Kindesmissbrauch: Täterprofile im Hirnscan
Nicht jeder, der ein Kind sexuell missbraucht, ist zwangsläufig pädophil. Auch Männer, die an sich erwachsene Sexualpartner bevorzugen, können sich an Kindern vergehen, wenn ihnen altersgemäße Kontakte fehlen – die Betreffenden gelten als so genannte Ersatz- oder Gelegenheitstäter. Kanadische Sexualwissenschaftler berichteten 2001, dass nur etwa die Hälfte derer, die zum ersten Mal wegen Kindesmissbrauchs verurteilt werden, tatsächlich pädophil sind. In Deutschland schätzt der Sexualmediziner Klaus Beier von der Berliner Charité die Zahl Pädophiler auf rund 220 000 – eine Hochrechnung aus Daten, die im Rahmen eines gemeinsamen Therapieprojekts von Charité und Kieler Universitätsklinikum erhoben wurden (das Dunkelfeld-Projekt. Es bietet Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern die Möglichkeit zu einer kostenlosen Therapie: kein-taeter-werden.de).
Ob ein Täter sich zu Kindern sexuell hingezogen fühlt oder nicht, dürfte für die Opfer keinen großen Unterschied machen. Weshalb sollte man also zwischen pädophilen und Ersatztätern unterscheiden? Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens werden die beiden Tätergruppen unterschiedlich therapiert. Bei den Ersatztätern zielt die Behandlung unter anderem darauf, die Kontakte zu erwachsenen Frauen (oder Männern) zu verbessern. Diese Strategie würde bei Pädophilen ins Leere laufen. Mit ihnen erarbeiten Therapeuten stattdessen Verhaltensregeln, die Kontakte zu Kindern vermeiden helfen. Unter Umständen werden auch Medikamente verschrieben, die den Sexualtrieb dämpfen.
Erhöhtes Rückfallrisiko
Zweitens hängt die Häufigkeit erneuter Übergriffe auf Kinder von der sexuellen Ausrichtung ab. Nach einer 1995 veröffentlichten Studie von Klaus Beier wurden im betrachteten Zeitraum von 36 Jahren etwa 50 Prozent der homopädophilen Männer, aber nur etwa 25 Prozent der Pädophilen, die Mädchen bevorzugen, rückfällig. Wie hoch diese Quote unter den Ersatztätern ist, wissen wir nicht genau, aber Schätzungen zufolge liegt sie weit unter 25 Prozent. In Sachen Rückfallrisiko macht es also durchaus einen großen Unterschied, ob sich ein Täter sexuell zu Jungen, Mädchen oder Erwachsenen hingezogen fühlt.
Die Unterscheidung ist allerdings schwierig. Selbst erfahrene Therapeuten verkennen bei Ersttätern häufig die sexuelle Ausrichtung, da viele von ihnen ihre wahren Vorlieben glaubhaft leugnen. Ein psychologischer Fragebogen hilft hier nicht weiter, denn die Absichten hinter einem solchen Test wären allzu leicht zu durchschauen.
Ein unverfälschtes Ergebnis kann nur ein Verfahren bringen, das die sexuelle Orientierung objektiv misst. Zu diesem Zweck entwickelten Forscher drei Verfahren. Sie basieren alle auf dem gleichen Prinzip: Wissenschaftler präsentieren den Probanden Bilder von Kindern und Erwachsenen und erfassen verschiedene Arten von Reaktionen. Vor Gericht sind diese Methoden noch nicht zugelassen, ein Einsatz in Therapie oder Forschung setzt stets die Zustimmung der Untersuchten voraus.
Der erste und denkbar naheliegende Ansatz geht auf den Sexualforscher Kurt Freund von der Karls-Universität in Prag zurück. Bereits in den 1950er Jahren entwickelte er die so genannte Phallometrie. Diese misst Veränderungen in Umfang oder Größe des Penis, während der Proband Bilder von nackten Kindern oder Erwachsenen sieht. Auch subtile Reaktionen des Geschlechtsorgans lassen sich auf diese Art erfassen. Auf Grund der hohen Messgenauigkeit, von der einige Wissenschaftler berichten, verwenden angelsächsische Therapeuten das Verfahren häufig, um bei Sexualstraftätern Art und Ausmaß pädophiler Tendenzen zu bestimmen.
Auf Grundlage dieser Informationen entsteht dann ein Behandlungskonzept. Kritiker wenden allerdings ein, die Phallometrie verletze die Intimsphäre der Probanden und sei anfällig für Manipulationen. In Deutschland erforscht nur unsere Gruppe von der Kieler Sektion für Sexualmedizin die Methode.
Das zweite Verfahren, ein Reaktionstest, nutzt die begrenzte Verarbeitungskapazität des Gehirns und unsere Ablenkbarkeit durch sexuelle Reize. Der Proband hat die Aufgabe, einen roten Punkt auf einem Nacktbild so schnell wie möglich zu lokalisieren. In aller Regel brauchen Teilnehmer für diese Aufgabe einige Millisekunden länger, wenn auf dem Bild eine Person abgebildet ist, die sie sexuell attraktiv finden.
Laut Forschern um den Regensburger Sexualwissenschaftler Andreas Mokros lassen sich auf diese Weise Männer, die des Kindesmissbrauchs überführt wurden, sehr gut von anderen Straftätern unterscheiden. Erste Tests zeigen, dass Probanden die Testergebnisse auch nicht unbemerkt verfälschen können: Manipulationsversuche fallen durch besonders lange Reaktionszeiten auf.
Einsatz von Magnetresonanztomografie
Die Entwicklung der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) erlaubt es heutzutage, sexuelle Präferenzen genau dort zu messen, wo sie entstehen – im Gehirn. Die Methode macht die Aktivität im menschlichen Denkorgan in Form von dreidimensionalen Bildern sichtbar. In einer ersten Studie von 2006 hatten meine Kollegen und ich Männer und Frauen sowohl homo- als auch heterosexueller Orientierung untersucht. Eine kurze Darbietung von Nacktbildern löste bei ihnen immer dann eine Aktivität im Belohnungssystem und in Teilen der motorischen Hirnrinde aus, wenn die abgebildeten Genitalien der sexuellen Orientierung der Probanden entsprachen.
Ein Team um Boris Schiffer von der Universitätsklinik Essen konnte 2008 in zwei Studien zeigen, dass auch bei Pädophilen Teile des Belohnungssystems durch Nacktbilder von Kindern stärker aktiviert werden als durch Bilder von Erwachsenen. Insbesondere im Nucleus caudatus und in der Substantia nigra zeigten sich sowohl bei homosexuell als auch heterosexuell veranlagten Pädophilen Aktivierungsunterschiede.
Warum gibt es Pädophilie?
Schon der Psychiater Richard von Krafft-Ebing, der 1886 den Begriff der Pädophilie prägte, vermutete eine biologische Ursache hinter der Störung. Allerdings erlaubten zahlreiche Hormonuntersuchungen bei pädophilen Männern keine eindeutigen Schlüsse. Zwillings- oder molekulargenetische Studien, welche die Frage der Vererbung klären könnten, gibt es bislang nicht. Immerhin hat man eine Reihe von Merkmalen nachgewiesen, die bei Pädophilen gehäuft auftreten: Unter anderem haben die Betroffenen im Vergleich zu gesunden Männern in ihrer Kindheit doppelt so oft Kopfverletzungen erlitten. Sie sind dreimal häufiger linkshändig, ihr IQ ist im Schnitt leicht vermindert, sie sind sowohl impulsiver als auch weniger empathisch und wurden in ihrer Kindheit häufiger sexuell missbraucht. Inwieweit diese Faktoren zur Entstehung von Pädophilie beitragen, ist noch unklar. Beispielsweise können alle gemeinsam auch bei Frauen vorliegen – doch bei ihnen ist Pädophilie äußerst selten.
Weiteren fMRT-Studien zufolge kommt es auch auf andere Hirnbereiche an; dennoch lassen sich die meisten Untersuchungen recht gut auf einen Nenner bringen: Entspricht ein Bild der sexuellen Präferenz des Betrachters, feuern vermehrt Neurone im Belohnungssystem – ganz gleich ob der Untersuchte heterosexuell, homosexuell oder pädophil ist.
Jenseits der Frage nach der genauen Lokalisierung lässt sich die Hirnaktivität aber auch als Ganzes untersuchen. Ist es denkbar, Pädophile von Gesunden anhand der Aktivität des gesamten Gehirns zuverlässig zu unterscheiden? Ebendies gelang uns Anfang 2012 mit erstaunlicher Genauigkeit.
Hirnscans lassen sexuelle Präferenzen erkennen
Bei der Studie im fMRT-Labor täuschten wir uns nur bei drei der 24 untersuchten Pädophilen und hielten sie fälschlicherweise für nicht pädophil. An sämtlichen Gehirnen der 35 gesunden Kontrollprobanden erkannten wir richtigerweise, dass diese sexuell nicht an Kindern interessiert waren.
Die Ergebnisse sollten nicht vorschnell verallgemeinert werden, denn die pädophilen Teilnehmer gaben ihre Vorlieben unumwunden zu, wollten ihr Resultat also nicht manipulieren. Ein Folgeprojekt untersucht bereits, ob es den Untersuchten gelingen kann, die fMRT-Messung willentlich zu verfälschen. Allerdings erscheint das unwahrscheinlich, da das Gehirn auf sexuelle Reize teilweise schon vor der bewussten Wahrnehmung reagiert.
Für die praktische Anwendung stellt sich aber noch eine andere Frage, die alle drei Verfahren zur objektiven Messung sexueller Präferenzen gleichermaßen betrifft: Dürfen Wissenschaftler Neigungen von Menschen ausspähen, ohne dass die Betreffenden darüber die Kontrolle haben? Es kommt ganz darauf an, lautet meine persönliche Antwort.
So wären theoretisch unterschiedliche Anwendungen vorstellbar, von der Unterstützung bei der Therapieplanung bis hin zu Schreckensszenarien wie flächendeckenden Pädophilie-Screenings (siehe Kasten am Ende des Textes). Die bloße Feststellung einer sexuellen Präferenz (Szenario 1) sollte keine Konsequenzen für den Betreffenden haben, denn unser Rechtssystem sieht Strafen für Handlungen vor, nicht für Neigungen. Zum einen ist niemand für seine sexuellen Präferenzen verantwortlich, denn nach allem, was wir wissen, sind diese durch neurobiologische Faktoren bestimmt. Zum anderen vergreifen sich nicht alle pädophilen Männer an Kindern. Vielen gelingt es, ihre sexuelle Präferenz ein Leben lang zu kontrollieren.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist, ob der Betreffende freiwillig an der Untersuchung teilnimmt. Eine solche Messung mit dem Ziel einer optimalen Therapieplanung oder Prognosebeurteilung (Szenario 2 und 3) – in der Regel bei einem des Kindesmissbrauchs überführten Täter – ist meiner Ansicht nach ethisch durchaus gerechtfertigt.
Wenn weitere Forschungen die Verlässlichkeit objektiver Messungen bestätigen, ist es letztlich eine Aufgabe für Juristen, über den Einsatz der Verfahren vor Gericht zu entscheiden. Viele technische und biomedizinische Erfindungen können gleichermaßen zum Wohl wie auch zum Schaden des Menschen eingesetzt werden. In diesen Fällen ist es besser, auf eine sinnvolle Anwendung der Methode zu achten, als sie vorschnell zu verwerfen.
Ethische Probleme der bildgebenden Diagnostik von Pädophilie
Was geschieht, wenn sich die wissenschaftliche Evidenz für die Messung von Pädophilie im Magnetresonanztomografen weiter erhärtet? Wie sähe der Einsatz in der Praxis aus? Drei imaginäre Szenarien verdeutlichen, dass sowohl sinnvolle als auch abschreckende Anwendungen möglich wären:
Szenario 1: Stigmatisierung
Zum Schutz potenzieller Opfer erlässt die Bundesregierung ein Gesetz, das die flächendeckende Untersuchung aller Männer mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) anordnet. Dies soll Kindesmissbrauch von vornherein unterbinden. Diejenigen, deren Gehirn auf Nacktbilder von Kindern anspricht, haben die Wahl zwischen elektronischer Fußfessel oder einer Therapie.
Szenario 2: Grundlage für therapeutisches Vorgehen
Ein Mann wird wegen sexuellen Missbrauchs an seiner Stieftochter zu einer Haftstrafe verurteilt. Er beteuert, in keiner Weise sexuell an Kindern interessiert zu sein. Nur weil die Beziehung zu seiner Frau zerrüttet gewesen sei, habe er sich "an die Tochter gewandt". Der fMRT-Scan spricht allerdings mit großer Sicherheit für eine sexuelle Neigung zu vorpubertären Mädchen. Der behandelnde Gefängnistherapeut strebt deshalb bei seinem Patienten keine Verbesserung der Kommunikation mit erwachsenen Frauen an, sondern versucht dessen Fähigkeiten zur Selbstkontrolle zu stärken.
Szenario 3: Grundlage für Rückfallprognose
Ein Sexualstraftäter steht zum zweiten Mal wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht. Er hatte 15 Jahre zuvor schon eine mehrjährige Strafe abgesessen. Vor einem halben Jahr vergriff er sich erneut an einer Achtjährigen. Der Angeklagte beteuert, nicht pädophil zu sein – das Risiko für einen erneuten Rückfall wäre in diesem Fall erheblich geringer. Der Richter steht nun vor der schwierigen Aufgabe, ein angemessenes Strafmaß zu finden. Dabei muss er neben der Bestrafung für die begangene Tat auch Überlegungen zum Schutz potenzieller künftiger Opfer miteinbeziehen. Bei seiner Entscheidung berücksichtigt er das Ergebnis einer fMRT-Untersuchung, die Aufschluss über die tatsächliche sexuelle Orientierung des Täters gibt.
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