Mobilfunk: Krebs durch 5G?
Das Muster kennt Alexander Lerchl seit Langem: »Jedes Mal, wenn ein neuer Standard im Mobilfunk eingeführt werden soll, beginnt erneut die Diskussion. Diesmal sei es besonders gefährlich für die Gesundheit, heißt es, und die Leute regen sich fürchterlich auf.« Lerchl, Professor an der Jacobs University in Bremen, bekommt dann lauter Anrufe und muss immer wieder seine Position und die Ergebnisse seiner Studien zu den möglichen Gefahren der Handytechnik erklären.
So ist es zum Beispiel, seit Mitte März 2019 die deutsche Auktion der ersten Frequenzen für das künftige Mobilfunknetz fünfter Generation (5G) begonnen hat. Das soll dem Staat einige Milliarden einbringen, und er macht den Käufern Vorschriften, wie dicht ihr Netz sein muss. Es könnte darum tausende neue Antennen zusätzlich zu den vorhandenen geben, warnen Kritiker, die Belastung von Nutzern und unbeteiligten Anwohnern werde massiv wachsen. Da beginne ein Feldversuch mit einer ungeschützten Bevölkerung. Das alles haben sie so oder so ähnlich schon öfter gesagt.
Andere entgegnen mit einer ebenfalls geläufigen Formel: Es gebe bestenfalls Hinweise auf, aber keine Beweise für Gefahren. Mobilfunksignale könnten nur das Gewebe erwärmen, und dieser Effekt werde durch Grenzwerte effektiv eingeschränkt. Um Zellen und Moleküle im Körper zu schädigen, reichten Energie und Intensität überhaupt nicht aus; viele Studien, die anderes nahelegten, seien methodisch zweifelhaft oder hätten sich nicht wiederholen lassen.
»Für nichtthermische Effekte gibt es keine Beweise. Wir würden nicht einmal theoretisch etwas anderes erwarten«Alexander Lerchl
Auf dieser Position steht auch Alexander Lerchl: »Für nichtthermische Effekte gibt es keine Beweise. Wir würden nicht einmal theoretisch etwas anderes erwarten.« Ähnlich äußert sich Sarah Drießen vom Forschungszentrum für Elektro-Magnetische Umweltverträglichkeit der Universitätsklinik Aachen: »Zusammengefasst besteht nach derzeitigem Kenntnisstand unterhalb der empfohlenen Grenzwerte kein gesundheitliches Risiko dieser hochfrequenten Felder.«
Die Fronten sind verhärtet, und vermutlich wird auch die Debatte über 5G keine Klarheit bringen. Dabei wäre das bitter nötig, weil in Bezug auf die möglichen Gesundheitsrisiken diesmal tatsächlich einiges anders ist als sonst. 5G ist nicht nur eine Weiterentwicklung des Mobilfunks, der durch die Generationenfolge analoges Netz, GSM, UMTS und LTE gegangen ist. Stattdessen stößt der neue Standard neue Türen auf.
Erstens potenziert sich in der Tat die Zahl der Sender und zurücksendenden Geräte. Aber auch die Antennencharakteristik mancher Basisstationen wird sich von starr zu variabel verändern. Das kann bedeuten, dass dort, wo heute viel Strahlung ist, weniger sein wird und umgekehrt – die Verteilung gleicht sich also an.
»Deutlich höhere Datenübertragungsmengen, neue und zusätzliche Sendeanlagen und höhere Frequenzen verändern die Strahlungsintensitäten«Inge Paulini
Zweitens kommen demnächst Frequenzen zum Einsatz, die bisher nicht für Mobilfunk genutzt wurden. Darum hat auch die Chefin des zuständigen Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) Inge Paulini vorsichtig gewarnt. »Deutlich höhere Datenübertragungsmengen, neue und zusätzliche Sendeanlagen und höhere Frequenzen verändern die Strahlungsintensitäten«, sagte Paulini der »Passauer Neuen Presse«. Besonders wegen der Frequenzen »haben wir noch wenige Erkenntnisse und werden mittelfristig weitere Forschung betreiben«.
Der 5G-Standard soll vor allem die Datenkommunikation stark beschleunigen. Sender und Empfänger verständigen sich in Zukunft binnen Millisekunden, und nur noch ein Bruchteil der Teilnehmer dürfte menschlich sein. Stattdessen verknüpft die Funktechnik Maschinen und Sensoren in Fabrikhallen, bindet Kühlschränke, Stromzähler, Fitnessarmbänder, autonome Autos, Werbetafeln und die Fracht einzelner Europaletten an das Datennetz, das so zu einem Internet der Dinge wächst. Es könnte, erwarten Fachleute, in Ballungsräumen eine Million verknüpfte Geräte pro Quadratkilometer geben.
Für den neuen Mobilfunk steht eine ganze Reihe von Bändern bereit: Bereits vergeben wurden Frequenzen um 700 Megahertz, die früher dem digitalen Antennenfernsehen dienten. Aktuell in der Versteigerung sind die Bänder bei 2,0 und von 3,4 bis 3,7 Gigahertz (demnächst auch bis 3,8 Gigahertz). Auch das ist nichts grundsätzlich Neues: Sie liegen verzahnt mit den Frequenzen des heutigen LTE-Netzes und den WLAN-Bereichen. Angekündigt ist aber auch die Nutzung von Frequenzen bei 26 Gigahertz, die bisher für Abstandsradarsysteme von Autos reserviert sind. Hier werden die Signale wegen der kurzen Periode schon Millimeterwellen genannt; später könnte es zu noch höheren Gigahertz-Zahlen in dem Bereich gehen.
Antennen unter Gullydeckeln
Generell gilt dabei, dass niedrigere Frequenzen eine größere Reichweite erlauben, höhere aber mehr Daten pro Zeit übertragen. Darum plant die Telekom, schnelles Internet in ländlichen Gebieten mit 700-Megahertz-Frequenzen aufzubauen. In der Stadt hingegen, wo viele Geräte Kontakt suchen, müssen Sender höherer Frequenz dichter an die Abnehmer heranrücken. Die Antennen müssten dafür auf Ampelmasten und hinter Leitplanken, an Bushaltestellen und Reklametafeln oder sogar unter Gullydeckeln angebracht werden.
»Menschen kommen dann unter Umständen auf wenige zehn Zentimeter an einen Sender heran und wären oft im Bereich mehrerer Antennen«, sagt Christian Bornkessel von der Technischen Universität Ilmenau. »Heute sind die kleinsten Abstände zu typischen Mast- oder Dachstandorten im Bereich von Metern oder zig Metern.« Zwar sind die einzelnen Sender in Zukunft schwächer, aber es gibt mehr. Was das für die Gesamtbelastung bedeutet, ist offen.
Geräte funken um Menschen herum – nicht hindurch
Hinzu kommt eine Besonderheit der 5G-Technik, die »multiple-input multiple-output« (MIMO) heißt. Sie ersetzt die starre Abstrahlcharakteristik der Antenne durch eine variable und ermöglicht es, Geräten in der Umgebung jeweils einen gezielten Strahl zu schicken, anstatt alle zusammen mit einem scheibenförmigen Signal anzusprechen. Im Augenblick hätten 5G-Basisstationen maximal 32 oder 64 starre Strahlrichtungen, so Bornkessel, die nach Bedarf zu- oder abgeschaltet werden können. In Zukunft aber könnten die Geräte die unsichtbare Verbindung anpassen und schwenken, um Empfängern zu folgen oder die Daten per Reflexion an einer Häuserwand gegenüber zuzustellen. Sie würden dabei, sagt der Experte für Hochfrequenztechnik, schon heute und erst recht in Zukunft nicht stur durch einen Menschen hindurchfunken, der am Bushäuschen vor dem Sender steht, sondern wann immer möglich um ihn herum.
Unter diesen Umständen der »variablen Strahlausbildung«, wie Bornkessel es ausdrückt, wird es zur Herausforderung, genau zu messen, ob die Grenzwerte im Bereich solcher Sender eingehalten werden. Im gerichteten Strahl ist die Intensität dann vermutlich höher als heute im Empfangsbereich. »Aber das eigene Telefon sendet umso weniger, je besser die Verbindung ist«, sagt der Experte aus Ilmenau, der an solchen Messverfahren forscht. Die Situation wird also deutlich komplexer.
Eine weitere Frage ist die künftige Verwendung hoher Frequenzen, über deren Effekt auf die Gesundheit die Forschung noch nicht so viel weiß. Es gebe »rund 200 experimentelle Studien zu Millimeterwellen im Bereich von 30 bis 100 Gigahertz«, sagt Sarah Drießen, die an einer Literaturdatenbank mitarbeitet. »Im Gegensatz dazu haben wir mehr als 1200 experimentelle und knapp 300 epidemiologische Studien in dem deutlich enger gefassten Frequenzbereich der bisherigen Mobilfunkanwendungen.«
Wie viel weiß man über die Wirkung der Strahlung?
Die Millimeterwellen, so viel ist klar, können nicht tief in den Körper eindringen. Das bedeutet einerseits, dass Schäden an inneren Organen eigentlich ausgeschlossen sind, andererseits bleibt aber auch die ganze absorbierte Energie in der Haut oder der Hornhaut des Auges. »Dass sich hier das Gewebe übermäßig erwärmt, wird durch die Empfehlungen der Internationalen Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP) ausgeschlossen«, versichert Alexander Lerchl. Sein Kollege Achim Enders von der Universität Braunschweig ergänzt: Zwar beruhten »die heutigen Grenzwertbestimmungen teilweise auf Extrapolationen. Diese Extrapolationen sind wissenschaftlich aber sehr gut begründet, einen auch nur annähernd seriösen wissenschaftlichen Hinweis auf weiter gehende Effekte gibt es nicht.«
Von kritischen Wissenschaftlern und Vertretern der Organisation »Diagnose Funk« werden indes alte Papiere aus dem Kalten Krieg von Sowjet- und CIA-Experten diskutiert. Neuere Studien greifen sich einzelne Aspekte heraus, etwa dass Schweißkanäle in der Haut angeblich als Antennen wirken, oder ziehen Untersuchungen ganz unterschiedlicher Qualität und Machart zu einem vernichtenden Gesamturteil zusammen. Seit Herbst 2017 fordern auf dieser Basis fast 230 Ärzte und andere Fachleute ein Moratorium für den 5G-Ausbau. Ihnen gilt die von Lerchl zitierte Organisation ICNIRP als unzuverlässig und zu industrienah.
Vielfach wird auch der vorherige Beweis verlangt, dass die Strahlung unschädlich sei – den aber kann die Wissenschaft prinzipiell nicht erbringen. Sie vermag höchstens zu zeigen, dass mit ihren besten Methoden kein Effekt zu erkennen ist.
Was fehlt: Eine Kontrollgruppe und ein Beweis
Ein ernstes Problem ist dabei, dass es praktisch keine unbelasteten Kontrollpersonen für epidemiologische Studien mehr gibt. Solche Untersuchungen vergleichen üblicherweise zwei Gruppen von Menschen, die sich nur in der empfangenen Strahlung unterscheiden und einander sonst ähneln. Schon vor Einführung von Sendern mit 26 oder mehr Gigahertz aber sind fast alle Menschen in Industrieländern ständig dem Mobilfunk, WLAN, Bluetooth, digitalem Fernsehen und anderen Funksignalen ausgesetzt. Das eigene Handy ist dabei in der Regel der Sender, der am meisten zur Dosis beiträgt.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie dysfunktional die wissenschaftliche Debatte oft ist, liefert der Krebsverdacht gegen die zurzeit genutzte Handystrahlung. Mehrere Studien haben als signifikantes, also statistisch zuverlässiges Ergebnis erbracht, dass der langjährige, intensive Gebrauch von Mobiltelefonen das Risiko von Gliomen, seltenen Hirntumoren, um ein Drittel bis zur Hälfte steigert. Eine dieser Untersuchungen stammte vom Interphone-Verband, der Anfang des Jahrtausends in 13 vor allem europäischen Ländern Studien durchführte. Die Gruppe selbst erklärte zum Abschluss, ihre Daten zeigten keine Gefahr durch Handystrahlen. Das 2010 im Endbericht veröffentlichte Teilergebnis für langjährige Nutzer jedoch lautete anders. Es war schon damals in der Forschergruppe selbst umstritten und tauchte bei anders angelegten Auswertungen einiger Autoren nicht mehr auf.
Die Interphone-Kollaboration wurde damals von der Internationalen Krebsforschungsagentur IARC in Lyon koordiniert, die Mobilfunkstrahlung daraufhin als »womöglich Krebs erregend« klassifizierte. Bis heute wird die Verbindung von langjährigem Gebrauch und Hirntumoren in so genannten Metastudien bestätigt, die Daten etlicher Einzeluntersuchungen zusammen auswerten. Viele Wissenschaftler bemerken allerdings, dass neben dem Interphone-Verbund nur noch der schwedische Forscher Lennart Hardell von der Uniklinik Örebro Ergebnisse erzielt, die eine Förderung der Hirntumoren belegen. Er liegt seit Jahren mit den anderen Wissenschaftlern in erbittertem Streit. Der Schwede gehört zu den Autoren des Aufrufs zum 5G-Moratorium.
Krebs durch Handystrahlung?
Aufgeheizt wird diese Debatte aus der Vergangenheit durch die Untersuchungen im amerikanischen National Toxicology Program (NTP), die im November 2018 veröffentlicht wurden. Hier haben Forscher große Gruppen von Nagetieren (Mäuse und Ratten) mit Mobilfunkwellen bestrahlt: 900 Megahertz, das ist die Basisfrequenz im Netz der zweiten Generation (GSM, D-Netz). Männliche Ratten bekamen dadurch Tumoren am Herzen – dieses Organ hatte in der Debatte bisher noch kaum eine Rolle gespielt. Insgesamt lebten die bestrahlten Labortiere allerdings länger als die Versuchsgruppe: Die Funkwellen hatten eine typische Nierenkrankheit gebremst.
Die Dosis für die Nager war hoch: Im ganzen Käfig herrschte zwei Jahre lang neun Stunden am Tag eine Strahlung, die im Bereich von 1,5 bis 6,0 Watt pro Kilogramm Körpergewicht lag. Die Spanne übersteigt einerseits den vom Bundesamt für Strahlenschutz verkündeten Richtwert für die Belastung im Kopf telefonierender Menschen von 2,0 Watt pro Kilogramm. Andererseits soll die Dosis bezogen auf die Masse des ganzen Körpers laut BfS bei höchstens 0,08 Watt pro Kilogramm liegen, also um den Faktor 25 niedriger sein, damit dieser die erzeugte Wärme in kleinen Bereichen schnell abführt.
Das konnten die Ratten nicht. Die Wissenschaftler im NTP begründen das damit, dass sie den Nagern ja kein Handy an den Kopf oder andere Körperteile binden konnten und sicherstellen mussten, dass die Dosen den Verhältnissen beim Menschen entsprachen. Ihre Kritiker hingegen monieren, die Tiere hätten keine Chance gehabt, die Überhitzung abzubauen. Darum sei das Ergebnis wertlos. »Das ist ja schon fast ein Problem für das Tierschutzrecht, wenn man die Ratten solchen Dauerdosen aussetzt«, sagt Alexander Lerchl.
Strahlung als Zivilisationsrisiko
Mit den Untersuchungen und dem Streit setzt sich ein Muster fort, das die Frage nach gesundheitlichen Folgen der Funktechnik seit Jahrzehnten beherrscht: Die Fachleute reden aneinander vorbei. Viele Studien – dieser Eindruck drängt sich auf – sollen gar nicht die Sache klären, sondern die eigene Position bestätigen, und jedes Ergebnis bietet genügend Angriffsfläche, so dass die Gegenseite es in der Luft zerfetzen kann.
Derweil beharrt die Mobilfunkindustrie mit ihrem Milliardenumsätzen darauf, dass der Technik nichts anzulasten sei, die Politik fördert den Ausbau der Netze als Investition in den Industriestandort, und die Kunden nutzen freudig die Möglichkeiten der drahtlosen Kommunikation. Am Ende ist Mobilfunk ein Zivilisationsrisiko wie der Autoverkehr, das die meisten achselzuckend verdrängen. Das wird vermutlich bei 5G kaum anders laufen.
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