Blutvergiftung: Amoklauf des Immunsystems
Applaus ist im britischen Unterhaus verboten. Doch als der Abgeordnete Craig Mackinlay am 22. Mai 2024 nach mehrmonatiger Abwesenheit den Saal betrat, begrüßten ihn die Parlamentarier mit stehenden Ovationen. Der 57-Jährige hatte im September 2023 eine lebensbedrohliche Sepsis erlitten und in der Folge beide Hände und Füße verloren. Ein Dreivierteljahr später kam er nun mit Bein- und Armprothesen zurück.
So dramatisch das war, Craig Mackinlay hatte noch einmal Glück gehabt. Seine Frau Kati, eine Pharmazeutin, hatte den Ernst der Lage sofort erkannt, als ihr Mann zu Hause über Unwohlsein klagte. Und die Ärztinnen und Ärzte, die ihn behandelten und zunächst für 16 Tage ins künstliche Koma versetzten, hatten alles richtig gemacht. Das gelingt bei Weitem nicht immer. Jahr für Jahr erkranken weltweit knapp 50 Millionen Menschen an einer Sepsis, auch Blutstrominfektion oder alltagssprachlich »Blutvergiftung« genannt. Rund elf Millionen von ihnen sterben daran.
Doch es gibt Lichtblicke: »In den zurückliegenden zehn Jahren hat sich das Bewusstsein für dieses Problem merklich erhöht«, sagt Marcin Osuchowski, der am Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie in Wien über die pathophysiologischen Mechanismen bei Sepsis forscht. Nicht nur Laien seien die Gefahren einer Blutstrominfektion klarer geworden. »Auch die Ärzte wissen jetzt besser, worauf sie achten und wie sie sich verhalten müssen.«
Eine Sepsis tritt auf, wenn Krankheitserreger, meist Bakterien, in den Blutkreislauf eindringen und das körpereigene Immunsystem so heftig darauf reagiert, dass es Gewebe und Organe stark schädigt bis hin zu ihrem Versagen. Es gelte dann, den auslösenden Erreger möglichst rasch zu identifizieren und die Reaktion des Immunsystems umgehend zu stoppen, wie beispielsweise eine aktuelle Fachpublikation zum Thema herausstellt. Die Biotechnologen Javad Ali, Wenche Johansen und Rafi Ahmad von der Inland Norway University of Applied Sciences im norwegischen Hamar betonen darin, dass die Sepsis ein Notfall sei, und stellen ein besonders schnelles Nachweisverfahren vor. Jede Stunde Verzögerung beim Erstellen der Diagnose senke die Überlebenschancen der Betroffenen um mehr als sieben Prozent. Solle eine Therapie erfolgreich sein, müsse der Auslöser frühzeitig und zuverlässig erkannt werden.
Schwierige Ursachensuche
Der Erregernachweis erfolgt bislang mit Hilfe einer so genannten Blutkultur. Dafür bringt man Blutproben der Erkrankten unter Laborbedingungen in geeignete Nährmedien ein und beobachtet dann, ob und welche Keime sich in den Medien vermehren. »Das Problem dabei: Ein Nachweis gelingt auf diese Weise nur in 10 bis 30 Prozent der Fälle; in den restlichen Proben findet man keine Erreger«, erläutert Kai Sohn, Abteilungsleiter In-vitro-Diagnostik am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart.
»Wir suchen nach den Spuren, die der Erreger hinterlässt, und nicht nach ihm selbst«Kai Sohn, Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart
Das liege unter anderem daran, dass die Menge der verursachenden Bakterien, Viren oder Pilze im Blut bei einer Sepsis gar nicht so groß sei, wie man es angesichts der lebensbedrohlichen Komplikationen vielleicht erwarte. Sohn hat daher gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen ein alternatives Nachweisverfahren entwickelt, das schneller und präziser funktioniert. »Wir suchen nach den Spuren, die der Erreger hinterlässt, und nicht nach ihm selbst«, erklärt Sohn das grundlegende Prinzip der Methode.
Mit »Spuren« meint der Forscher, der kürzlich den Wissenschaftspreis des Stifterverbandes »Forschung im Verbund« bekam, winzige Stückchen frei zirkulierender DNA, die ein Erreger im Blut hinterlässt. »Mit Hilfe der so genannten Hochdurchsatzsequenzierung untersuchen wir in kurzer Zeit rund 30 Millionen DNA-Fragmente pro Patient«, sagt Kai Sohn. Das Ergebnis gleichen die Fachleute mit einer Datenbank ab, die eine riesige Anzahl bekannter Genomsequenzen enthält. So lässt sich herausfinden, von welchen Keimen die DNA-Schnipsel im Blut stammen. Kommt eine bestimmte Sequenz häufiger vor, als auf Grund des Hintergrundrauschens zu erwarten wäre, deutet das auf eine Infektion mit dem entsprechenden Krankheitskeim hin. In diesem Fall melden Sohn und sein Team das den behandelnden Ärzten weiter.
Ausgelöst von Krankheitskeimen
»Der Trigger einer Sepsis ist immer ein Erreger«, sagt Sohn. Für den Großteil der Fälle seien 20 bis 30 Mikroorganismen und Viren verantwortlich, darunter die Bakterien Staphylococcus aureus, Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae, Pseudomonas aeruginosa und Enterococcus faecalis. »Aber unsere Methode ist ein offener Ansatz, der nicht nur auf jene Pathogene testet, die in der Probe am wahrscheinlichsten zu erwarten sind – wie es zum Beispiel das PCR-Verfahren macht«, erläutert der Wissenschaftler. Mit der Technik, die sein Team entwickelt hat, komme man auch seltenen Krankheitserregern auf die Schliche. Sohn berichtet von einem Mann, bei dem Bakterien aus der Gattung Leptospira die Infektion ausgelöst hatten: »Das kommt nur sehr sporadisch vor; mit der klassischen Diagnostik würde man normalerweise nicht darauf testen.«
»Der Trigger einer Sepsis ist immer ein Erreger«Kai Sohn, Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart
Die neue Technik ist bis zu sechsfach empfindlicher als Blutkultur-Verfahren. Und sie ist deutlich schneller: Statt nach drei Tagen weiß man spätestens nach 24 Stunden, mit welchen Mikroorganismen und Viren man es zu tun hat. Sohns Team arbeitet daran, noch rascher an das Testergebnis zu kommen. Mit Hilfe einer Echtzeitanalyse während des Sequenziervorgangs lässt sich womöglich schon in sechs bis acht Stunden ermitteln, welche Erreger die Probe enthält.
Aktuell ist das Verfahren mit etwa 900 Euro pro Test noch recht teuer. Dennoch kommt es in einigen Universitätskliniken bereits zum Einsatz. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten derzeit nicht flächendeckend. Das werde sich ändern, sobald die Ergebnisse der klinischen Studie »DigiSep« veröffentlicht seien, ist sich Sohn sicher. DigiSep hat den klinischen Nutzen des neuen Verfahrens an mehreren Krankenhäusern getestet, ist abgeschlossen und zur Publikation eingereicht. Ihre Daten werden unter anderem die Vorteile der Methode aufdecken – etwa im Hinblick darauf, wie lange die Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation bleiben müssen, wie lange sie auf antimikrobielle Arzneistoffe angewiesen sind oder wie hoch die Sterblichkeit im Vergleich zur klassischen Diagnostik ist.
Übergreifender Kampf gegen die Sepsis
Kai Sohn und sein Team sind nicht die Einzigen, die an besseren und schnelleren Testmethoden für Blutstrominfektionen arbeiten. Die eingangs erwähnte Arbeitsgruppe von der Inland Norway University of Applied Sciences beispielsweise kombiniert in ihrem nun veröffentlichten Verfahren eine kurze Kultivierungsphase der Blutprobe mit Echtzeit-Sequenzierung und -Datenanalyse und kann so nach eigenen Angaben in sieben bis neun Stunden den auslösenden Krankheitserreger nachweisen.
Andere Fachleute hingegen setzen nicht bei den sepsisauslösenden Viren, Bakterien oder Pilzen an, sondern bei den überschießenden Immunreaktionen auf diese Keime. Ein Team um den Mediziner Thorsten Kaiser von der Universität Bielefeld etwa hat einer KI die Ergebnisse von 1,4 Millionen Blutuntersuchungen vorgesetzt. Es handelte sich um Daten des so genannten kleinen Blutbilds, das die Konzentrationen weißer und roter Blutkörperchen sowie den Hämoglobin- und den Hämatokrit-Wert ermittelt. Die künstliche Intelligenz leitete daraus Muster ab, die auf eine sich anbahnende Sepsis hinweisen.
»Die Herausforderung besteht darin, dass eine Sepsis häufig viel zu spät diagnostiziert wird, obwohl bei der Behandlung jede Minute zählt«, äußert Kaiser in einer Pressemitteilung seiner Universität. Die KI-Analysen des kleinen Blutbilds könnten als Frühwarnsystem in den Klinikalltag aufgenommen werden. »Wir wissen nicht ganz genau, wie der Algorithmus anhand der Daten zu seinen Schlüssen kommt. Es spielen dabei nicht nur die Konzentrationen der jeweiligen Blutzellen eine Rolle, sondern auch deren Aussehen.«
Die Körperabwehr wieder ins Lot bringen
Lange Zeit hielt man für das alleinige Übel bei einer Sepsis die Immunantwort, die aus dem Ruder laufe und lebenswichtige Organfunktionen beeinträchtige. Doch es kann dabei auch zu einer Immunschwächung kommen, einer so genannten Immunparalyse. Darüber forscht unter anderem Richard Hotchkiss von der Washington University School of Medicine in St. Louis. Er hat entdeckt, dass bei einer Sepsis massenweise Immunzellen absterben sowie immunaktivierende Signalmoleküle herunter- und -hemmende heraufgefahren werden. »Immunüberaktivierung und Immunschwächung passieren zusammen, und das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Elementen ist sehr dynamisch. Gerade das macht die Therapie so kompliziert«, erläutert Marcin Osuchowski.
»Wer an Covid-19 stirbt, stirbt an einer viralen Sepsis«Konrad Reinhart, deutsche Sepsis-Stiftung
Wegen zahlreicher Rückschläge habe sich die Pharmaindustrie beim Entwickeln von Wirkstoffen gegen die Sepsis lange Zeit zurückgehalten. »Im Zuge der Covid-19-Pandemie hat sich das aber deutlich geändert«, sagt Konrad Reinhart, Intensivmediziner und Vorstand der deutschen Sepsis-Stiftung. Denn auch bei einer schweren Corona-Infektion kann die Immunabwehr außer Kontrolle geraten. »Wer an Covid-19 stirbt, stirbt an einer viralen Sepsis«, verdeutlicht Reinhart. Während der Pandemie erhielten einige viel versprechende Wirkstoffe zur Behandlung von Covid-19 eine Notfallzulassung der zuständigen Arzneimittelbehörden. Dazu gehörte etwa der therapeutische Antikörper Tocilizumab, der den Botenstoff Interleukin 6 (IL-6) blockiert – eine Signalsubstanz, die Entzündungsprozesse stark fördert.
Reinhart selbst favorisiert einen anderen Antikörper, dessen Entwicklung Niels Riedemann, ehemaliger Intensivmediziner am Universitätsklinikum Jena und jetzt Geschäftsführer der Firma InflaRx, vorangetrieben hat. »Vilobelimab« hemmt einen Bestandteil der angeborenen Immunabwehr, das Molekül C5a. Normalerweise ist es Aufgabe der angeborenen Immunabwehr, eindringende Krankheitserreger rasch abzuwehren. Bei einer Überaktivierung kann sie den Organismus aber stark schädigen.
Eine Blockade von C5a scheint dieser Gefahr entgegenzuwirken. In einer klinischen Studie mit schwer kranken, künstlich beatmeten Covid-19-Patientinnen und -Patienten senkte das Verabreichen von Vilobelimab die Sterblichkeit um rund 27 Prozent. Die zusätzliche Gabe von Tocilizumab wirkte noch besser. »Blockierte man bei den Patienten C5a und IL-6 gleichzeitig, senkte das die Sterberate um fast 85 Prozent«, sagt Reinhart. Das sei ein großer Effekt, den man, falls er sich in Folgestudien bestätigen sollte, als Durchbruch in der Sepsis-Therapie bezeichnen könne.
Riskanter Eingriff ins Immunsystem
Marcin Osuchowski rät allerdings zu mehr Vorsicht bei der Interpretation dieser Ergebnisse. Er hat drei wesentliche Einwände. Das Grundproblem bei hemmenden Antikörpern wie Tocilizumab oder Vilobelimab sei, dass man sie nur geben könne, wenn man wirklich wisse, ob ihre Zielmoleküle – in diesem Fall C5a und IL-6 – überaktiv seien. »Komplett inhibieren kann man solche wichtigen Botenstoffe nicht, weil sie wesentliche Prozesse der Immunabwehr steuern.« Osuchowski zieht einen Vergleich zum Auftreten von Fieber: Eine erhöhte Körpertemperatur sei ein wichtiger Bestandteil der Infektionsabwehr. Man solle Fieber deshalb erst dann medikamentös senken, wenn es auf deutlich über 39 Grad Celsius steige, und nicht schon vorher.
Außerdem sei die erwähnte klinische Studie mit Vilobelimab an Patienten mit viraler Sepsis durchgeführt worden »und ist möglicherweise nicht eins zu eins auf eine durch bakterielle Erreger verursachte Sepsis übertragbar«, wie Osuchowski betont. Dieser Aspekt sei wichtig. Virale Infektionen sind in der Regel robuster, aggressiver und schneller fortschreitend als bakterielle. »Es wäre unklug, eine Therapie dagegen auf Patienten mit bakterieller Sepsis zu übertragen, ohne das vorher sorgfältig getestet zu haben.«
Eine Sepsisbehandlung, die die Immunantwort moduliere, müsse laufend überwacht werden, meint Osuchowski. Ist die Aktivität des angesteuerten Botenstoffs nach Gabe des Medikaments im angepeilten Bereich, immer noch zu hoch oder sogar schon zu niedrig? Statt aggressiver Behandlung brauche es eine fein abgestimmte Therapie, einschließlich ständiger Beobachtung der Blutwerte, und das sei teuer.
Die Sepsis ist außerdem eine sehr heterogene Erkrankung, die von Mensch zu Mensch, aber auch über die Zeit hinweg starken Veränderungen unterworfen sein kann. Neben der Überaktivierung spielt die Schwächung der Körperabwehr ebenfalls eine Rolle – in welchem Umfang und Ausmaß, ist Gegenstand aktueller Forschungen. »Sepsis ist etwas anderes als Diabetes: Diabetiker erhalten Insulin, wenn der Blutzucker zu hoch ist, doch das EINE Medikament für Sepsis wird es nicht geben«, sagt Osuchowski. Die einschlägige Forschung arbeite auf eine personalisierte Behandlung hin, womit sich die Pharmaindustrie schwertue: »Aus deren Sicht wäre es besser, ein ›Wundermittel‹ zu haben, das sich möglichst allen Sepsis-Betroffenen verabreichen lässt.«
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