenn er sich nach dem Fressen mal wieder übergeben musste, putzten sie selbstverständlich das Erbrochene weg.
Leo ist vier Jahre alt. Ohne OP hätte er statistisch noch weitere vier bis fünf. Und die verbrächte er vermutlich schwer leidend. Eigentlich werden Hunde seiner Größe um die zwölf. Er wurde aber als Französische Bulldogge geboren – eine Hunderasse, die es sehr oft mit ererbter Atemnot zu tun hat. Diagnose: BOAS – Brachyzephales obstruktives Atemwegssyndrom. Bei ihm sind auf Grund seiner angezüchteten Kurzköpfigkeit die Atemwege verlegt.
Wenn Schnarchen mit Luftnot zum Hintergrundrauschen wird
Das Syndrom – entstanden durch jahrzehntelange Zucht hin zu übertypisierten niedlichen Schoßhündchen – ist ein gravierendes globales Tierschutzproblem. Trotz offensichtlichen Leidens, mannigfacher wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu und zahlloser Versuche, darüber aufzuklären, verbreiten sich Mops und Co. in den letzten Dekaden weltweit in atemberaubendem Tempo. Wie Leo geht es weltweit hunderttausenden Plattnasen, deren Herrchen und Frauchen es mit dem Tierschutz nicht so eng sehen wollen oder können. Denn Forschungen aus mehreren europäischen Ländern zeigen: Gerade Besitzerinnen und Besitzer von Mops, Englischen und Französischen Bulldoggen, nehmen es mitunter gar nicht wahr, dass ihre Tiere leiden. In Umfragen gaben über die Hälfte an, dass ihr Schützling kein Atemproblem habe. Und auch wenn sie selbst eindeutige BOAS-Symptome bei ihren Hunden beschrieben, erkannten sie diese nicht als solche.
Mehr als zwei Drittel behaupteten in einer Studie von 2019 gar, ihr Hund sei sehr gesund oder ihm gehe es bestmöglich. Die Forschenden um Rowena Packer vom Royal Veterinary College in Herfortshire ordneten dieses Paradox im Bereich kognitive Dissonanz ein: Die Halter seien sich der Gesundheitsprobleme der Rasse ihres Hundes bewusst, empfänden es aber als psychologisch unangenehm, die Probleme bei ihrem eigenen Tier zu akzeptieren. Atemnot von Plattnasen ist auch psychologisch ein komplexes Thema.
Übrigens haben Mops und Bulldogge ihrerseits nur eingeschränkte Möglichkeiten, über ihre Mimik zu kommunizieren. Wegen des verkürzten Gesichtsschädels sind bei ihnen Muskeln verkleinert oder verlaufen anders. Das kann zu Missverständnissen sowohl mit anderen Hunden als auch mit Menschen führen. Der neutrale Ausdruck kurzköpfiger Hunde – mit weit geöffneten Augen, Stierblick und scheinbar gerümpfter Nase – kann für einen vorbeikommenden Vierbeiner als Drohgebärde gelesen werden. Gleichzeitig werden in einem derart verkürzten Gesicht Zeichen von Unterwürfigkeit verunmöglicht, aber auch das defensive Fletschen aller Zähne. Halter von Bulldoggen beschreiben, dass ihr entspannter Hund plötzlich und unvermittelt von anderen angegriffen wird.
Die Tierschutznovelle als neuer Anlauf
Tiere zu schützen ist in Deutschland erklärtes Staatsziel, es steht in unserer Verfassung. Bereits seit 2006 ist es laut Tierschutzgesetz verboten, Wirbeltiere mit erblich bedingten Defekten zu züchten, wenn hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten. Solche mit Leid verbundenen Extremzuchten gibt es nicht nur bei Hund und Katze, sondern auch bei Rind, Goldfisch oder Taube. Das Thema Qualzucht ist schwer zu handeln. Eine aktuelle Novellierung des Tierschutzgesetzes soll helfen.
Schon jetzt ist es möglich, Zucht mit Einzeltieren, die Qualzuchtmerkmale aufweisen, zu untersagen. Auch das Ausstellen solcher Tiere ist verboten. Es mangelt aber oft an der Durchsetzung. In der letzten Woche (am 26.9.) ging es im Bundestag um eine mögliche Überarbeitung des Tierschutzgesetzes. Der Gesetzesvorschlag führt in aktuell 18 Punkten erstmals konkrete Ausprägungen von Merkmalen und Symptomen an. Wenn zu erwarten ist, dass eines oder mehrere davon bei den Nachkommen auftreten, dürften einzelne Tiere nicht miteinander verpaart werden. Auf der Liste stehen beispielsweise Blindheit, Entzündungen der Haut und ganz zuvorderst: Atemnot. Über die Hälfte der aufgeführten Punkte sind für Hunde mit BOAS typisch.
Dennoch würde das zunächst nicht bedeuten, dass es künftig keinen Mops oder Dackel mehr geben darf. Es geht um Individuen, die dauerhaft, regelmäßig und nicht nur vorübergehend leiden. Die Gesetzesnovelle wird nun erst einmal weiter im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft beraten.
Cruel cat content
Beispielsweise führt ein unvollständig dominantes Gen bei Scottish-Fold-Katzen nicht nur zu nach vorne gekippten Ohren und dem typischen eulenartigen Gesichtsausdruck, sondern auch zu schweren Knorpelschäden und extrem schmerzhaften Skelettveränderungen. Das beginnt manchmal bereits wenige Wochen nach der Geburt, ein andermal erst, wenn die Katzen ein halbes Jahr alt sind, und schreitet unaufhörlich fort.
Da sich Katzen unter chronischen Schmerzen oft zurückziehen, kommt es mitunter zu Fehlinterpretationen. Wie beim Schoßhündchen lesen ihre Menschen das viele Liegen und wenige Umherspringen als Teil eines besonders ruhigen Charakters. Hochgradige Schmerzen haben die Tiere trotzdem. Eine Röntgenaufnahme verdeutlicht mitunter desaströse Knochenwucherungen und zerstörte Füße. Bestrahlung und lebenslange Gabe von Schmerzmitteln sollen das Leid lindern. Damit solches gar nicht erst entsteht, wurde die Qualzucht in vielen Ländern schon bald verboten, auch im namensgebenden Entstehungsland der Mutation. Dennoch gibt es die Rasse weiterhin. Beispielsweise in den USA, wo sie auch durch Stars wie Taylor Swift und Ed Sheeran über die sozialen Medien populär wurde.
»Luftnot ist viel schlimmer als ein starker Schmerz«Jenny McIntosh, Änesthesiologin
Vor der Social-Media-Ära spielte manchmal auch der Movie-Star-Effekt eine Rolle. Ein Beispiel: Nachdem 1985 der Film »101 Dalmatiner« wiederveröffentlicht worden war, kam es zu einem massiven Anstieg von Dalmatiner-Welpen. Die Zahl verfünffachte sich von knapp 8200 auf über 42 000! Die Studie dazu nannte der Autor passenderweise »42 000 und ein Dalmatiner«. Mit Untertitel: Modehype, Soziale Ansteckung und Hunderassen.
Mit der Tierschutznovelle käme auch das Verbot, qualgezüchtete Tiere in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Bulldogge und Mops halten für Dinge wie eine Morgensendung im Radio, Hundefutter oder die BahnCard 25 her, obgleich eine Studie zeigte, dass das Verwenden von Qualzuchten auch negativen Einfluss auf das Ansehen des Werbenden haben kann – insbesondere wenn die Befragten von BOAS wussten. Das gesetzliche Werbeverbot gälte auch für Instagram. Unabhängig von Tierschauen, wo es bereits jetzt untersagt ist, Hunde mit Zuchtdefekten zu zeigen.
In Österreich, das 2024 das Tierschutzrecht novellierte, gilt das Werbeverbot auch für mit KI generierte Bilder von Qualzuchten, wie ein aktuelles Urteil bestätigt. Übrigens sind dort nun auch Verkauf und Erwerb eines Tieres mit Qualzuchtmerkmalen verboten. Es gibt nur wenige Ausnahmen: beispielsweise wenn es vererbt, verlassen oder beschlagnahmt wurde.
Das Nasenmärchen
Die Niederlande haben die Nasenampel eingeführt. Ist die Schnauze zu kurz, steht sie auf Rot und die Zucht wird verboten. Die Holländer verlassen sich dabei nicht allein auf die Nasenlänge. Zusätzlich darf das Tier in Ruhe keine lauten Atemgeräusche von sich geben, und die Nasenfalten dürfen weder feucht sein noch dürfen Härchen in das Auge reichen. Eine relativ lange Nase heißt nicht automatisch frei atmend, und es gibt in Ausnahmefällen sogar Hunde mit sehr platter Nase, die einigermaßen gesund durch das Leben kommen. Die Erkrankung ist komplex. Genau wie die Anatomie von der Nasenspitze bis zur Lunge.
Die Beurteilung von BOAS ist nicht einfach. Nur auf Genetik oder Nasenlänge zu achten, reicht nicht. Das Züchten hin zu längeren Nasen ist im Prinzip nicht falsch, das Verkaufsargument »lange Mopsnase gleich frei atmend« jedoch eine Mär. Dem äußeren Anschein nach hat die Französische Bulldogge Leo keine extrem kurze Nase und dennoch große Probleme. Die Schnauzenlänge als Maß für gutes Atmen greift deutlich zu kurz. Kathleen Höhns nennt es »das Nasenmärchen«. Sie kennt sich mit den inneren Problemzonen von Mops, Französischer und Englischer Bulldogge bestens aus. Die leitende Obertierärztin der HNO-Abteilung in der Klinik für Kleintiere der Uni Leipzig arbeitet und forscht seit vielen Jahren am BOA-Syndrom.
Verkorkste Anatomie
Bevor Leo in den OP geschoben kam, war er noch kurz im Computertomografen (CT). Nun checken Höhns und ihr Team sorgsam den Status quo der oberen Atemwege. Die Nasenlöcher sind viel zu eng, das Gaumensegel hängt schlabbrig über dem Kehlkopf, die Nasenmuscheln sind krüppelig und naseverstopfend ungerichtet im Atemstrom, sorgen für Turbulenzen, erhöhen so den Atemwiderstand. Die Mandeln, groß wie Kartoffeln, drücken von der Seite auf die Kehle.
Das CT zeigt eine chirurgisch unveränderbare Stelle: den Nasenrachen. Er ist bei Leo ziemlich klein. Ziel der OP wird sein, Engstellen in den Atemwegen so weit wie möglich zu beheben. Wie in der Klimaforschung gelten die Regeln der Physik. Und auch für Gas-Wasser-Installateure ist klar: Jede Erweiterung des Querschnitts durch ein Rohr ermöglicht eine deutliche Erhöhung der Durchflussmenge. Menschen mit Asthma wissen das sowieso.
Hunde sind obligate Nasenatmer. Sie brauchen ihr Riechorgan aber nicht nur zum Atmen, sondern auch, um ihre Körpertemperatur zu regulieren. Das liegt daran, dass Hunde außer über ihre Pfoten nicht schwitzen können. Beim Vorbeistreichen kühler Luft über die Zunge während des Hechelns kann zwar über Evaporation Wärme abgegeben werden. Eine effektive Kühlung bei Hitze bietet jedoch nur das verzweigte System der Nasenmuscheln. So bekommt die Nasenschleimhaut eine enorm große Oberfläche für die Abgabe übermäßiger Wärme.
In der Nase manches kurzschnäuzigen Hundes liegen die Nasenmuscheln allerdings auf kleinstem Raum zusammengedrängt und nach vorn und hinten verkrüppelt im Weg der kühlenden Atemluft. Bereits die Nasenlöcher sind manchmal so klein, dass kaum Luft durchkommt. Wenn die Vierbeiner dann nur noch durch den Mund atmen, können Spaziergänge an heißen Sommertagen lebensgefährlich werden.
Kathleen Höhns erläutert während der Operation: »Also wir bauen die kaputte Klimaanlage aus. Wir können aber keine neue einbauen. Das heißt, wir haben weiterhin einen Hund, der sehr wahrscheinlich temperaturintoleranter bleibt als gesunde Artgenossen. Doch zumindest haben wir eine deutlich geringere Gefahr für eine Verlegung der Atemwege.«
Es ist zum Brechen!
Herrchen und Frauchen brachycephaler Rassen kennen das: Kaum hat der Hund gefressen, kommt die Nahrung wieder raus. Im Alter wird es immer ärger, weil das Bindegewebe schwächer und lockerer wird. Auch Magen und Dünndarm können betroffen sein. Bis zu 97 Prozent der vom BOAS betroffenen Hunde leiden unter Magen-Darm-Beschwerden.
Das liegt unter anderem am zu langen und schlabbrigen Gaumensegel. Dieser weiche Teil des Gaumens ist bei uns Menschen dort, wo das Zäpfchen hängt. Wir sehen es, wenn wir den Mund weit öffnen. Mit jedem Atemzug pappt das viel zu lange Gaumensegel beim BOAS-Hund mit dem Kehlkopf zusammen, klatscht labberig über den Eingang zur Luftröhre. So wird der Luftweg ventilartig verschlossen. Beim Einatmen kommt es so zu Unterdruck im Brustkorb. Auf Dauer führt dieser zu Aussackungen durch Lähmungen der Schluckmuskulatur in der Speiseröhre. Der ständige Sauerstoffmangel schadet schließlich Hirn und Herz. Für uns Menschen würde sich das vielleicht so anfühlen, als hätten wir einen von einem Insektenstich angeschwollenen, weichen Gaumen.
Schlaflos im Sitzen
Viele der Hunde mit BOAS können einfach nie richtig schlafen, weil sie sonst ersticken würden! Ein auf dem Boden entspannt abgelegtes Köpfchen geht kaum. Sie laufen dann Gefahr, dass die große Zunge gegen das schlappe Gaumensegel und dieses gegen den Nasenrachen drückt. Weder Nasen- noch Maulatmung sind dann mehr möglich. Die Tiere müssen also ihren Kopf hochlagern oder schlafen nur im Sitzen. Andere belassen ihr Spielzeug im Maul, damit es die Atemwege offen hält.
»Luftnot ist viel schlimmer als ein starker Schmerz. Nicht atmen zu können, nicht Luft holen zu können ist wirklich ein sehr quälender Zustand. Egal ob bei Mensch oder Tier. Wenn man das mal selbst empfunden hat, weiß man vielleicht, wie schlecht es den Tieren geht«, so Jenny McIntosh, die Anästhesiologin im HNO-Team.
Nach der Verkleinerung übergroßer Rachenmandeln und der Kürzung und Raffung des zu langen und schlabbrigen Gaumensegels muss auch Leos Nase frei gelegt werden. Oberärztin Höhns entfernt störende Strukturen, belässt Teile auf der weniger betroffenen Nasenseite, damit die Klimaanlage wenigstens etwas funktionieren kann. Welche Seite das ist, hat sie zuvor auch anhand des CT-Bilds mit ihren Kolleginnen besprochen. Zum Schluss kommen nach reiflicher Überlegung noch die Nasenlöcher dran. Jede mögliche Engstelle ist jetzt erweitert worden. Mehr geht nicht. Doch am Ende stehen die Chancen gut, dass der Patient nach der OP wieder recht gut atmen kann.
Den Lufthunger stillen
Auch wenn er wohl weiterhin Probleme mit seiner Temperaturregulation haben wird, kann er mit deutlich verbesserter Prognose weiterleben und so mancher Kollateralschaden verhindert werden. Allgemein gilt: so früh wie möglich operieren! Ein chirurgischer Eingriff lohnt auch noch im mittleren Hundealter bei guter Prognose. Nun muss Leo erst einmal langsam aus der Narkose herausgeholt werden. Darf sich nicht aufregen, damit an den frischen OP-Wunden nichts schwillt. Dafür bleibt er mit Beruhigungs- und Schmerztropf noch über Nacht, kommt am nächsten Tag zu seinen liebevollen Besitzern in die vertraute Umgebung. Auch bei Haustieren hilft das bei der Genesung hin zu einer deutlich verbesserten Lebensqualität.
»Die Hoffnung ist, dass er nun besser durch den Sommer kommt, er nicht mehr nur im Dunkeln oder nachts draußen spazieren gehen kann, sondern die warmen Tage besser durchsteht«, sagt Narkosetierärztin McIntosh.
Anders als Leos Halter kümmern sich andere nicht um das Grundleiden ihres Schützlings. Die Unterstellung, das Leid mutwillig in Kauf zu nehmen, wäre undifferenziert und unfair. Wie erwähnt, erkennen viele den dramatischen Gesundheitszustand ihres Mopses oder ihrer Bulldogge schlichtweg nicht. Und es gibt viele Gründe, einen Schoßhund mit Atemwegsproblemen zu besitzen. Manchmal hat man ihn von einer alten Person adoptiert, die ins Pflegeheim muss. »Das ist normal, das hat er immer schon gehabt«: Das ist eins der häufigen Argumente, die Tierärzte und Tierärztinnen sich die Haare raufen lassen. In der Sprechstunde argumentieren Herrchen und Frauchen: Wenn das Tier so entspannt sei, könne es denn wirklich so schlimm sein? Was vielen nicht bewusst ist: Da bei Mops und Bulldogge der gemütliche Charakter per Zucht gewollt ist, fällt es nicht auf, dass sie schlicht nicht laufen können, so Forschende.
Das Leid objektivieren
In einer finnischen Studie von 2023 wurde besitzerunabhängig die Bewegungsintensität von an BOAS erkrankten Hunden gemessen: Am Halsband getragene Sensoren zeigten, dass sich die Tiere deutlich weniger bewegten als von den Halterinnen und Haltern angegeben. Allein das Alter ist ein objektives allgemeines Maß für die Lebensgesundheit. BOAS-Hunde sterben unbehandelt meist noch vor ihrem achten Lebensjahr, schaffen somit knapp zwei Drittel des typischen Durchschnittsalters für Hunde ihrer Größe.
Auch wird versucht, über Kortisolwerte im Speichel den Atemstress auf den Organismus zu bewerten. Oder den Atemwiderstand in Ruhe zu messen, während der Hund entspannt in einer barometrischen Ganzkörperkapsel sitzt.
Wie das Tier auf Belastung reagiert, soll der so genannte Cambridge-Test zeigen. Ihn haben Tierärztinnen und Tierärzte mit jahrzehntelanger Expertise aus dem BOAS-Forschungsbereich der britischen Veterinärschule entwickelt. Atemgeräusche werden vor und nach einem Belastungstest tierärztlich erfasst und mittels des so genannten RFG-Schemas bewertet. Grad 0 und 1 bedeutet klinisch nicht betroffen, die Grade 2 und 3 leicht- bis schwerstbeeinträchtigt. Die Belastung: drei Minuten zügiges Laufen.
Nur drei Minuten
Ein ausgedehnter Strandspaziergang ist das bei Weitem nicht. Zügig heißt: etwas schneller, als ein Mensch durchschnittlich geht. Der Hund soll dabei durchgehend traben, mit möglichst gleich bleibender Geschwindigkeit. Tiere, die keinerlei sportliche Betätigung vertragen, unabhängig von Erkrankungen wie Arthrose, werden nicht getestet. Sie fallen automatisch in den schwersten Grad. Mit ihnen sollte keinesfalls gezüchtet werden.
»Manchmal zweifelt man daran, dass die Leute die Problematik wirklich verstanden haben«Kathleen Höhns, HNO-Spezialistin für Kleintiere
Kritikwürdig: Die Außentemperatur ist während der Evaluierung nicht vorgegeben. Die ist allerdings, wie gezeigt, für von BOAS betroffene Tiere sehr relevant. An einem heißen Tag sind andere Ergebnisse erwartbar als unter kühlen Bedingungen. Dennoch ist der Cambridge-Test ein praktikabler Versuch, den Schweregrad des Leidens unter Belastung zu objektivieren. Er ermöglicht es zu erkennen, wie schwer eine Plattnase beeinträchtigt ist. Notwendige Behandlungen können frühzeitig beginnen, bevor lebensgefährliche Symptome und Kollateralschäden auftreten.
Zudem macht der Funktionstest eindrücklich darauf aufmerksam, dass es eben nicht normal ist, wenn ein Mops bereits in Ruhe für das menschliche Ohr hörbar schnauft oder gar röchelt beim Atmen. Oder die Bulldogge nach kurzem Trab zunächst Schaum und Spucke runterschlucken muss. Nach nur drei Minuten. Dass es pathologisch ist, wenn eine Bulldogge eine blaue Zunge bekommt und vielleicht gar ohnmächtig wird, wenn sie diese relativ leichten Übungen macht, sollte spätestens dann jedem bewusst werden.
Rückzuchtbemühungen
Damit Hunderassen wie Mops und Französische und Englische Bulldogge weiter bestehen können, wird versucht, gezielt in die Zucht einzugreifen. Hochgradig von BOAS betroffene Tiere werden ausgeschlossen. Fachleute gehen davon aus, dass eine Rückzüchtung durchaus möglich und sinnvoll ist. Nur: Das wird einige Generationen dauern.
Bis ein ausgedehnter Strandspaziergang für alle möglich ist, werden die meisten unbehandelten höhergradig betroffenen Tiere Schoßhündchen bleiben müssen. So lange heißt es, dem Hundeblick zu widerstehen, Leckerlis einzuschränken und Übergewicht besonders beim alternden Hund zu vermeiden. So bleibt mehr Platz im Nasenrachen für die Atemluft. Derzeit gilt für diese Rassen: Komplett »frei atmend« gibt es nicht!
Auch dem Verband für das Deutsche Hundewesen (VDH) ist klar, dass die Schnauzenlänge brachyzephaler Rassen kein Indikator für gutes Atmen ist. Der Cambridge-Belastungstest wird dort gerade nach und nach eingeführt. Die Resultate sind bindend für die Zulassung zur Zucht von Möpsen, Englischen und Französischen Bulldoggen. So soll die Rückzucht hin zu klinisch gesunden Tieren gelingen.
Die Schnauzenlänge als Maß für gutes Atmen greift deutlich zu kurz
Allerdings: Viele schwer wiegende Atemprobleme tauchen bei diesen Rassen erst im späteren Alter auf. Eine durchschnittliche Bulldogge, die bis zum fünften, sechsten Lebensjahr ganz gut über die Runden kam, kann sich in Stresssituationen, bei Schmerz oder Wärme trotzdem plötzlich deutlich verschlechtern.
Auch wenn der Cambridge-Test mit Zuchttieren alle zwei Jahre erneut durchgeführt werden muss: Voraussetzung der Zuchteignungsprüfung ist ein Mindestalter von zwölf Monaten. Bis zur Verschlechterung des Zustands werden schon viele Welpen geboren worden sein. HNO-Spezialisten wie Kathleen Höhns aus Leipzig fordern zusätzlich konsequent die Untersuchung der oberen Atemwege per Endoskopie.
Handelsbeschränkungen
Laut Angaben des VDH wurden 2023 in teilnehmenden Ländern mehr als 3000 Hunde getestet. Ein Fünftel der Tiere war klinisch beeinträchtigt. Das sind 600 Tiere. Im Bereich des deutschen Zuchtverbands wurden 2022 etwas mehr als 200 Mops- und Bulldoggenwelpen geboren. Extrapoliert man Schätzungen von beim Haustierportal Tasso registrierten Französischen Bulldoggen, leben bei uns aber weitaus mehr Plattnasen: knapp 21 000, so der Verband. Dieser Zahlenvergleich zeigt ein grundsätzliches Dilemma: Die allermeisten Eltern von Bullies, die in Deutschland gezüchtet oder aus dem Ausland importiert werden, haben keinen Belastungstest absolviert.
Selbst wenn hier die Zucht mit betroffenen Rassen komplett verboten würde, kaufen sich die Menschen die Tiere im Ausland – oft in Ungarn. Ein aktueller Gesetzentwurf des Europäischen Rats sieht für Europa weit reichende Einschränkungen in Zucht, Haltung und Handel vor. Die deutsche Tierschutznovelle würde zudem den Online-Handel von Qualzuchten verbieten.
Nichts gelernt?
Warum Menschen Tiere mit extremem Äußeren und vererbten Krankheiten überhaupt kaufen, damit beschäftigt sich ein ganzer Forschungsbereich. Aus Umfragen dänischer Forschender ergab sich, dass Besitzerinnen und Besitzer dieselbe Rasse nochmals kaufen und auch anderen empfehlen würden, selbst wenn sie enorme Summen für die Gesundheit ihrer Tiere zahlen müssten. Allein die sorgsame Sanierung der Atemwege mit modernen Methoden der Multilevel-Chirurgie kostet 3500 bis 4000 Euro. Das bedeutet nochmals den Kaufpreis eines Welpen. Als Motivation für einen erneuten Kauf wird die Persönlichkeit der Tiere angegeben. Grund dafür ist das besonders innige Verhältnis zwischen Menschen und Plattnasen.
Wir sind dem Tierschutz verpflichtet. Er ist Teil unserer Verfassung
Das deckt sich auch mit den Erfahrungen von Kathleen Höhns. Mitunter fühlt sie sich als Handlangerin der Händler und Züchter. »Wenn sich gewisse Personen trotz besten Wissens und Gewissens die zweite, dritte, vierte, fünfte Bulldogge und den zehnten Mops holen und operieren lassen, dann zweifelt man manchmal daran, dass die Leute die Problematik wirklich verstanden haben.« Die Tierärztin fügt hinzu: »Und zwar nicht, weil sie die Tiere nicht lieben, sondern ganz im Gegenteil: Vielleicht ist da die Liebe so groß, dass jede Art von Vernunft überhaupt gar nicht mehr greifen kann.«
Das Dilemma für Tierärztinnen und Tierärzte ist enorm. Denn sie sind dazu berufen, dem individuellen Tier zu helfen und es möglichst zu heilen. Auch wenn Forschende, Tierärztinnen und Tierschutzorganisationen seit Jahrzehnten offenbar gegen Windmühlen kämpfen, kann einiges getan werden, damit das Nasenmärchen doch noch ein gutes Ende findet. Nichts tun gilt nicht. Wir sind dem Tierschutz verpflichtet. Er ist Teil unserer Verfassung.
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