Kernphysik-Rekord: Radioaktiver Exot entpuppt sich als Neutronenschreck
Müsste man das wichtigste subatomare Teilchen der jüngeren Weltgeschichte wählen, das Neutron wäre wohl klarer Favorit. Die ungeladenen Partikel stecken gemeinsam mit Protonen in Atomkernen. Aber nur sie können dafür sorgen, dass Uranatomkerne von einem Moment auf den nächsten in zwei leichtere Nuklide zerplatzen. Das setzt weitere Neutronen frei, die weitere Urankerne spalten – die Basis von Kernreaktoren und Atombomben.
Auch im Weltall spielen die Partikel eine wichtige Rolle: Wenn Sterne ineinanderrasen und für kurze Zeit die Raumzeit in ein Inferno verwandeln, werden Atomkerne geradezu mit Neutronen bombardiert. Dabei verleiben sich Atomkerne immer wieder eines oder mehrere der Teilchen ein. Auf diese Weise entstehen schwere Elemente wie Uran und Plutonium überhaupt erst.
Wenig überraschend also, dass Physiker in den vergangenen 70 Jahren intensiv erforscht haben, was bei der Begegnung von Neutronen und verschiedenen Atomkernsorten passiert. Für die meisten stabilen Elemente können die Forscher mittlerweile eine Wahrscheinlichkeit für die Interaktion eines Neutrons mit einem Atomkern in der Nähe angeben, Experten sprechen vom Wirkungsquerschnitt. Man kann ihn sich grob vereinfacht als die Größe der Zielscheibe vorstellen, die ein bestimmter Atomkern für ein durch die Luft fliegendes Neutron abgibt.
Das unbekannte Reich der radioaktiven Isotope
Für viele radioaktive Isotope ist die Größe dieser Scheibe nach wie vor unbekannt. Computersimulationen für ausgedehnte und komplexe Atomkerne geben oft nur Anhaltspunkte, experimentelle Tests sind sehr aufwändig. Und so kommt es, dass Physiker immer mal wieder eine Überraschung erleben, wenn sie den Wirkungsquerschnitt eines radioaktiven Kerns bestimmen.
Von einem besonders krassen Fall berichtet ein Team um Jennifer Shusterman vom US-amerikanischen Lawrence Livermore National Laboratory im Fachmagazin »Nature«. Die Wissenschaftler haben mit den Neutronen aus einem Kernreaktor erstmals den Wirkungsquerschnitt von Zirkonium-88 gemessen. Es wandelt sich durch Reaktion mit einem Neutron in Zirkonium-89 um. Da beide Isotope instabil sind, ließ sich aus der Stärke der jeweiligen Zerfallssignale der Wirkungsquerschnitt für den Neutroneneinfang bestimmen.
Das Ergebnis brachte eine große Überraschung, wie die Kernphysiker in ihrer Veröffentlichung schreiben: Die Zielscheibe von Zirkonium-88 sei 80 000-mal größer, als die theoretische Vorhersage nahelege. Insgesamt handele es sich um den zweitgrößten je gemessenen Wirkungsquerschnitt für den Einfang »thermischer« Neutronen, also solcher mit eher gemäßigter kinetischer Energie. Der Rekordhalter in dieser Kategorie ist nach wie vor das Isotop Xenon-135, das nochmals dreimal bereitwilliger Neutronen absorbiert – in Atomreaktoren drosselt es standardmäßig die Rate der Kernspaltung.
Wie bei Xenon-135 ist bei Zirkonium-88 noch unklar, weshalb es so gerne Neutronen einfängt. Denkbar ist, dass beiden Isotopen gemäß dem Schalenmodell der Kernphysik nur noch ein beziehungsweise zwei Neutronen fehlen, um eine Schale zu vervollständigen. Das könnte es für die Atomkerne besonders attraktiv machen, Neutronen an sich zu binden.
Dazu passt jedoch nicht das ebenfalls sehr neutronenaffine Gadolinium-157, das weit von einer geschlossenen Schalenkonfiguration ist. Die Autoren der aktuellen Studie halten jedenfalls weitere Überraschungen für denkbar: In den kommenden Jahren starten mehrere Großexperimente, die Neutronen und ihre Wechselwirkung mit Atomkernen genauer erforschen sollen.
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