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Magische Kerne: Doppelt magischer Sauerstoff überrascht Fachleute

Physiker konnten erstmals Sauerstoff-28 in einem Teilchenbeschleuniger nachweisen. Nun müssen sie vielleicht ihre Theorien über den Aufbau von Atomkernen überdenken.
Schwerer Atomkern
Kerne mit einer »magischen« Anzahl an Protonen und Neutronen sollten besonders stabil sein. Sauerstoff-28 zerfällt aber deutlich schneller als gedacht.

Nach jahrelangen Bemühungen konnten Physikerinnen und Physiker im August 2023 zum ersten Mal Sauerstoff-28 nachweisen. Dank eines leistungsstarken Instrumentariums und etwas experimentellem Geschick gelang es ihnen, das seltene Sauerstoffisotop zu detektieren, das zwölf zusätzliche Neutronen in seinem Kern enthält. Fachleute sagen schon lange voraus, dass dieses Isotop ungewöhnlich stabil sein sollte. Erste Beobachtungen des 28O-Kerns deuten jedoch darauf hin, dass das nicht der Fall ist: Er zerfällt rasch nach seiner Entstehung, wie das Team um Yosuke Kondo von der Technischen Hochschule Tokio in »Nature« berichtet. Sollten sich die Ergebnisse wiederholen lassen, müssen Physiker möglicherweise ihre Theorien über den Aufbau von Atomkernen überarbeiten.

Die stärkste Kraft im Universum ist jene, die Protonen und Neutronen im Kern eines Atoms zusammenhält. Um die Entstehung der Elemente, Neutronensterne und vieles mehr zu entschlüsseln, müssen die Wissenschaftler diese »starke Kernkraft« besser verstehen, sagt der Physiker Takashi Nakamura von der Technischen Hochschule Tokio. Er und andere Forscher und Forscherinnen testen die bestehenden Theorien, indem sie Atomkerne bis zum Äußersten treiben. Eine beliebte Methode besteht darin, leichte Kerne wie Sauerstoff mit überschüssigen Neutronen zu versetzen und zu beobachten, was passiert.

Aktuelle Theorien besagen, dass Atomkerne mit einer bestimmten Anzahl von Protonen und Neutronen von Natur aus stabil sind. Das liegt daran, dass die Nukleonen die »Schalen« des Kerns ausfüllen, ähnlich wie das bei Elektronen in Atomen der Fall ist. Wenn eine Schale mit genau der richtigen Anzahl von Protonen oder Neutronen gefüllt ist, wird es extrem schwierig, Teilchen hinzuzufügen oder zu entfernen – wie bei Edelgasen, die durch ihre gefüllten Atomschalen ungern Elektronen aufnehmen oder abgeben. In der Kernphysik spricht man von »magischen« Zahlen, die mutmaßlich 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 Teilchen umfassen. Verfügt ein Kern über eine magische Anzahl von Neutronen und Protonen, wird er »doppelt magisch« – und damit Vorhersagen zufolge noch stabiler.

Die häufigste Form von Sauerstoff, 16O, ist doppelt magisch, weil der Kern aus acht Protonen und Neutronen besteht. Sauerstoff-28, mit 8 Protonen und 20 Neutronen, wird ebenfalls als doppelt magisch vorausgesagt. Aber bisher ließ sich das nicht überprüfen.

Auf Geisterjagd, um magische Kerne zu finden

Der Nachweis von 28O erforderte mehrere experimentelle Kunststücke. Zunächst mussten die Fachleute am Beschleuniger von der Riken RI Beam Factory in Wako, Japan, intensive Ströme radioaktiver Isotope erzeugen. Dafür feuerten sie einen Strahl aus Kalzium-48-Isotopen auf ein Beryllium-Target, wodurch ein Fluor-29-Isotop entstand. Der Kern dieses Isotops hat ein Proton mehr als 28O, aber die gleiche Anzahl von Neutronen. Als Nächstes ließen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 29F auf eine dicke Barriere aus flüssigem Wasserstoff prallen, wodurch ein Proton aus dem Kern herausgeschlagen wurde und 28O entstand.

Diese seltene Form des Sauerstoffs war allerdings zu kurzlebig, um sie direkt beobachten zu können. Stattdessen wies das Team daher ihre Zerfallsprodukte nach: Sauerstoff-24 plus vier Neutronen – eine Messung, die noch vor wenigen Jahren unmöglich schien.

Der gleichzeitige Nachweis von bis zu zwei Neutronen wurde bereits durchgeführt, aber es ist das erste Mal, dass Fachleute vier Neutronen zeitgleich detektiert haben, erklärt Nakamura. »Sie sind wie Geister«, sagt er über die neutralen Teilchen. Weil sie keine elektrische Ladung haben, lassen sich Neutronen nicht so einfach steuern wie Protonen (24O mit seinen acht positiv geladenen Protonen kann durch Magnete in einen Detektor gelockt werden). Um einzelne Neutronen zu beobachten, haben die Forscher und Forscherinnen in Japan einen leistungsstarken Detektor verwendet, den ihnen das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt ausgeliehen hat. Der Apparat erkennt eintreffende Neutronen, wenn sie Protonen umherschleudern. Kondo, der Hauptautor der aktuellen Arbeit, hat nach der komplizierten Messung die Ergebnisse zusätzlich am Computer simuliert, um die experimentellen Resultate zu überprüfen.

»Die Forscherinnen und Forscher haben wirklich ihre Hausaufgaben gemacht«, sagt der Physiker Robert Janssens von der University of North Carolina in Chapel Hill. »Sie haben alle möglichen Überprüfungen durchgeführt, die man machen kann. Das ist eine Meisterleistung.«

Müssen die magischen Zahlen überdacht werden?

Obwohl das Team nicht in der Lage war, die Lebensdauer von 28O genau zu bestimmen, verhielt sich das Isotop nicht doppelt magisch: Es zerfiel fast so schnell, wie es entstanden war. »Das hat mich überrascht«, sagt Nakamura. »Ich hatte gedacht, es sei doppelt magisch.«

Das ist nicht der erste Hinweis darauf, dass die Liste der magischen Zahlen nicht allgemein gilt, sagt die Physikerin Rituparna Kanungo von der Saint Mary's University in Halifax, Kanada. Sie gehörte zu einem Forschungsteam, das 2009 zeigte, dass sich 24O entgegen den Regeln der Kernphysik doppelt magisch verhält. Die 8 Protonen und 16 Neutronen des Isotops sind stark aneinander gebunden, was ihm eine relativ lange Lebensdauer verleiht – es dauert etwa 61 Millisekunden, bis die Hälfte der 24O-Kerne radioaktiv zerfallen sind. Demnach könnte in einigen Kernen auch 16 eine magische Zahl sein. »Magische Zahlen sind nicht unveränderlich«, sagt Janssens.

Im Moment werfen die Eigenschaften von 28O eine ganze Reihe von Fragen über die Kräfte auf, die Kerne zusammenhalten. Physiker und Physikerinnen träumen bereits von den nächsten Schritten. Nakamura möchte beispielsweise versuchen, Sauerstoff-30 nachzuweisen. Da die Lebensdauer von Isotopen eine relative Größe ist, wäre es hilfreich, 28O mit diesem schwereren, noch nicht untersuchten Nachbarn in der Nuklidkarte zu vergleichen.

»Es ist so einfach und so kompliziert zugleich«, sagt Janssens. »Wir wissen im Moment nicht, wie viele Protonen und Neutronen man in einem Kern zusammenbringen kann, damit sie zusammenbleiben. Wo liegt die Grenze?«

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