Chemische Evolution: Schöne, alte RNA-Welt
In der Geschichte der Evolution gibt es gleich mehrere Henne-Ei-Probleme. Eines der undurchdringlichsten ist die Frage nach dem "Was kam zuerst?" in der Zeit, bevor es Leben auf der Erde gab. Zwei Bestandteile sind nach allem, was wir wissen, grundlegend für das Leben: Proteine auf der einen Seite und Nukleinsäuren wie DNA auf der anderen. Proteine braucht man als Enzyme, um Nukleinsäuren aufzubauen. Aber um die Enzyme herzustellen, benötigt man wiederum die entsprechende Bauanleitung, die nur die Nukleinsäuren liefern können.
Anfang der 1980er Jahre häuften sich Veröffentlichungen, die Lösungen für dieses Dilemma der "präbiotischen Evolution" anboten: Es hatte sich gezeigt, dass bei manchen Einzellern neben normalen Enzymen auch RNA-Strukturen die Synthese anderer RNA-Moleküle katalysieren können. In Anlehnung an die bis dahin einzigen bekannten Zellkatalysatoren, die Enzyme, nannte man diese Strukturen aus RNA – also aus Ribonukleinsäure – Ribozyme. 1986 griff der Biochemiker und Nobelpreisträger Walter Gilbert die gesammelten Ergebnisse auf, um einer jungen Evolutionshypothese einen Namen zu geben: "RNA-Welt". Die Kernaussage: Das wichtigste Ereignis für den Ursprung des Lebens ist die Bildung eines selbstreplizierenden Moleküls. Eines Moleküls, das sich sowohl eigenständig kopieren als auch abändern kann und dadurch immer bessere und effizientere Kopiermechanismen entwickelt. Und der beste Kandidat für dieses Molekül sei die RNA.
Für viele Wissenschaftler, die sich mit präbiotischer Evolution auseinandersetzen, klingt dies alles sehr schlüssig. Doch die These wurde aus diversen Gründen auch attackiert. Unter anderem deshalb, weil eine große Frage bei alldem offen blieb: Wie konnte sich die RNA überhaupt bilden? Ein zentraler Bereich der Forschung ist folglich die Suche nach einem chemischen Nachweis dafür, dass RNA tatsächlich "von selbst" entstehen kann.
Was war vor der RNA?
Auch wenn die einzelsträngige RNA einfacher aufgebaut ist als die doppelsträngige DNA – nachzuweisen, wie ausgerechnet dieses Polymer sich Stück für Stück aus kleinen Verbindungen vor vier Milliarden Jahren hätte formen können, ist ein schwieriges Unterfangen. Dennoch konnten Chemiker um John Sutherland im Jahr 2009 mit erstaunlich einfachen Ausgangsmolekülen zwei der vier RNA-Grundbausteine (oder Ribonukleotide) im Labor herstellen. Dabei handelt es sich um Verbindungen aus Zuckern und Basen, in Sutherlands Fall die so genannten Pyrimidinbasen Uracil und Cytosin. "Das war eine schöne Arbeit, aber Sutherland wurde dafür kritisiert, dass er die Reaktionen stufenweise ablaufen ließ, wie bei einer normalen chemischen Laborsynthese", sagt Thomas Carell, Chemiker an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. "In einer urzeitlichen Lösung wären alle Reaktionsbestandteile wahrscheinlich zur gleichen Zeit vorhanden gewesen."
Erst kürzlich haben er und Kollegen einen Weg gefunden, die beiden anderen Bausteine der RNA, die Purinbasen Adenosin und Guanin, herzustellen – und zwar erstmals unter "plausiblen Urzeitbedingungen": bei einer Temperatur von 100 Grad Celsius, unter Sauerstoffausschluss und in wässrigen Lösungen von Ammoniak oder Borax, zu denen dann die anderen Verbindungen hinzugegeben werden.
Schrittweise zurück
Bei einem anderen Forschungsprojekt hatten die Münchner Forscher per Zufall entdeckt, dass ein Molekül namens Formamidopyrimidin (FaPy) zu Purinen reagieren kann. Nun fragten sie sich, ob sich unter urzeitlichen Bedingungen Formamidopyrimidine bilden konnten. Dazu braucht es nur drei verschiedene Elemente: Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff. Eine Verbindung, die alle Bestandteile liefert und von der viele Wissenschaftler glauben, dass sie vor vier Milliarden Jahren auf der Erde vorhanden war, ist Zyanwasserstoff oder Blausäure. Mit Wasser reagiert sie zu Aminopyrimidinen und diese wiederum mit Hilfe von etwas Säure zu einer FaPy-Verbindung – der Kreis war geschlossen: Purine können sich bei den vorgegebenen, einfachen Bedingungen entwickeln.
In Anwesenheit von Ameisensäure oder auch Formamid (die im Rahmen der Rosetta-Mission auf dem Kometen Tschurjumow-Gerasimenko entdeckt wurden und sich demnach wohl auch in der Ur-Erdatmosphäre bilden konnten) reagieren die Basen sehr gut und mit großer Ausbeute mit Zuckern – und somit zu fertigen Ribonukleotiden.
Carell glaubt, dass sich auf diesem Weg auch die beiden Pyrimidine herstellen lassen, die Sutherland 2009 auf seine Art synthetisierte. Die Publikation seines Teams kam in der Fachwelt gut an, aber wo Lob ist, ist auch Kritik. Auch an sich selbst: "Eine grundlegende Sache, bei der wir noch gar keine Ahnung haben, warum sie so ist, wie sie ist, ist die Chiralität", sagt Thomas Carell. Von manchen organischen Molekülen gibt es zwei Varianten, die zueinander spiegelverkehrt sind – bei den Nukleinsäuren und auch bei den Proteinen hat sich letztlich eine davon durchgesetzt, obwohl sich bei Reaktionen beide bilden. Für die durchgängige Bevorzugung einer der Varianten, die Homochiralität, gibt es schlichtweg noch keine befriedigende Erklärung. Vor allem aber fehlen Hinweise, wie sich aus den einzelnen Bausteinen komplette RNA-Stränge zusammengefunden haben sollen. Doch für Carell sind das keine unüberwindbaren Hürden. Letztlich werde sich ein nachvollziehbarer Weg dorthin finden lassen.
Information vs. Stoffwechsel
Nicht alle teilen seine Ansicht. Skeptisch ist etwa der Biologe Bill Martin, der sich an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität mit molekularer Evolution beschäftigt. Seiner Meinung nach erfänden Chemiker eine ihnen passende präbiotische Umwelt, um darin die gewünschten Moleküle herzustellen: "Das sind spannende Synthesen, aber nur weil man etwas im Labor machen kann, heißt das nicht, dass es so gewesen sein muss."
Martin ist Vertreter der so genannten "Metabolism-first"-Hypothese. Wird in der RNA-Welt die (vererbbare) Information über alles andere gestellt, steht hier der Stoffwechsel am Anfang des Lebendigen. Reaktionen von kleinen Molekülen hätten zu einfachen organischen Verbindungen geführt, unter Umständen mit Hilfe der katalytischen Eigenschaften von Mineralien oder porösen Oberflächen in Gesteinen. Diese Verbindungen ließen sich auf unterschiedliche Weisen zu – wiederum einfachen – Aminosäuren, Lipiden und Nukleinbasen kombinieren, welche dann als Katalysatoren für die Bildung anspruchsvollerer Moleküle dienen konnten. Der Anfang eines Stoffwechsels wäre gemacht.
Für dieses Szenario spricht, dass sich lange, komplexe Moleküle wie RNA nicht spontan bilden müssen wie bei der RNA-Welt-Hypothese. Zudem existieren hier relativ einfache Theorien, wie sich die Homochiralität entwickeln konnte, die vielen Chemikern solche Kopfschmerzen bereitet. Ausgangspunkt einer solchen Theorie ist Glycin, eine Aminosäure, die sich spontan aus kleinen Molekülen bilden kann, einfach aufgebaut ist und keine Chiralität besitzt. Basierend darauf könnten sich weitere einfache Aminosäuren mit katalytischer Hilfe kurzer Peptidketten gebildet haben – es wäre denkbar, dass dieser primitive katalytische Prozess zufälligerweise linksdrehende Aminosäuren bevorzugt hat und damit auch Einfluss auf die chirale Auswahl der Nukleinsäuren hatte, mit denen sie dann interagierten. Ein Nachweis dafür steht allerdings noch aus.
Die Bedingungen in der Urzeit legt jeder anders aus
Bill Martin geht in seiner Forschung noch einen Schritt weiter zurück, vor die hypothetische RNA-Welt oder die der ersten Stoffwechselwege: Wie wurde das Kohlenstoffdioxid fixiert, um daraus Moleküle zu machen; welche Umgebung haben diese dann gebraucht, um weiter zu reagieren, ohne dass ihnen der Nachschub für grundlegende chemische Reaktionen ausging? Martin sieht als Wiege solcher Entwicklungen Hydrothermalquellen.
Welche Annahmen als "plausibel" gelten können für die Verhältnisse auf der Urerde, ist umstritten. Mitunter kritisieren Geologen die Modelle, die Chemiker und Biochemiker ihren Laborexperimenten zu Grunde legen. Diese seien zwar chemisch gesehen nachvollziehbar, deckten sich aber nicht mit den Erkenntnissen der Geowissenschaftler. Nach Einschätzung von Geologen wie Frances Westall vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Orleans war die Erde zu der Zeit, als das Leben begann, komplett von Wasser bedeckt, vulkanisch extrem aktiv und überall ungefähr 80 Grad Celsius warm. Manche Chemiker und Biochemiker arbeiten jedoch mit viel geringeren Temperaturen, teils sogar mit Eis.
Ein weiterer Aspekt: Zu jener Zeit wurde die Erde so oft von Meteoriten getroffen, dass Westall und viele Kollegen stark davon ausgehen, dass auf diese Weise komplexe chemische Verbindungen auf die Erde kamen. Auch sie könnten erheblichen Anteil an der präbiotischen Evolution gehabt haben: "Ein Großteil der ursprünglichen Verbindungen könnte so auf die Erde gekommen sein", sagt die Forscherin.
Ihr Kollege Bill Martin hält dagegen: Die Menge solcher extraterrestrischen Moleküle sei auf die immense Wassermasse gerechnet viel zu gering, um eine relevante Rolle zu spielen. Die benötigten Verbindungen müssten für eine Weiterentwicklung hoch konzentriert sein, und auch hier böten Hydrothermalquellen seiner Ansicht nach eine Lösung: In zellartigen Mikrokompartimenten habe sich ein Mix aus Molekülen anreichern können. Doch was darin an einfachen chemischen Reaktionen abgelaufen ist – dafür hat auch Martin erst einmal nur Theorien.
Der goldene Mittelweg
Die Lösung in der Debatte um RNA-Welt und "Metabolism first" könnte am Ende womöglich gar in der Mitte liegen. Niles Lehman, Biochemiker an der Portland State University, forscht selbst an Ribozymen und betrachtet die RNA-Welt pragmatisch: "Die Hypothese ist ein gutes Werkzeug, um davon ausgehend Forschung zu betreiben, aber ich denke, dass sich die Protein- und Nukleinsäurensysteme parallel zueinander entwickelt haben. Beweisen können wir das allerdings noch nicht."
Es ist schwierig, einen Nachweis zu finden für Vorgänge, die vor über vier Milliarden Jahren stattfanden. Meist können Forscher nur darauf hoffen, die Beschreibung eines in sich schlüssigen Zusammenspiels der natürlichen Kräfte zu finden – an dessen Ende dann die Entstehung der entscheidenden Moleküle steht. Lehman und sein Team griffen zuletzt auf spieltheoretische Ansätze zurück. Sie ließen dazu Ribozyme gegeneinander antreten und beobachteten, dass diese sich nach dem Stein-Schere-Papier-Prinzip in Gegenwart der anderen unterschiedlich gut replizierten. Derartige Experimente zeigen, wie schon ein sehr kleines Netzwerk aus RNA-Molekülen eine Art Selektionsmechanismus entwickeln könnte. Solche Forschungsansätze stehen noch ganz am Anfang, könnten aber den Vertretern der einzelnen Lager helfen, ihre Scheuklappen abzulegen. "In dieser Art der Forschung neigen wir dazu, das in Stein zu meißeln, was wir zuerst über den Ursprung des Lebens gelernt haben. Sei es RNA-Welt oder 'Metabolism first', Ursuppe oder Hydrothermalquellen – davon wieder abzukommen, ist schwer", sagt Bill Martin. Vielleicht ist es ja auch an der Zeit für eine komplett neue Hypothese.
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