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Streitpunkt: Können alle Lebewesen denken?

Die Antwort auf diese brisante Frage hängt davon ab, wie wir Intelligenz, Denken und Bewusstsein definieren. Eine Kritik am Konzept der »basalen Kognition«.
Südamerikanische Brennnesselqualle in einem Aquarium, rosa fluoreszierend
Die Südamerikanische Kompassqualle lebt räuberisch. Sobald ihre Tentakel die Beute berühren, injiziert sie ihr Gift. Ein Gehirn braucht sie dafür nicht.

Ist alles Leben intelligent? Können Pflanzen, Pilze oder einzelne Zellen denken? Vertreter der »minimal intelligence«, »basal cognition« oder »plant neurobiology« treffen mit ihren Thesen offenbar einen Nerv. Peter Wohllebens »Das geheime Leben der Bäume« ist ein Bestseller. Die Argumente für eine in der belebten Natur allgegenwärtige Kognitionsfähigkeit werden aber genauso in renommierten Fachzeitschriften diskutiert. Brauchen wir also einen Paradigmenwechsel in den Lebenswissenschaften? Von der Antwort hängt einiges ab. Wenn wir annehmen, dass wirklich alles, was lebt, ebenfalls denkt oder gar empfindet, müssten wir nicht nur unser Selbstverständnis als Menschen, sondern auch die Praxis in Landwirtschaft, Ernährung, Medizin, Rechtsprechung, Forschung, ja letztlich unsere gesamte Lebensführung radikal ändern.

Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie trainieren für einen Wanderurlaub. Ihre Wadenmuskeln vergrößern sich, es bilden sich neue Blutgefäße, die Knochen festigen sich an den besonders beanspruchten Stellen. All das sind sinnvolle Anpassungen an die erhöhte Belastung der Beine. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die so genannten Osteozyten. Diese Zellen messen mit ihren feinen Ausläufern die Kräfte im Inneren der Knochenmatrix und verstärken den Knochen genau dort, wo es nötig ist. Dazu aktivieren sie eine andere Zellart namens Osteoklasten, die an den kritischen Stellen den alten Knochen abbauen, bevor sie selbst neue Knochensubstanz schaffen. Im Zusammenspiel mit Nebenschilddrüse und Niere regulieren Osteozyten zudem den Kalzium- und Phosphathaushalt des Körpers, so dass immer die richtige Menge an Rohstoffen für den Knochenaufbau vorhanden ist. Die Zellen registrieren also eine veränderte Situation und reagieren darauf sinnvoll im Interesse des gesamten Organismus. Damit sind wir mitten in der aktuellen Debatte über basale Kognition: Verhalten sich Osteozyten »intelligent«?

Das zentrale Merkmal von Intelligenz

Eine Gruppe von Zell- und Entwicklungsbiologen, Pflanzenwissenschaftlern und Kognitionsforschern vertritt die Idee, dass man nicht nur bei Menschen und ausgewählten Tieren von Denkvorgängen, Intelligenz und womöglich auch Bewusstsein ausgehen muss, sondern bei allen Lebewesen: Pflanzen, Schleimpilze, ja sogar einzelne Körperzellen reagieren schließlich sinnvoll auf vielfältige Situationen und Anforderungen, sie verhalten sich quasi »rational« im Interesse des eigenen Überlebens oder des Erhalts ihres Organismus. Genau diese Fähigkeit zum Verfolgen eigener Ziele und zum flexiblen Lösen von Problemen ist das übereinstimmende, zentrale Merkmal der zahlreichen psychologischen Definitionen von Intelligenz.

In der Forschungspraxis wird Intelligenz rein »operativ« definiert und durch statistisch aussagekräftige Tests gemessen. Verhaltensforscher haben die für Menschen entworfenen Verfahren längst so modifiziert, dass man damit auch diverse Tiere untersuchen kann. Mit überraschenden Ergebnissen: Krähen und Papageien schneiden in vielen Tests ebenso gut ab wie Schimpansen, und manche mathematischen und orthografischen Aufgaben lösen Vögel ganz ähnlich wie Schulkinder! Offensichtlich verfügen diese Tiere über enorme Fähigkeiten, und zwar in so vielen verschiedenen Domänen, dass man von allgemeiner Intelligenz sprechen kann. Dabei ist das Gehirn von Vögeln etwa 20-mal kleiner als das von Menschenaffen, und dieses wiederum dreimal kleiner als das von Menschen. Hätten wir für alle Lebewesen nur die geeigneten Testmethoden, wären sie dann nicht alle intelligent? Viel zu lange, so der Vorwurf, haben wir diese Möglichkeit in der Wissenschaft aktiv ausgeblendet, weil wir unsere Art zu denken und unser Gehirn zum Maß aller Dinge machen.

Seit einiger Zeit versuchen einige Fachleute, die als zu anthropozentrisch empfundene Ausrichtung an Universitäten zu durchbrechen. Die bekannte Forstwissenschaftlerin Susan Simard von der University of British Columbia gründet ihr Konzept von den »fürsorglichen Mutterbäumen« beispielsweise ausdrücklich auf dem holistischen Naturverständnis der indigenen Kulturen Kanadas, die alles mit allem verwoben und uns Menschen in einer spirituellen Einheit mit der Natur sehen. Solche Perspektivwechsel können den Respekt vor anderen Kulturen und vor allem Lebenden fördern. Aber hier interessiert uns, ob die Idee von einer weit verbreiteten Denk- oder Empfindungsfähigkeit als naturwissenschaftliche Aussage gültig ist. Um das zu entscheiden, müssen wir zunächst klären, worüber wir überhaupt streiten.

Entwirrung der Begriffe

Was meinen wir mit »Denken« oder fachsprachlich »Kognition«? Ähnlich wie Intelligenz wird dieser Sammelbegriff uneinheitlich verwendet. Die meisten Fachleute fassen unter Kognition verschiedene mentale Prozesse zusammen: Wahrnehmen, Planen, Entscheiden, Problemlösen, Lernen, Erinnern. Manchmal werden auch emotionale Prozesse und soziale Interaktionen einbezogen. Kognition bezeichnet also innere Vorgänge, während Intelligenz eher die messbare Fähigkeit betont, Probleme zu lösen.

Kognition bezeichnet innere Vorgänge, während Intelligenz eher die messbare Fähigkeit betont, Probleme zu lösen

Beides ist offensichtlich miteinander verwandt und beim Menschen eng an das Gehirn gekoppelt. Dies zeigt sich drastisch bei neurologischen Erkrankungen, die oft mit einem ganz spezifischen Verlust an kognitiven Fähigkeiten einhergehen. Nach einem Schlaganfall hat jemand vielleicht Wortfindungsstörungen, behält aber sein hervorragendes räumliches Vorstellungsvermögen – oder umgekehrt. Intelligenz und Kognition verteilen sich also auf mehrere Domänen, in denen sie unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.

Intelligent | Das mathematische Verständnis einer Biene entspricht dem eines Vorschulkindes.
Bienen etwa »zählen« so gut wie Vorschulkinder, und sie entwickeln sogar ein Verständnis für das abstrakte Konzept von »Null«

Auch viele Tiere verfügen über deutliche kognitive Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Raumorientierung von Zugvögeln, Fledermäusen und Elefanten, aber auch mathematisch-numerisches Denken zeigt: Bienen etwa »zählen« so gut wie Vorschulkinder, und sie entwickeln sogar ein Verständnis für das abstrakte Konzept von »Null«. Angesichts der weiten Verbreitung von Kognition und Intelligenz selbst bei so wenig menschenähnlichen Tieren verwundert es nicht, dass manche auch bei Organismen ohne Gehirn besondere Formen von Intelligenz vermuten.

Wie entstanden Neurone?

Aus Sicht der Evolutions- und Neurobiologie ist die These eines allumfassend kognitionsfähigen, intelligenten Lebens allerdings kaum nachvollziehbar. Nervenzellen entwickelten sich nach dem heutigen Stand der Forschung vor etwa 600 Millionen Jahren bei den ersten vielzelligen Tieren: Sobald sie eine signifikante Größe haben, müssen solche Tiere nämlich die Zellen ihrer Bewegungs-, Fress- und Fortpflanzungsapparate koordinieren und Informationen schnell von den spezialisierten Sinnesorganen zu den ausführenden Systemen transportieren. In dieser Koordinierungs- und Übertragungsfunktion liegt wohl der Ursprung der Neurone, die sich möglicherweise sogar mehrfach im Lauf der Evolution entwickelt haben. Schnelle Reizleitung und Koordination werden besonders dann wichtig, wenn sich ein Organismus aktiv bewegt und damit an schnell wechselnde Situationen anpassen muss. Deshalb finden wir Nervensysteme in allen Tierstämmen außer bei den (festgewachsenen) Schwämmen und Plattentieren.

Aber es ist unwahrscheinlich, dass Quallen denken können. Dazu braucht es eine weitere Ebene von Nervenzellen, die nicht direkt mit Sensoren oder Effektoren verbunden sind, sondern ein eigenes assoziatives Netzwerk bilden

Mit einfachen Nervennetzen, wie sie zum Beispiel Quallen besitzen, lassen sich zwar Bewegungen koordinieren und reflexartige Reaktionen auf äußere Reize steuern. Aber es ist unwahrscheinlich, dass diese Tiere denken können. Denn dazu braucht es eine weitere Ebene von Nervenzellen, die nicht direkt mit Sensoren oder Effektoren verbunden sind. Sie bilden ein eigenes, »assoziatives« Netzwerk, in dem die Zellen überwiegend untereinander vernetzt sind. Solche Netzwerke sind von unmittelbaren Reiz-Reaktions-Beziehungen entkoppelt und haben sich in manchen Spezies zu einem zentralen, hochgradig vernetzten Organ entwickelt, dem Gehirn. Es ist natürlich über Sinnesorgane und motorische Ausgangsbahnen mit dem Körper und der Umwelt verbunden (ein wichtiger Unterschied zu den Algorithmen der künstlichen Intelligenz!). Darüber hinaus kann es elektrochemische Aktivitätsmuster erzeugen, die weitgehend unabhängig vom aktuellen sensorischen Input und motorischen Output bestehen. Diese komplexen Muster sind nach heutigem Wissensstand die neuronalen Entsprechungen (Korrelate) mentaler Inhalte.

Begegne ich beispielsweise einem Freund, werden ganz bestimmte Neurone in meinem visuellen Kortex und vielen weiteren Hirnregionen aktiviert. Das entstehende raumzeitliche Aktivitätsmuster entspricht dabei der Wahrnehmung der Person. Ich kann ein Bild des Freunds – also ein entsprechendes Aktivitätsmuster – im Inneren aufrechterhalten, wenn ich die Augen schließe, ja sogar erzeugen, indem ich einfach nur ihn denke. Ich vermag zudem Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes wachrufen, Pläne für künftige gemeinsame Aktivitäten schmieden und so weiter. Dieses innere Geschehen steht zwar mit den Reizen und Anforderungen der Außenwelt in Beziehung, ist aber zugleich in gewissem Maß davon unabhängig.

Die Bedingungen des Denkens

Für neuronale Repräsentationen von mentalen Inhalten muss die »Hardware« bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Der kanadische Neuropsychologe Donald Hebb postulierte dies bereits 1949 in seinem berühmten Buch »The Organization of Behavior – A Neuropsychological Theory« auf Basis der damaligen Erkenntnisse der Hirnforschung: Beim assoziativen Lernen (also der dauerhaften Verbindung zweier Reize), so erklärte er, müssen sich die Kontakte zwischen den Nervenzellen verstärken (heute kennen wir dies als einen Mechanismus von synaptischer Plastizität). Auch vermutete er schon damals, dass mentale Prozesse wie Wahrnehmen, Denken, Planen oder Erinnern mit der koordinierten Aktivierung ganzer Gruppen von Nervenzellen (»assemblies«) einhergehen. Die einzelnen Neurone sind aber immer nur für winzige Sekundenbruchteile aktiv. Um die neuronalen Aktivitätsmuster im Gehirn für längere Zeit aufrechtzuerhalten – etwa für die Dauer eines Gedankens oder einer Handlung –, braucht es deshalb Schleifen innerhalb der neuronalen Netzwerke, in denen die Aktivität zirkulieren kann. Dadurch können mentale Vorgänge im Gehirn als »autonome zentrale Prozesse« unabhängig von äußeren Reizen ablaufen: die Grundlage von Kognition.

Die von Hebb weitgehend theoretisch hergeleiteten Postulate lassen sich heute durch Messungen nachweisen. Wir verstehen die beteiligten Mechanismen auf Ebene der Netzwerke, der Zellen und der beteiligten Moleküle immer besser. Teilweise können wir inzwischen recht genau beschreiben, was bei komplexen kognitiven Leistungen in Neuronenverbänden abläuft. Ein Beispiel ist die Entschlüsselung des räumlichen Gedächtnisses, für die der Engländer John O’Keefe und die norwegischen Wissenschaftler May-Britt und Edvard Moser 2014 den Nobelpreis bekamen. Zwar sind wir noch weit davon entfernt, die irrwitzige Komplexität des Gehirns vollständig zu verstehen. Doch es ist klar, dass nur dessen einzigartiger Aufbau all die kognitiven Prozesse überhaupt ermöglicht.

Unser Herz, Haut, Knochen und alle anderen Organe erfüllen die oben genannten strukturellen Bedingungen nicht, und deshalb können in ihnen keine kognitiven Prozesse ablaufen. Für Lebewesen, die überhaupt kein Nervensystem haben, gilt das umso mehr. Zwar könnte Kognition auch mittels ganz anderer Hardware entstehen, dann müsste sie aber entsprechend aufgebaut sein. Der amerikanische Philosoph Hilary Putnam hat diesen Gedanken der »multiplen Realisierbarkeit« schon in den 1960er Jahren formuliert: Jeder Gegenstand, der exakt dieselben Aktivitätsmuster ausbildet wie unser Gehirn, hätte damit denselben mentalen Zustand. Prinzipiell sind geistige Vorgänge also auch in Computern oder Robotern möglich – ob dies je Realität wird, ist allerdings unklar.

Und Bewusstsein?

Noch spekulativer wird die Diskussion beim Thema Bewusstsein. Laut Wissenschaftlern wie dem Bonner Botaniker František Baluška oder Paco Calvo, Direktor des »Minimal Intelligence Lab« an der Universität von Murcia können Pflanzen und sogar einzelne Zellen Bewusstsein besitzen. Zunächst ist zu definieren, was »Bewusstsein« überhaupt bedeutet. In seiner einfachsten Form beschreibt es wohl die Erlebnis- oder Empfindungsfähigkeit eines Lebewesens. Dafür müssen vielfältige Informationen aus der Umwelt und dem eigenen Körper mit internen Zuständen (Erwartungen, Vorwissen, Emotionen, Gewohnheiten und so weiter) so integriert werden, dass ein einheitlicher und stabiler mentaler Zustand entsteht.

Die allermeisten Bewusstseinsforscher sind sich darin einig, dass es für diese Integrationsleistung ein Gehirn mit den oben beschriebenen Eigenschaften braucht. Was dagegen genau das »bewusst sein« gegenüber anderen mentalen Repräsentationen auszeichnet, wird in Fachkreisen heftig diskutiert. Wahrscheinlich wird bei einem geeigneten Reiz und entsprechend ausgerichteter Aufmerksamkeit eines der vielen neuronalen Aktivitätsmuster dominant und bestimmt plötzlich das Geschehen in einem großen Teil des Gehirns. Diese »Zündung« (ignition))weit verteilter neuronaler Netzwerke bei einer bewussten Wahrnehmung lässt sich in Experimenten mit modernen Messmethoden tatsächlich nachweisen.

Wir sind keine Fledermäuse

Rätselhaft bleibt, wie die Ich-Perspektive entsteht und warum wir uns überhaupt als kontinuierliches »Ich« und als Urheber unserer Gedanken und Handlungen erleben. Was andere Menschen oder gar Tiere genau empfinden, können wir nicht messen, sondern allenfalls vermuten. Egal, wie viel wir über Fledermäuse wissen, wir werden nie erfahren, wie es sich wirklich »anfühlt«, eine Fledermaus zu sein – so erklärte es der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 1974 in einem berühmten Aufsatz. Sein australischer Berufskollege David Chalmers hat genau diese Schwierigkeit als »hartes Problem des Bewusstseins« bezeichnet.

Andere, wie die kanadische Philosophin Patricia Smith Churchland, halten das Ganze für ein Pseudoproblem und gehen davon aus, dass sich das Bewusstseinsrätsel in Luft auflöst, sobald wir die zu Grunde liegenden Mechanismen erkannt haben. Bewusstsein wäre dann genauso erklärbar wie der Blutdruck oder die Verdauung. Klar ist: Ohne Gehirn gibt es kein Bewusstsein. Fast alle Gesellschaften haben daraus eine drastische Konsequenz gezogen. Das in den 1960er Jahren entwickelte Konzept des Hirntods basiert auf der Annahme, dass ein Mensch ohne Hirnfunktion keinerlei Bewusstsein seiner selbst oder seiner Umwelt hat. Er kann nichts erleben, spüren, denken oder wünschen, er leidet nicht und freut sich über nichts – auch wenn viele andere seiner Organe weiterhin arbeiten. Bei einem hirntoten Menschen dürfen daher (nach einer streng geregelten Diagnostik) alle lebenserhaltenden Maßnahmen beendet werden.

Die Fähigkeit zu leiden

Was macht die Frage, welche Lebewesen Bewusstsein besitzen, so brisant? Die Fähigkeit zu leiden. Wer bewusst erleben kann, kann auch leiden, jedenfalls wenn er zwischen positiven und negativen Reizen unterscheidet (was ja alle Lebewesen tun). Bei einem schädigenden Ereignis fühlen wir Schmerz, eine rein subjektive sensorische und emotionale Erfahrung. Pilzen, Pflanzen und Amöben hätten also höchstwahrscheinlich auch eine Art von Schmerz, wenn sie Bewusstsein besäßen (was eine Gruppe so genannter Pflanzen-Neurobiologen übrigens tatsächlich behauptet). Aber wie unterscheidet sich dann der Schmerz eines Grashalms, der von einer Kuh gefressen wird, vom Schmerz eines verletzten Menschen? Dem Grashalm fehlt ja offensichtlich das zentrale Netzwerk, das bei Menschen und Tieren das komplexe Schmerzerlebnis mit all seinen Sinneseindrücken, Emotionen, Gedanken, motorischen Reaktionen und vegetativen Begleiterscheinungen ermöglicht.

Wir bräuchten dann neue Begriffe für Grasschmerz, um ihn vom Menschen- oder Tierschmerz zu unterscheiden. Man kann natürlich ohne jede Evidenz einfach behaupten, dass der Grashalm seine Verletzung auch ohne das Schmerznetzwerk des Gehirns erlebt und daran leidet. In diesem Fall müssten wir ihn vor seiner Begegnung mit der Kuh anästhesieren … Oder wir lassen diesen Unsinn und beschäftigen uns stattdessen ernsthaft mit den vielen Tieren, die ebenso wie Menschen Schmerzen empfinden können, weil sie die entsprechenden neuronalen Strukturen besitzen.

Sozial | Wo es so etwas wie ein Gehirn gibt, da könnte es auch Bewusstsein geben – also beispielsweise auch bei Schnecken.
Es könnte sich sogar herausstellen, dass ganz elementare Formen von Bewusstsein bei noch einfacheren Tieren vorliegen, zum Beispiel bei Schnecken

Nur ein ausreichend komplexes Gehirn ermöglicht also Bewusstsein. Die Voraussetzungen erfüllen damit sämtliche Wirbeltiere (Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien), aber ebenso die Kopffüßler (Tintenfische) und viele Arthropoden (Insekten, Krebse und Spinnen). Es ist nicht abwegig, von der Psyche eines Tintenfischs, eines Hummers oder einer Biene zu sprechen. Es könnte sich sogar herausstellen, dass ganz elementare Formen von Bewusstsein bei noch einfacheren Tieren vorliegen, zum Beispiel bei Schnecken, Muscheln oder Würmern. All diese Tiere verfügen über ein Schmerzsystem und zeigen entsprechendes Vermeidungsverhalten. Man muss annehmen, dass sie ihr Dasein nicht nur erleben, sondern auch leiden können. Trotzdem gehen wir mit Tieren, die uns wenig ähneln, oft immer noch um, als seien sie empfindungslose Gegenstände. Diesen Missstand illustrierte der Schriftsteller David Foster Wallace 2004 eindrucksvoll »Am Beispiel des Hummers«, indem er beschrieb, wie verzweifelt sich diese Geschöpfe wehren, wenn man sie lebend in kochendes Wasser wirft: »Spätestens bei diesem Anblick lässt sich schwer mehr leugnen, dass hier ein lebendes Wesen vernichtenden Schmerzen ausgesetzt ist.«

Ein Baum fühlt, denkt und erlebt nichts, weil ihm die biologischen Voraussetzungen dafür fehlen

Die Verfechter der Minimal-Kognition weisen oft auf die elektrischen Vorgänge hin, die sich in allen Zellen, also auch bei nichttierischen Lebewesen finden. So erzeugen Pflanzen nach der Verletzung eines Blattes elektrische Potenzialschwankungen, die sich über größere Distanzen ausbreiten können. Daraus entwickeln sich aber keine Aktivitätsmuster, die vom primären Reiz entkoppelt sind und eine innere Repräsentation der Situation bilden könnten. Es handelt sich schlicht um eine Zell- und Gewebsreaktion, die mit Ionenströmen einhergeht und unter anderem dem Schutz vor weiteren Schäden dient. Vergleichbare elektrische Signale gibt es etwa in Blutgefäßen, um den Durchmesser der Arterien zu regulieren und so die Durchblutung einzelner Organe dem aktuellen Bedarf anpassen. Nichts weist aber darauf hin, dass wir mit unseren Blutgefäßen denken oder dass sie unsere Gegenwart erleben.

Pflanzen fehlt eine zentralisierte Struktur, die auch nur annähernd geeignet wäre, innere Repräsentationen einer Situation zu generieren und damit irgendetwas zu empfinden. Daher ist es aus Sicht der Biologie falsch, ihr »Verhalten« mit den Begriffen der Psychologie zu beschreiben. Ein Baum fühlt, denkt und erlebt nichts, weil ihm schlicht die biologischen Voraussetzungen dafür fehlen.

Wie müssen wir die zielgerichteten Leistungen halbierter Würmer, einzelner Zellen, Pilze und Pflanzen dann einordnen? Tatsächlich gibt es in der Biologie bereits einen gut etablierten Begriff für diese hoch differenzierten Vorgänge: Anpassung

Wie müssen wir die scheinbar zielgerichteten Leistungen halbierter Würmer, einzelner Zellen, Pilze und Pflanzen dann einordnen? Tatsächlich gibt es in der Biologie bereits einen gut etablierten Begriff für diese hoch differenzierten Vorgänge: Anpassung (Adaptation). Alle Arten haben sich auf dem langen Weg der Evolution optimal an ihr jeweiliges Umfeld angepasst, und jeder Organismus kann sich auch akut an aktuelle Situationen anpassen. Dazu gehört etwa die Regulation der Energieversorgung und Temperatur ebenso wie die aktive Hinwendung zu förderlichen und die Flucht vor lebensfeindlichen Situationen. Dabei kann es zu anhaltenden Veränderungen kommen, wie wir am Beispiel der Trainingseffekte auf Muskeln und Knochen gesehen haben. Solche Reaktionen auf veränderte Anforderungen mag man bildhaft als »Lernen« bezeichnen, aber sie sind von psychologisch oder pädagogisch beschreibbaren Lernvorgängen meilenweit entfernt.

Die evolutionäre Perspektive

Es ist eine elementare Eigenschaft allen Lebens, sich zur Selbsterhaltung anzupassen. Manchen Organismen hilft dabei ihre Kognition, andere – darunter Pflanzen – erzielen dies ausschließlich durch zelluläre, metabolische oder (epi-)genetische Adaptationsvorgänge an die jeweiligen Umweltbedingungen. Sie können also beruhigt Ihr Basilikum abschneiden und müssen sich keine Sorgen darüber machen, wie es sich für die Pflanze anfühlt. Bei einem lebendig gekochten Hummer oder bei achtlos getöteten Insekten ist das anders, und wir müssen mit dem heutigen Wissen zwischen beiden Situationen strikt unterscheiden.

Leidensfähig | Anders als bei Pflanzen muss man bei einem lebendigen Hummer im Kochtopf oder bei achtlos getöteten Insekten davon ausgehen, dass sie Schmerzen fühlen.
Sie können beruhigt Ihr Basilikum abschneiden und müssen sich keine Sorgen darüber machen, wie es sich für die Pflanze anfühlt. Bei einem lebendig gekochten Hummer ist das anders

Trotz dieser Einwände können wir von den Ergebnissen der »minimal intelligence«-Forschung einiges ableiten – etwa welche beeindruckenden Anpassungsvorgänge auch ganz ohne Kognition gelingen. Faszinierend ist ebenfalls die Selbstorganisation von einzelnen Zellen, die sich zusammenlagern und als Xeno- oder Anthrobots koordinierte Aktivität zeigen. Computerwissenschaften und Robotik können daraus lernen, wie Probleme bereits auf Ebene der Hardware gelöst werden können, ganz ohne die hochkomplexe, zentralisierte Datenverarbeitung eines Computers oder Gehirns.

Können KIs Bewusstsein entwickeln?

Die durch den neuen Forschungstrend angestoßene Diskussion über Intelligenz, Kognition und Bewusstsein bereitet uns auf eine weitere Debatte vor, die längst im Raum steht: Wie verhalten wir uns gegenüber neuartigen biologischen und technischen Artefakten? Es ist bereits jetzt möglich, aus einzelnen menschlichen Zellen neuronale Organoide zu bilden, die viele Eigenschaften von Hirngewebe besitzen. Was tun wir, wenn sie eines Tages Aktivitätsmuster zeigen, die auf Kognition oder gar auf ein elementares Bewusstsein hinweisen?

Wir brauchen dringend Kriterien dafür, ob ein reales oder künstlich geschaffenes Lebewesen empfindungsfähig ist. Ähnliches gilt für die Algorithmen der künstlichen Intelligenz und noch mehr für ihre verkörperte Variante, die Roboter. Können sie wirklich denken und eines Tages sogar ein Bewusstsein entwickeln? Haben sie eigene Interessen? Können sie leiden? Diese Fragen liegen nicht mehr im Bereich der Sciencefiction, sondern müssen jetzt geklärt werden. Die begriffliche Schärfung, die der Forschungstrend zur »basalen Kognition« angestoßen hat, kann unseren Umgang mit der belebten Natur und mit KI verbessern. Pflanzen, Pilze und Einzeller ideologisch zu vermenschlichen, hilft dagegen nicht weiter.

  • Quellen

Robinson, D. G. et al.: Mother trees, altruistic fungi, and the perils of plant personification. Trends in Plant Sciences 29, 2024

Feinberg, T. E., Mallatt, J.: Consciousness Demystified. The MIT Press, 2018

Güntürkün, O. et al.: Why birds are smart. Trends in Cognitive Sciences 28, 2024

Roth, G., Dicke, U.: Origin and evolution of human cognition. Progress in Brain Research 250, 2019

Wallace, D. F.: Consider the lobster. Gourmet, 2004

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