Krise der russischen Wissenschaft : Zwischen Braindrain und Repression
Nun also auch das CERN. Mit Wirkung zum 30. November wird das europäische Kernforschungszentrum bei Genf so gut wie alle Verbindungen nach Russland abbrechen. Rund 500 Forschende seien davon betroffen, berichtet der »Spiegel«. Um weiter mit dem CERN zusammenarbeiten zu können, hätten sich viele von ihnen bereits nichtrussischen Forschungseinrichtungen angeschlossen.
Das CERN macht damit erst vergleichsweise spät ernst mit dem Boykott russischer Wissenschaft als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch der Versuch einer weit gehenden Isolation russischer Forschung zeigt schon lange Wirkung. Offizielle russische Stellen behaupten zwar, der Trend des Braindrain sei inzwischen gestoppt, aber die Fakten sprechen eine andere Sprache: Das Exil-Medium »Novaya gazeta Europa« hat auf Basis der internationalen ORCID-Datenbank berechnet, dass seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 etwa 2500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Ausland abgewandert sind.
Laut Daten der European University in Florenz, die über das Projekt »Outrush« die Emigration seit dem 24. Februar 2022 analysiert, sind bis zu zwölf Prozent der Russen, die ihr Land verlassen haben, promoviert oder gar habilitiert. Das wären rund 7000 Personen, von denen ein Großteil tatsächlich aktive Wissenschaftler sein dürften. Denn in Russland müssen weder Ärzte noch Ingenieure oder Juristen promovieren. Wer einen Doktortitel erwirbt, bleibt also meist auch Forschung und Lehre treu.
Die Journalistin Olga Orlowa, Chefredakteurin des Portals »T-invariant«, das die Wissenschafts-Communitys innerhalb und außerhalb Russlands miteinander vernetzt halten will und das vom Justizministerium zum »ausländischen Agenten« erklärt wurde, schlägt Alarm: »Das ist eine immense Zahl, die das wissenschaftliche Potenzial des Landes nachhaltig schwächt.«
Eine genaue Erfassung der verlorenen Talente ist jedoch schwierig, da das russische Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung keine Zahlen hierzu herausgibt. Auch die Wissenschaftler selbst und ihre Arbeitgeber wahren oft Stillschweigen darüber. Sie wollen die Verbindung nicht öffentlich kappen, um die Möglichkeit einer Rückkehr offenzuhalten. Fest steht aber: Hochkarätige Forscher auch von den besten Hochschulen wie etwa der Moskauer Lomonossow-Universität haben das Land verlassen.
Zu den prominenten Auswanderern gehört etwa der Präsident der Moskauer Mathematischen Gesellschaft Wiktor Wassiljew, der nach Israel emigrierte und nun an der Fakultät für Mathematik und Informatik des renommierten Weizmann-Instituts forscht. Allein die Higher School of Economics, einst das Aushängeschild der russischen Wirtschaftswissenschaft, hatte in den ersten acht Monaten nach Kriegsausbruch möglicherweise schon 150 Professoren und Dozenten verloren, wie der ehemalige dortige Professor Konstantin Sonin im Oktober 2022 in seinem Telegram-Kanal schrieb – und zwar ausgerechnet die führenden im wissenschaftlichen Bereich, wie er hinzufügte. Unabhängig überprüfen lassen sich Angaben wie diese nicht. Sonin ist seit 2015 an der Harris School of Public Policy der University of Chicago tätig. Auch der in London lebende Wissenschaftsjournalist Elia Kabanov bedauert: »Tausende von Wissenschaftlern auf dem Höhepunkt ihrer akademischen Laufbahn, die die russische Wissenschaft hätten voranbringen können, sind abgewandert und arbeiten jetzt in Europa, in den USA oder in Asien.«
Doch nicht alle schaffen es, im Ausland erfolgreich zu sein, gibt Olga Orlowa, die selbst nach Beginn des Kriegs aus Russland nach Israel floh, zu bedenken: »Die internationale akademische Welt ist hart umkämpft, niemand wartet auf russische Forscher.« Von den 38 russischen Wissenschaftlern, die ein renommiertes Forschungsinstitut verlassen hätten, habe nur einer eine berufliche Perspektive im Ausland gefunden.
Allein in Israel, das spezielle »Rückkehr«-Programme für jüdische Wissenschaftler aus aller Welt anbietet, sind derzeit rund 2000 arbeitslose Forschende aus Russland registriert. »Eine erfolgreiche akademische Karriere im Westen ist äußerst selten«, sagt Orlowa. Diese Einschätzung teilt Kabanov nicht. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler, die er kenne, habe nicht an Status verloren. Möglicherweise liege das daran, dass vor allem junge, am Anfang ihrer wissenschaftlichen Laufbahn stehende Forscher Russland verlassen, vermutet er.
Viele Forschende im Westen nicht konkurrenzfähig?
Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, der seit 2005 in Deutschland lebt und forscht, weist auf einen weiteren Aspekt hin: Viele russische Wissenschaftler, besonders in den Geisteswissenschaften, seien im Westen nicht konkurrenzfähig, weil sie an Themen forschen, die außerhalb Russlands kaum Beachtung finden, oder weil sie Methoden verwenden, die im Westen als veraltet gelten. Oft sähen sie sich gezwungen, der Wissenschaft ganz den Rücken zu kehren, so der in Moskau geborene Politologe.
Einer, der es schaffte, im Westen Fuß zu fassen, ist der 41-jährige Mathematiker Anton Trushechkin. Er fand eine Stelle am Institut für Theoretische Physik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Der auf Quantentechnologien spezialisierte Experte hatte am Moskauer Institut für Physik und Technologie eine Professur inne und forschte am renommierten Steklow-Institut für Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften. Mit einer vergleichbaren Position konnte er in Düsseldorf zwar nicht rechnen, doch Trushechkin genießt die Arbeit in einer internationalen Arbeitsgruppe und bemerkt auch keinerlei negative Einstellungen ihm gegenüber als russischem Wissenschaftler: »Ich habe den Eindruck, dass Russland nach wie vor auf Interesse stößt.«
Trushechkin ging 2023 laut eigener Angabe in erster Linie aus wissenschaftlichen Gründen ins Ausland. Die Isolation der russischen Wissenschaft beunruhigt ihn. »Die moderne Wissenschaft kann nicht autark existieren. In Russland gibt es nur wenige Spezialisten in meinem Feld. International hingegen ist die Community groß«, erklärt der Spezialist für Quantenkryptografie.
Eine Folge der Sanktionen: Zunehmende Isolation
Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind russische Universitäten und Forschungseinrichtungen weitgehend von der globalen Wissenschaftswelt isoliert. Hochschulen aus westlichen Ländern brachen ihre Verbindungen nach Russland ab. Auch wurde der Zugang zu vielen wissenschaftlichen Datenbanken gekappt, die für die Forschungsarbeit wichtig sind. Mit Folgen: So standen 2023 auf einer Liste der 7125 meistzitierten Wissenschaftler nur acht russische Namen. Zum Vergleich: 333 deutsche Forscher haben es auf die Liste geschafft. Orlowa beklagt die zunehmende Abschottung: »Die meisten westlichen Fachzeitschriften verlangen von russischen Wissenschaftlern, dass sie ihre Zugehörigkeit zu staatlichen Einrichtungen ablegen. Aber in Russland gibt es de facto keine nichtstaatlichen Forschungseinrichtungen.« Anton Trushechkins Erfahrung ist eine andere: Nach Beginn des Kriegs, während er noch in Russland war, konnte er mehrere Artikel in amerikanischen Zeitschriften veröffentlichen.
Orlowa findet, dass der Westen seine Sanktionen gegen die russische Wissenschaft intelligenter und vor allem transparenter hätte gestalten müssen. So sei unklar, nach welchem Prinzip Institute auf die Sanktionslisten gesetzt würden. Denn solche, die im Verteidigungssektor forschen und forschen werden, werden dies auch weiterhin tun. Ihnen wurde eine Tür vor der Nase zugeschlagen, die sie ohnehin nie zu öffnen versucht hätten, weil sie sich nicht an internationalen Forschungsprojekten beteiligen. »Gleichzeitig wurden klassische Universitäten aus dem westlichen Wissenschaftsbetrieb herausgedrängt«, so die nach Israel ausgewanderte Journalistin.
FU-Professor Alexander Libman beobachtet unter den in Russland verbliebenen Wissenschaftlern wachsende Ressentiments gegenüber dem Westen: »Sie sind unglaublich verbittert, weil ihre Kollegen die Verbindungen sogar zu jenen Wissenschaftlern abgebrochen haben, die in Russland schlichtweg keine andere Wahl hatten.« Dies führe zu einer wachsenden Selbstisolierung der russischen Wissenschaft. So wurde vor dem Krieg die Arbeit russischer Wissenschaftler nach Veröffentlichungen in Zeitschriften aus den Datenbanken Scopus und Web of Science bewertet. Inzwischen ist diese Anforderung offiziell aufgehoben. Das unabhängige Online-Bildungsprojekt »Freie Universität«, gegründet von einer Gruppe von Dozenten der Higher School of Economics, berichtete unter Berufung auf eigene Quellen, dass den Dozenten an russischen Universitäten jetzt empfohlen werde, in der Literatur zu ihren Kursen keine Quellen mehr zu verwenden, die in »feindlichen Ländern« veröffentlicht wurden.
Elia Kabanov zufolge befindet sich die russische akademische Gemeinschaft in einer tiefen Depression, wie er am Beispiel des Weltraumprojekts eROSITA (siehe »Deutsch-russische Kooperation im All«) verdeutlicht. Am 26. Februar 2022 hatte die Max-Planck-Gesellschaft diese deutsch-russische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Röntgenteleskopie eingefroren, die noch kurz zuvor mit der Veröffentlichung umfangreicher Messdaten für positive Schlagzeilen gesorgt hatte. »Ein herber Schlag für die Weltraumastronomie«, bedauert Kabanov.
Deutsch-russische Kooperation im All
eROSITA ist ein deutsches weltraumgestütztes Röntgenteleskop, das 2019 an Bord des russischen Satelliten Spektr-RG ins All gebracht wurde. Federführend entwickelt hat es das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching. Das wichtigste Ziel von eROSITA ist die Kartierung des gesamten Himmels im Röntgenbereich. Damit sollen unter anderem Galaxienhaufen, aktive Galaxienkerne und Schwarze Löcher identifiziert und erforscht werden, um ein tieferes Verständnis der Struktur und Entwicklung des Universums zu gewinnen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde die weitere Datenerhebung von eROSITA am 26. Februar 2022 ausgesetzt. Die Analyse der zuvor bereits in Deutschland empfangenen Daten wird jedoch fortgesetzt.
Angesichts der Isolation sucht Russland nach neuen Partnern im Osten. So blieben die meisten Kollegen von Trushechkin in Moskau, doch ein ganzes Team ging in die Arabischen Emirate, wo es dem Quantenspezialisten zufolge gerne aufgenommen wurde. »Es gibt jetzt Kooperationen mit Katar, Indien und Pakistan, jeden Monat entstehen neue Projekte«, berichtet Olga Orlowa. Im chinesischen Shenzhen wurde sogar eine russisch-chinesische Universität eröffnet. Die neue staatliche Wissenschaftspolitik lautet: Die Welt ist groß – wir werden mit denen befreundet sein, die uns willkommen heißen.
Auf diese Weise ist es dem Kreml gelungen, eine vollständige Isolation der russischen Wissenschaft zu verhindern. Eine solche Neuausrichtung nach Osten sei zweifellos besser als eine vollständige Abschottung, meint auch Kabanov. Schließlich hätten westliche Wissenschaftler keine Monopolstellung auf Forschung. Allerdings seien amerikanische und europäische Wissenschaftler vor allem deshalb führend, weil sich ihr wissenschaftliches Umfeld über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte entwickelt habe. Die meisten Länder, mit denen Russland jetzt zusammenarbeite, stünden hingegen noch am Anfang ihres wissenschaftlichen Wegs. »Große Wissenschaft braucht Zeit. Kooperationen mit Pakistan oder Saudi-Arabien könnten erst in Jahrzehnten Früchte tragen«, meint der Journalist.
Repressionen gegen Wissenschaftler
Neben der äußeren Isolation spüren viele Wissenschaftler auch den inneren Druck. Nach Angaben der BBC wurden von 2018 bis Februar 2024 in Russland mindestens zwölf Wissenschaftler des Hochverrats beschuldigt, die auf dem Gebiet der Hyperschalltechnologie forschten. Der jüngste Fall: Am 3. September 2024 wurde der im Sommer 2022 festgenommene Direktor des Instituts für theoretische und angewandte Mechanik, Alexander Schipljuk, zu 15 Jahren Straflager verurteilt. Auch seine Forschung bezog sich auf die experimentelle Aerothermodynamik von Hyperschallströmungen. Da die Gerichtsverhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, ist unklar, warum der russische Inlandsgeheimdienst FSB die Wissenschaftler so erbittert verfolgt. Offenbar hatten die russischen Sicherheitsdienste Hinweise auf undichte Stellen im Zusammenhang mit der Entwicklung von Hyperschallwaffen, vermutet Orlowa. Der Befehl von oben lautete demnach, die Schuldigen zu finden: »Die Wissenschaftler sind das schwächste Glied in der Kette, da sie tatsächlich mit ausländischen Kollegen zusammenarbeiten.«
Auch die Kooperation mit China schützt nicht vor Verfolgung. Ein besonders tragischer Fall ist der des 77-jährigen Anatolij Maslow. Der stellvertretende Direktor des Christianowitsch-Instituts für theoretische und angewandte Mechanik der Russischen Akademie der Wissenschaften wurde im Juni 2022 festgenommen und im Mai 2024 wegen angeblichen Landesverrats zu 14 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Er soll Daten über Hyperschalltechnologien an Peking weitergegeben haben. »In Russland weiß man nie, wofür man ins Gefängnis kommt, mit wem man befreundet sein darf und mit wem nicht«, kommentiert Journalist Kabanov.
Politisch engagierte Wissenschaftler geraten ebenfalls zunehmend ins Visier des Regimes. Ein prominentes Beispiel ist der Mathematiker und einer der führenden Supercomputerspezialisten Russlands, Sergej Abramow, auch er ein Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Ihm wird vorgeworfen, den Antikorruptionsfonds des im Februar 2024 unter mysteriösen Umständen in Haft verstorbenen Oppositionellen Alexei Nawalny finanziell unterstützt zu haben. Sogar die American Physical Society setze sich für den Wissenschaftler ein – erfolglos. Nachdem Abramow ein halbes Jahr unter Hausarrest stand, seine Konten eingefroren und sein Name in die Liste der Terroristen und Extremisten aufgenommen wurde, ordnete das Gericht seine Einweisung in eine psychiatrische Klinik an, um eine »stationäre psychiatrische Begutachtung« durchzuführen. Dort verbrachte er drei Wochen.
Die staatliche Propaganda verkündet derweil, die russische Wissenschaft sei dabei sich aufzurichten: Neue Institute würden eröffnet, die Gehälter junger Fachkräfte erhöht. Trotzdem halten einer aktuellen Umfrage zum Prestige von Berufen zufolge nur zwei Prozent der Russen eine wissenschaftliche Tätigkeit für besonders angesehen – wobei Ingenieure mit elf Prozent im Vergleich sehr gut abschnitten. Nach Berechnungen des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung werden in Russland bis 2035 sogar etwa 18 200 promovierte Wissenschaftler fehlen.
Kreml beschneidet Grundlagenforschung
Mitte der 2000er Jahre, als reichlich Ölgelder aus dem Westen ins Land flossen, wurde die Wissenschaft gut gefördert. Doch heute hat der Kreml andere Prioritäten. Sollte das Putin-System noch lange bestehen, werden nur die für das Regime wichtigen Bereiche finanziert, während andere aussterben, denkt Olga Orlowa. Anton Trushechkin befürchtet, dass vor allem an der Grundlagenforschung gespart wird, und Experten der Higher School of Economics bestätigen dies: Die realen Ausgaben für Grundlagenforschung und -entwicklung sanken 2023 um 7,5 Prozent auf das Niveau von 2018. Im nächsten Jahr sollen die Mittel für die Forschungsgebiete, die keine militärischen Zwecke verfolgen, laut Haushaltsgesetz um weitere 17 Prozent gekürzt werden.
Orlowa äußert aber auch Hoffnung. Russland sei ein Land mit großer Forschungstradition und einem enormen Potenzial. Wenn in den nächsten fünf Jahren eine Umkehr einsetze, hätte die russische Wissenschaft noch eine Zukunftschance. Elia Kabanov hingegen ist pessimistisch: Selbst wenn der Krieg morgen endete und alle Sanktionen aufgehoben würden, käme die russische Wissenschaft nicht so schnell aus der Krise. Nobelpreisträger aus Russland seien in naher Zukunft jedenfalls nicht zu erwarten: »Ich befürchte, dieser Zug ist abgefahren, obwohl ich mich gerne irren würde.«
Anton Trushechkin war einer von 9000 russischen Wissenschaftlern, die schon im Februar 2022 einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichneten. Sein Vertrag in Düsseldorf läuft im Juni 2025 aus. Obwohl er seine Rückkehr nach Russland mit Vorsicht abwägt, kann er sich nicht vorstellen, seiner Heimat für immer fernzubleiben: »Ich hoffe sehr, dass sich die Situation in Russland bald bessert.«
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