Rekordsommer 2022: Im Jahr der Jahrhundertdürre
Am Niederrhein lässt sich in diesen Tagen ein seltenes Ereignis beobachten. Der niedrige Wasserstand des Rheins hat ein 127 Jahre altes Schiffswrack frei gegeben. Das gut erhaltene Stück könnte die Historikerherzen höher schlagen lassen, wäre die Ursache nicht so dramatisch: Europa durchlebt derzeit eine extrem heiße, trockene und überaus sonnige Phase. Flüsse vertrocknen, Wiesen verdorren, Wälder verbrennen. Eine Schreckensmeldung reiht sich an die nächste. Der Klimawandel schreitet nahezu ungebremst voran. Und dieser Sommer dürfte erst der Anfang sein.
Dabei ist die aktuelle Lage bereits schlimm genug. Die Bilder der rissigen Böden und brennenden Wälder müssten Grund genug sein, eine sofortige Notlage auszurufen. Denn bleibt der Sommer 2022 sich treu, könnte er am Ende alle Rekorde brechen und in die deutsche Wettergeschichte eingehen als der heißeste, trockenste und sonnigste seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1881. Sehr wahrscheinlich ist, dass der Sommer 2022 als der trockenste aus der Reihe fällt. Bislang fielen den Daten des Deutschen Wetterdienstes zufolge im Flächenmittel nur 104 Liter Regen pro Quadratmeter. Im Sommer 1911, dem bisherigen Rekordhalter, kamen insgesamt 125 Liter zusammen. Normal wären 245 Liter. Gut möglich ist ebenso ein neuer Sonnenscheinrekord. Zu überbieten sind 814 Stunden aus dem Dürresommer 1947, bislang sind 696 Stunden erreicht. Derzeit eher unwahrscheinlich ist dagegen ein neuer Temperaturrekord. Dafür müsste der August noch einmal ziemlich aufdrehen: Der bisherige Höchstwert wurde im Sommer des Jahres 2003 mit einer Durchschnittstemperatur von 19,7 Grad aufgestellt, aktuell steht der Sommer 2022 bei 19,1 Grad.
Natürlich sind all das nur nackte Zahlen, mit denen Medien gerne Schlagzeilen machen. Doch die Statistik zu kennen, ist wichtig, um aufkommende Mythen rund um den aktuellen Sommer widerlegen zu können. Früher sei es auch schon heiß gewesen, heißt es dann mitunter. Oder: Der Rhein fiel auch im Nachkriegssommer 1947 trocken. Das stimmt zwar, aber die Werte von damals belegen im Vergleich mit denen von heute zweifelsfrei, dass diese Sommer nicht an das aktuelle Ausmaß heranreichen. Derartig heiß und trocken war höchstens das Jahr 2003. Und ganz entscheidend: Hitze und Dürre treten seit dem Jahr 2000 immer häufiger auf.
Einst mächtige Flüsse sind derzeit nur noch Rinnsale
Besorgt sind die Klimaforscherinnen und -forscher insbesondere wegen der langen Trockenheit. Dem European Drought Observatory zufolge leidet fast die Hälfte der EU-Länder unter ausbleibendem Regen. Ändert sich die Wetterlage nicht, könnte sich die Dürre sogar zur schlimmsten seit einem halben Jahrtausend auswachsen, warnt Andrea Toreti, Klimastatistiker am Joint Research Center (JRC). Der wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission in Brüssel wertet die Daten für den europäischen Dürremonitor aus. Besonders schlimm ist die Lage in Italien und Frankreich, wo ganze Regionen trockengefallen sind. Schon seit dem Frühsommer ist der Po nur noch ein Rinnsal, und auch die Loire lässt sich mittlerweile zu Fuß durchqueren. Experten rechnen daher mit heftigen Einbußen in der Landwirtschaft, denn allein am Po werden mehr als ein Drittel aller Feldfrüchte Italiens angebaut. Ähnliche Verluste drohen in Frankreich. Zudem ist dort die Energiewirtschaft massiv vom Niedrigwasser in den großen Flüssen betroffen. Manche Atomkraftwerke dürfen nur noch mit Ausnahmegenehmigungen Flusswasser zum Kühlen verwenden.
Äußerst angespannt ist die Lage auch in Mitteleuropa. Donau, Elbe und Rhein sind keine mächtigen Ströme mehr, sondern traurige Rinnsale. Wirtschaft und Ökosysteme leiden. Schiffe können nicht mehr voll beladen werden, der Gütertransport stockt. Die Lage sei sehr gravierend, sagt der Hydrologe Jan Weber von der Universität Augsburg. Seit Anfang Juli hat es kaum noch geregnet. Lediglich im Jahr 1911, dem Rekorddürrejahr, fiel in diesem Zeitraum weniger Regen. Allerdings begann die aktuelle Dürre nicht erst im Juli – mit Ausnahme des Aprils sind alle Monate seit März viel zu trocken gewesen. Es habe sich daher ein Niederschlagsdefizit aufgebaut, das so in den 142 Jahren der Aufzeichnung unerreicht sei, erklärt Weber. Man könne durchaus von einer Jahrhundertdürre sprechen.
Trockene Böden, tote Pflanzen
Doch nicht nur der ausbleibende Regen ist für die trockenen Böden verantwortlich, sondern auch die extrem hohen Temperaturen, die das Wasser aus dem Boden verdunsten lassen. Es ist seit Jahresbeginn fast durchgängig heißer als im langjährigen Schnitt. Dem Dürreindex SPEI zufolge, kurz für »Standardized Precipitation Evapotranspiration Index«, wurden noch nie solche Negativwerte erreicht wie 2022. 164 Liter Regen fehlen durchschnittlich pro Quadratmeter. »Das entspricht dem Niederschlag einer kompletten Jahreszeit«, sagt Jan Weber. In Teilen Deutschlands werden neue Rekordniedrigstände des Grundwassers gemeldet.
Seit Mitte April ist die Bodenfeuchte in den oberen 60 Zentimetern so stark abgesunken wie zuletzt im Jahr 2018
Wie trocken die Böden sind und was die Dürre auf Feldern und in Wäldern anrichtet, hat der Deutsche Wetterdienst am vergangenen Freitag in einem Hintergrundbericht zusammengefasst. Demnach nimmt das Jahr 2022 einen ähnlichen Verlauf wie das Dürrejahr 2018: Trockenheit in Verbindung mit überdurchschnittlichen Temperaturen und vielen Sonnenstunden lassen die Böden stark austrocknen, teilte die nationale Wetterbehörde mit. Dabei seien die Startbedingungen für das Sommerhalbjahr noch vergleichsweise gut gewesen. Nach einem recht nassen Winter war der Boden verbreitet sehr feucht. Doch schon der überaus sonnige und regenarme März leitete einen zu trockenen und warmen Wetterabschnitt ein, der mit wenigen Unterbrechungen bis heute anhält. Seit Mitte April sei die Bodenfeuchte in den oberen 60 Zentimetern so stark abgesunken wie zuletzt im Jahr 2018, teilte der Wetterdienst mit. Besonders trocken war es im Südwesten und im Osten.
Die Folgen der langen Trockenheit machten sich laut DWD schon im Mai in der Pflanzenwelt bemerkbar. Während der ersten Hitzewelle im Juni trug der Winterweizen erste Schäden davon, verbreitet kam es zur Notreife. Auch Mais und Zuckerrüben litten unter der Dürre, das Grünland verdorrte zusehends. Die Folgen für die Wälder, die »eventuell ein viertes Trockenjahr innerhalb von fünf Jahren überstehen müssen, können wir noch gar nicht abschätzen«, sagt Udo Busch vom Deutschen Wetterdienst. Die Waldbrandgefahr ist seit Mitte Juli in weiten Teilen Deutschlands hoch bis sehr hoch, vermehrt entstanden tatsächlich Waldbrände, teilweise mit einer Ausdehnung von mehreren hundert Hektar.
Eine »extreme Situation«
In Zürich verfolgt Erich Fischer die mögliche Rekorddürre vor der eigenen Tür. »Die Situation ist wirklich extrem«, sagt der Klimaforscher von der ETH Zürich. Die Hitzewelle in England mit Rekordtemperaturen von mehr als 40 Grad habe ein riesiges Echo ausgelöst, sagt er. Die Situation hier zu Lande mit der außerordentlichen Trockenheit, Hitze und der Besorgnis erregenden Gletscherschmelze in den Alpen sei dagegen etwas schwieriger einzuordnen, weil sie sich schleichender vollziehe als die schnelle Hitze in England. Ein weiterer Grund ist, dass Daten dazu, wie feucht der Boden in welcher Tiefe noch ist, verzögerter eintreffen als die zur Temperatur.
Klimaforscher arbeiten gerade intensiv daran, diesen außergewöhnlichen Sommer wissenschaftlich einzuordnen. Wir befinden uns bereits in einer agrarischen und hydrologischen Dürre, sagt Fischer. So heißt es, wenn Böden und Gewässer trockenfallen. Diese vergleichsweise trägen Systeme reagieren verzögert auf ausbleibenden Regen.
Sichtbar sind die Schäden in der Natur aber schon länger. Erich Fischer verbringt seit seiner Kindheit jedes Jahr einige Tage im Simplongebiet nahe der italienischen Grenze. Sein Großvater war dort Bergbauer, daher kennt er die Gegend gut. Die Situation in der Region sei noch nie annähernd so schlimm gewesen wie jetzt, berichtet er. Kaum ein Bergbach führe noch Wasser, die Viehwirtschaft in den Alpen habe man deshalb bereits einstellen müssen. »Dabei spielen das fehlende Schmelzwasser und die nicht mehr vorhandenen Wasserreserven der abgeschmolzenen Gletscher eine zentrale Rolle«, erklärt er.
Klimawandel oder Zufall?
Ursache der Regenarmut über weiten Teilen Europas ist eine Wetterlage, die seit Monaten warme Mittelmeer- und Saharaluft nach Mitteleuropa vordringen lässt. Ein Tiefdruckgebiet über dem Atlantik wirkt dabei wie eine Pumpe, ein Hochdruckgebiet über dem Kontinent blockiert feuchte Westwinde. Das Muster dieser Wetterlage passt zum Trend der vergangenen Jahrzehnte. Hat der Klimawandel also die Luftströmung über Europa bereits verändert? Erich Fischer konnte in seinen Analysen zeigen, dass sich solche blockierenden Hochdruckgebiete über Europa häufen und zu dieser im globalen Vergleich außerordentlich raschen Erwärmung beigetragen haben. Eine kürzlich im Fachmagazin »Nature Communications« veröffentlichte Studie kommt zu einem ähnlichen Schluss. Doch ob der Klimawandel diesen Trend wirklich verursacht, sei unklar, sagt Fischer. Es könne auch Zufall sein.
Bislang deuten die Klimamodelle tendenziell auf Zufall hin. Dann könnte sich der Trend auch wieder abschwächen, sagt Erich Fischer. Allerdings handelt es sich um eine wissenschaftliche Debatte, die längst noch nicht abgeschlossen ist.
»Insgesamt sieht es nicht so aus, als ob die Dürre in den nächsten anderthalb Monaten endet«Jan Weber, Hydrologe
Verändert der Klimawandel die Zirkulation der Atmosphäre doch, würde sich der Trend zu heißen und trockenen Jahren in Mitteleuropa weiter rasch fortsetzen. Die schlechte Nachricht: Insgesamt, sagt Fischer, liegen die Sommer in Mitteleuropa bereits jetzt am oberen Ende der Modellvorhersagen. Die Geschwindigkeit, mit der die Durchschnittstemperaturen steigen, sei sehr hoch und global einzigartig.
Bleibt vorerst also nur die Hoffnung auf ein rasches Ende des möglicherweise historischen Sommers 2022. Zum ersten Mal seit Wochen sollen in diesen Tagen dicke Wolken am Himmel auftauchen, begleitet von Schauern und Gewittern. Viel Regen wäre gut, aber die Wettermodelle sagen für das letzte Monatsdrittel erneut ein stabiles Hochdruckgebiet über Mitteleuropa voraus. Auch Jan Weber macht wenig Hoffnung auf einen anhaltenden Wetterwechsel. Zusammen mit seinen Kollegen wendet er die Langfristmodelle des europäischen Wetterdienstes regional an. »Insgesamt sieht es nicht so aus, als ob die Dürre in den nächsten anderthalb Monaten endet«, sagt Weber. Doch immerhin wird manch einer in diesem staubtrockenen Land mal wieder den Geruch von Regen wahrnehmen können – wenn auch nur für einen kurzen Moment.
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