Mysteriöses Ende des Eisbären: Rätsel um Knuts Tod gelöst
Ungelöste Rätsel mag Alex Greenwood nicht. Wenn er ein Tier mit unklarer Todesursache vor sich hat, packt den Virologen vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) der Ehrgeiz: "Ich will dann wissen, woran es gestorben ist", sagt der Wissenschaftler. "Und ich gebe nicht so schnell auf." Diese Hartnäckigkeit hat sich nun ausgezahlt. Nach mehr als vier Jahren ist endlich klar, warum Eisbär Knut am 19. März 2011 im Wasserbecken seines Geheges im Berliner Zoo ertrank. Der Superstar im weißen Fell litt an einer Gehirnentzündung, die durch eine überschießende Reaktion seines Immunsystems ausgelöst wurde, berichten Alex Greenwood und seine Kollegen in einer Veröffentlichung des Falls. Dadurch bekam das Tier offenbar eine Art epileptischen Anfall, stürzte ins Wasser und konnte sich nicht mehr retten.
Die Krankheit, die Mediziner als Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bezeichnen, ist selbst beim Menschen erst seit 2007 bekannt. "Dass sie auch Tiere befallen kann, hat bisher niemand gewusst", sagt Alex Greenwood. Kein Wunder also, dass die IZW-Experten zunächst ziemlich im Dunklen tappten. Rasch hatte die Obduktion zwar ergeben, dass Knut eine Gehirnentzündung hatte. Eine solche Enzephalitis aber kann eine ganze Reihe von verschiedenen Ursachen haben. Knuts Vater Lars zum Beispiel hatte sich 2010 im Zoo von Wuppertal ebenfalls ein solches Leiden eingefangen, das er allerdings überlebte. Ausgelöst wurde die Krankheit damals durch eine Infektion mit einem Zebra-Herpesvirus. Gab es da vielleicht eine Verbindung zu Knut? Hoffnungsvoll machte sich das IZW-Team auf die Suche – ohne Erfolg: Das Virus war nicht da. "Wir mussten also wieder bei null anfangen", sagt Alex Greenwood.
Er und seine Kollegen zogen dann ein sehr aufwändiges Untersuchungsprogramm durch, fahndeten nach allen möglichen Viren, Bakterien und Parasiten. Doch keine Spur von einem Erreger, der Knuts Leiden hätte auslösen können. Die Forscher traten auf der Stelle. Sie froren alle möglichen Proben von Knut ein, um die Sache eventuell später mit neuen Untersuchungsmethoden klären zu können. "Ich dachte, vielleicht finden wir ja in 30 Jahren etwas", erinnert sich Alex Greenwood. Er konnte nicht ahnen, dass es nur ein paar Monate dauern sollte.
Dann nämlich las Harald Prüß von der Berliner Universitätsklinik Charité in der Zeitung über den ungelösten Fall Knuts. "An dem Eisbären kam man ja nicht vorbei", sagt der Neurologe. "Und als ich von einer Enzephalitis ohne Erregerbefund hörte, war ich alarmiert." Denn die Sache kam ihm verdächtig bekannt vor. Harald Prüß leitet die größte Enzephalitis-Sprechstunde in Deutschland. Patienten, bei denen sich kein Erreger finden lässt, hat er schon zur Genüge gesehen. "Erst als 2007 die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis entdeckt wurde, hatten wir für solche Fälle eine Erklärung", sagt der Forscher, der auch am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Berlin arbeitet. "Das hat damals eine ganz neue Ära der Neurologie eingeläutet."
Zumal es sich offenbar nicht um eine besonders seltene Krankheit handelt. Als Harald Prüß und seine Kollegen Patienten ohne Erregerbefund gezielt untersuchten, fanden sie in 86 Prozent der Fälle die Spuren des neu entdeckten Leidens: Das Immunsystem der Betroffenen hatte Antikörper gegen die so genannten NMDA-Rezeptoren gebildet. Dadurch werden diese Eiweiße zerstört, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung im Gehirn spielen.
Angriff auf die Rezeptoren
Was aber treibt das Immunsystem zu so einer gefährlichen Attacke? Bei 60 Prozent der betroffenen Frauen, die besonders häufig von der Krankheit betroffen sind, finden die Ärzte einen Tumor der Eierstöcke. Der aber enthält Nervenzellen – und damit auch NMDA-Rezeptoren an Stellen, wo sie nicht hingehören. "Das Immunsystem will also eigentlich das Richtige tun und diese Proteine zerstören", erklärt Harald Prüß. Unglücklicherweise trifft der Angriff aber auch die wichtigen Rezeptoren im Gehirn. Andere Patienten haben sich dagegen eine Infektion mit Herpesviren zugezogen, die Hirngewebe zerstören und dabei NMDA-Rezeptoren freisetzen. Das scheint die Produktion der entsprechenden Antikörper ebenfalls anzukurbeln. Es gibt aber auch Fälle, in denen bisher niemand die fehlgeleitete Immunreaktion erklären kann.
Wenn sich das Gehirn entzündet: Enzephalitis
Grob geschätzt gehen Mediziner davon aus, dass unter 20 000 bis 30 000 Einwohnern im Durchschnitt ein Enzephalitis-Fall pro Jahr auftritt. Beim Menschen können die Symptome von Fieber und Kopfschmerzen über Lähmungen, Seh- und Sprachstörungen bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten und geistigen Behinderungen reichen. In schweren Fällen können solche Gehirnentzündungen sogar zum Tod führen.
Auch bei Zootieren sind Enzephalitis-Fälle bekannt, etwa bei Eisbären, Nashörnern oder Zebras und anderen Pferdeverwandten. Betroffene Tiere fallen in der Regel durch ein ungewöhnliches Verhalten auf. Oft verlieren sie die Kontrolle über ihre Bewegungen, zittern und schütteln sich oder können nicht mehr aufstehen. Knuts Vater Lars war durch ein solches Leiden zeitweise komplett gelähmt, erholte sich dann aber wieder.
Mediziner kennen eine ganze Reihe von Faktoren, die bei Mensch und Tier eine Gehirnentzündung auslösen können. Am häufigsten sind Virus-Infektionen, etwa durch Herpes-Viren. Es gibt aber auch Bakterien wie die Erreger von Typhus, Syphilis oder Borreliose, die als Auslöser infrage kommen. Genau wie einige tierische Einzeller, Würmer oder Pilze. Bei der Suche nach solchen Erregern hatten Mediziner lange übersehen, dass auch Immunreaktionen zu einer Enzephalitis führen können. Experten schätzen, dass eine solche Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis unter 100 000 bis 200 000 Menschen im Durchschnitt einen pro Jahr trifft.
Für die Patienten hat sie jedenfalls verheerende Folgen. "Es beginnt wie ein Infekt, mit Kopfschmerzen und vielleicht etwas erhöhter Temperatur", sagt Harald Prüß. Nach ein bis zwei Wochen aber zeigen alle Patienten psychische Auffälligkeiten: Sie hören Stimmen, sehen Nachbarn, die nicht da sind, leiden unter Verfolgungswahn. Manche versuchen auch, sich Gliedmaßen abzuschneiden oder sich das Leben zu nehmen.
In dieser Phase gehen sie in der Regel zum Psychiater – der aber häufig nicht nach organischen Ursachen sucht. "Wenn die Patienten schließlich in die Neurologie kommen, ist die Krankheit daher oft schon ziemlich weit fortgeschritten", berichtet der Charité-Mitarbeiter. Drei Viertel der Betroffenen leiden dann unter epileptischen Anfällen, zwei Drittel unter Bewegungsstörungen. Rund die Hälfte kann auch massive Atemprobleme bekommen, so dass eine künstliche Beatmung auf der Intensivstation nötig wird. Die Krankheit kann sogar tödlich enden.
Dabei lässt sie sich bei richtiger Diagnose gut behandeln. Mitunter genügt die Einnahme von Kortisonpräparaten, um die überschießende Reaktion des Immunsystems einzudämmen. Eine Blutwäsche kann zudem die bereits gebildeten Antikörper entfernen. Bei manchen Patienten verordnen die Mediziner auch eine Chemotherapie oder eine Behandlung mit speziellen künstlichen Antikörpern. Diese greifen die so genannten B-Zellen des Immunsystems an und verhindern so, dass neue Antikörper gegen den NMDA-Rezeptor gebildet werden. "Das Risiko all dieser Maßnahmen steht in einem hervorragenden Verhältnis zum Nutzen", betont Harald Prüß. Die meisten Betroffenen werden wieder ganz gesund oder behalten nur leichte neurologische Probleme zurück. "Je früher die Krankheit erkannt wird, umso besser sind dabei die Heilungschancen", sagt der Forscher. Mit einem Antikörpertest lässt sich heute relativ leicht feststellen, ob ein Patient betroffen ist oder nicht.
Würde ein solcher Test also auch bei Knut ansprechen? "Es schien mir einen Versuch wert zu sein, also habe ich Kontakt zum IZW aufgenommen", sagt Harald Prüß. Zum Glück hatten die Forscher dort Proben der Flüssigkeit aus Knuts Gehirn und Rückenmark eingefroren. In diesem so genannten Liquor lassen sich die verräterischen Antikörper besonders gut nachweisen. Und tatsächlich zeigte der Test bei Knut anders als bei allen anderen untersuchten Eisbären sehr hohe Konzentrationen von Antikörpern gegen den NMDA-Rezeptor.
Für Harald Prüß, Alex Greenwood und ihre Kollegen war das ein ebenso überraschender wie befriedigender Erfolg. Und zwar nicht nur, weil sie das Rätsel um Knuts Tod gelöst haben. "Ähnlich wie beim Menschen könnte die Krankheit auch bei Tieren viel weiter verbreitet sein als gedacht", meint Alex Greenwood. In freier Wildbahn lässt sich das zwar schwer nachweisen, weil die gehandikapten Opfer meist rasch im Magen von Feinden landen, bei Zootieren aber sind Gehirnentzündungen ohne Erreger keineswegs selten. "Ungefähr ein Drittel der Enzephalitis-Fälle können wir bisher nicht klären", sagt der IZW-Experte. Und auch von diesen tierischen Patienten lagern Proben in den Gefrierschränken des IZW. In ihren Tiefkühlarchiven werden Alex Greenwood und seine Kollegen daher nun nach weiteren Opfern der Krankheit fahnden.
"Vor allem freuen wir uns aber darüber, dass unsere Erkenntnisse wohl vielen betroffenen Tieren helfen können", sagt der Virologe. Wenn einer ihrer Schützlinge eine Enzephalitis hat, können Tierärzte ihn in Zukunft eben nicht nur mit Medikamenten gegen Viren und Bakterien behandeln, sondern auch mit Kortison – und ihm so vielleicht das Leben retten. Doch auch für die Humanmedizin könnte Knuts Fall einen Fortschritt bringen, hofft Harald Prüß. "Vor allem unter Psychiatern ist die Krankheit noch nicht genug bekannt", sagt der Neurologe. Das führe dazu, dass oft unnötig lange Zeit vergehe, bis die richtige Diagnose gestellt und mit der Behandlung begonnen werde. Vielleicht kann Knut also auch nach seinem Tod noch Gutes bewirken: als Botschafter einer medizinischen Erklärung.
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