Meeresbiologie: Tentakel im Fadenkreuz
Vor der japanischen Küste spielen sich manchmal Szenen ab, die aus einem Horrorfilm stammen könnten. Da schweben gewaltige Glibberberge mit fünf Meter langen Tentakeln durchs Wasser, Tausende von durchscheinenden Körpern mit bis zu zwei Metern Durchmesser und 200 Kilogramm Gewicht scheinen das Meer in Gelee zu verwandeln. In der Hauptrolle: die Nomura-Qualle Nemopilema nomurai, die sicher zu den eindrucksvollsten Vertretern ihrer Verwandtschaft gehört. Und sie neigt zu Massenversammlungen. Für Fischer kann so eine Armada von Ozeanriesen zu einem echten Albtraum werden. Denn die Quallen füllen die Netze, zerquetschen den Rest des Fangs oder überziehen ihn mit ungenießbarem Schleim. Wenn es schlecht läuft, droht nicht nur ein wirtschaftlicher Verlust: Mit ihrem gewaltigen Gewicht haben gefangene Nomura-Quallen sogar schon Fischerboote zum Kentern gebracht.
Dabei sind die Riesenquallen vor Japan nicht der einzige schwimmende Albtraum. Rund um die Welt haben Quallenplagen in den letzten Jahren immer wieder Schlagzeilen gemacht. Werden solche Ereignisse also häufiger? Gibt es einen globalen Quallenboom? Und was könnte den ausgelöst haben?
Lange hatten Wissenschaftler einfach nicht genug Daten, um solche Fragen wirklich seriös beantworten zu können. Nun aber soll eine neue Datenbank der weltweiten Quallenbeobachtungen mehr Licht ins Dunkel bringen. Die umfassende Kollektion mit dem Namen JeDI ("Jellyfish Database Initiative") soll helfen, die Entwicklung der Glibbertierbestände in den Weltmeeren besser einzuschätzen [1].
Teuer und giftig
Solche Daten sind keineswegs nur für die Fischerei interessant. Auch andere Wirtschaftszweige haben mitunter durchaus unter massiven Quallenvorkommen zu leiden. Es kommt zum Beispiel immer wieder vor, dass die Tiere die Kühlwasserzuleitungen von Kraftwerken blockieren, so dass die Anlagen zeitweise abgeschaltet werden müssen. Und auch für den Tourismus sind Glibberteppiche vor dem Badestrand keine gute Nachricht.
Ohnehin gehören Quallen nicht unbedingt zu den Sympathieträgern der Tierwelt – mögen sie noch so elegant durchs Wasser schweben, ihren Körper mit schillernden Farben schmücken oder sogar mit selbst produziertem Licht das Meer zum Leuchten bringen. Am Strand angeschwemmte Exemplare bieten dagegen unästhetische Anblicke; und das Schwimmen zwischen den gelatineartigen Körpern ist auch kein Vergnügen: vor allem weil manche Arten mit äußerst wirkungsvollen Giften ausgerüstet sind, die für Menschen durchaus gefährlich werden können.
Diese chemischen Waffen sind eigentlich zum Fangen von kleinen Tieren oder zur Verteidigung gedacht. Das Gift steckt in so genannten Nesselzellen an den langen Tentakeln der Quallen. Berührt ein anderes Lebewesen eine Ausstülpung dieser Zellen, explodiert im Inneren eine giftgefüllte Kapsel. Unter Druck schießt dann ein Faden heraus, der das Gift blitzschnell in das überraschte Opfer injiziert. Wegen dieser Waffen haben Biologen den gesamten Tierstamm, zu dem die Quallen gehören, auf den Namen "Nesseltiere" getauft.
Wer im Pazifik oder vor den Kanarischen Inseln zum Beispiel mit der Portugiesischen Galeere Physalia physalis in Kontakt kommt, muss mit sehr schmerzhaften Quaddeln auf der Haut rechnen. Noch gefürchteter sind Begegnungen mit der Seewespe Chironex fleckeri, die vor Australien und in Teilen Südostasiens lebt. Diese etwa fußballgroße Würfelqualle gehört zu den giftigsten Lebewesen der Welt. Ihre chemischen Waffen lösen nicht nur extrem schmerzhafte Hautverätzungen aus, sie wirken auch auf Nerven und Muskulatur, auf das Herz-Kreislauf-System und die Atmung. In schweren Fällen kann das Gift innerhalb von Minuten zum Tod durch Atemstillstand oder Herzversagen führen. Die Symptome vieler anderer Nesselgifte sind zwar deutlich weniger spektakulär. Doch auch ein unangenehmes Brennen auf der Haut kann den Urlaubsspaß schon kräftig trüben.
Ökologische Strippenzieher
Ein möglicher Vormarsch der Quallen kann allerdings nicht nur für Menschen unangenehme Folgen haben. Wenn diese gefräßigen Räuber massenhaft im Meer treiben, verschlingen sie nämlich Unmengen von im Wasser treibenden Kleintieren. Das kann so weit gehen, dass sich die Lebensgemeinschaft dieses so genannten Zooplanktons komplett verändert.
Im Marmarameer, das die Ägäis mit dem Schwarzen Meer verbindet, ist zum Beispiel im Jahr 2005 ein transparentes Nesseltier namens Liriope tetraphylla aufgetaucht. Mit einer besonders eindrucksvollen Größe kann es nicht aufwarten, sein Schirm erreicht gerade einmal Durchmesser zwischen einem und drei Zentimetern. Trotzdem hat Izzet Noyan Yilmaz von der Universität Istanbul diese Tiere als einflussreiche ökologische Strippenzieher enttarnt [2].
Bei Massenvermehrungen in den Jahren 2006 und 2007 trieben im Marmarameer zeitweise an die 3000 Exemplare von Liriope tetraphylla in einem Liter Wasser. Die aber dezimierten in kürzester Zeit die Bestände der wichtigsten Zooplanktonarten. Der kleine Krebs Penilia avirostris, der normalerweise im Sommer und Herbst die Lebensgemeinschaft dominiert, verschwand 2006 komplett. Und auch 2007 blieben seine Bestände um das 30-Fache kleiner als in Jahren ohne Nesseltierboom. Statt der Krebstiere hatten die Quallen die führende Rolle in der Lebensgemeinschaft übernommen.
Solche Verschiebungen aber können weit reichende Folgen haben. So haben Robert Condon von der University of North Carolina in Wilmington und seine Kollegen in einer Reihe von Experimenten festgestellt, dass Quallen ganze Nährstoffkreisläufe und Nahrungsketten verändern können [3]. Schließlich wäre das massiv dezimierte Plankton normalerweise im Magen von Fischen und anderen Meeresbewohnern gelandet. Die Quallen selbst sind dagegen nur für wenige andere Tiere genießbar. Die Energie, die sie mit der Nahrung aufnehmen, wird also nicht an die höheren Stufen der Nahrungskette weitergegeben, sondern landet in einer glibberigen Sackgasse. Das Nachsehen haben zum Beispiel die Fische.
Ein Paradies für Quallen
Sollten eines Tages die Quallen das Ruder in den Ozeanen übernehmen, könnten sich diese Ökosysteme also deutlich verändern. Doch wie realistisch sind solche Szenarien überhaupt? Viele Ökologen halten es durchaus für möglich, dass die Menschheit unabsichtlich ein großes Quallenförderprogramm in die Wege geleitet hat. Vielerorts hat etwa eine zu intensive Fischerei nicht nur die Konkurrenten, sondern auch die wenigen natürlichen Feinde der Quallen dezimiert. Mondfische, Tunfische oder Meeresschildkröten sind einfach zu selten geworden, um die Glibbertiere in Schach zu halten. Seit immer mehr Nährstoffe aus Landwirtschaftsdünger und Abwasser ins Meer geschwemmt werden, gedeihen zudem die Algen und Kleintiere besonders gut – den Quallen winkt also ein reich gedeckter Tisch. Zumal sie mit den Schattenseiten der überdüngten Gewässer kaum Probleme haben: Den dort häufig auftretenden Sauerstoffmangel vertragen sie oft deutlich besser als Fische.
Auch von den steigenden Temperaturen durch den Klimawandel könnten viele Quallen profitieren. Schließlich beschert die Wärme nicht nur ihnen selbst, sondern auch ihrer Nahrung raschere Wachstumsraten. Und so manche tropische Art ist offenbar schon auf dem Vormarsch in Regionen, in denen es ihr früher zu kühl war [4]. Allerdings führt der höhere Kohlendioxidgehalt in der Luft auch zu saurerem Wasser im Meer. Und das scheinen etliche Quallen nicht gut zu vertragen.
Eine echte Bereicherung für viele Glibbertiere sind dagegen die Steine und Betonstrukturen, mit denen Menschen weltweit ihre Küsten und Häfen befestigt haben. Schließlich treiben zahlreiche Arten nicht ihr Leben lang frei im Wasser, sondern machen auch ein sesshaftes Entwicklungsstadium durch. Und für diese so genannten Polypen ist der feste Untergrund solcher Anlagen der perfekte Lebensraum. Sogar der Ausbau der Windenergie scheint ihnen mancherorts in die Tentakel zu spielen. In einem zweijährigen Experiment haben Holger Janßen vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde und seine Kollegen getestet, wie sich das zusätzliche Hartsubstrat etwa von Windradpfeilern auf die Bestände der Ohrenqualle Aurelia aurita in der südwestlichen Ostsee auswirkt. Ihre Beobachtungen und Modellrechnungen zeigen, dass diese Quallen offenbar tatsächlich von den menschengemachten Polypensitzen profitieren [5].
Natürliche Schwankungen
Sind die Meere also schon dabei, sich zu einem Reich der Quallen zu entwickeln? Eine 2013 veröffentlichte Studie zeichnet dazu ein differenziertes Bild [6]. Bereits damals hatte ein internationales Team um Robert Condon zahlreiche Informationen über Quallenbestände rund um die Welt zusammengetragen und mit verschiedenen statistischen Methoden analysiert.
Demnach gibt es durchaus Regionen, in denen Massenentwicklungen im Lauf der Jahrzehnte häufiger geworden sind. Dazu gehören Teile des Mittelmeers und des Nordatlantiks, die Barentssee im hohen Norden und der Limfjord in Dänemark. Und nicht zuletzt das Japanische Meer mit seinen gewaltigen Nomura-Quallen. In diesen Boomregionen scheinen sich menschliche Einflüsse und natürliche Bestandsschwankungen so zu überlagern, dass die Tiere immer wieder besonders günstige Bedingungen vorfinden. Entsprechend rasant vermehren sie sich dann.
"Wir müssen die Mechanismen hinter den Quallenzyklen besser verstehen"
Dieser Trend hat aber keineswegs alle Meeresgebiete erfasst. Mancherorts gehen die Bestandszahlen auch zurück oder zeigen ein ständiges Auf und Ab. Gerade bei diesen Schwankungen sind die Forscher auf ein interessantes Muster gestoßen. So scheint die Zahl der Glibbertiere in den Weltmeeren ungefähr alle 20 Jahre zu- und wieder abzunehmen. Die auffällige Häufung von Quallenplagen in den 1990er Jahren könnte nach Ansicht des Teams durchaus Teil dieser natürlichen Zyklen sein. Über die ganze untersuchte Zeitspanne von 1874 bis 2011 habe es jedenfalls keine weltweite Zunahme der Quallenbestände gegeben. Allerdings scheinen die Daten auf einen leichten Anstieg seit 1970 hinzuweisen. "Um zu sehen, ob sich da wirklich etwas verschiebt, müssen wir die Vorkommen in den nächsten zehn Jahren sorgfältig beobachten", betont Robert Condon.
Trendforschung
Die neue JeDI-Datenbank soll dabei eine wertvolle Hilfe sein. In dieser eindrucksvollen Sammlung haben die Forscher bereits mehr als 476 000 Datensätze über die Vorkommen von Meeresbewohnern mit gelatineartigem Körper zusammengetragen. Neben den bekannten Nesseltieren sind darin auch die Rippenquallen erfasst, die wegen fehlender Nesselzellen zu einem anderen Tierstamm gerechnet werden. Die dritte Gruppe in der Sammlung stellen die fassförmigen Salpen, die zu den Manteltieren gehören.
Die Daten zeigen, dass diese Tiergruppen in allen Weltmeeren vorkommen. Quallen und Co verfügen also über sehr erfolgreiche Überlebensstrategien für die unterschiedlichsten Lebensräume und Klimazonen. Die größte Biomasse entwickeln sie allerdings in den subtropischen und borealen Regionen der Nordhalbkugel. Was aber bestimmt ihr Auftreten? Auch zu dieser Frage haben die Forscher bereits eine Antwort aus der Datensammlung herausdestilliert. Im Nordatlantik entscheiden demnach vor allem zwei Faktoren über die Biomasse der gelatinösen Meeresbewohner: die Oberflächentemperatur und die Menge an gelöstem Sauerstoff.
Über solche Zusammenhänge wollen die Forscher künftig noch mehr herausfinden. "Das ist der nächste wissenschaftliche Schritt", erklärt Robert Condon. "Wir müssen die Mechanismen hinter den Quallenzyklen besser verstehen." Die JeDI-Datenbank biete zudem die Möglichkeit, künftige Vorkommen mit der heutigen Situation zu vergleichen. Nur so lässt sich herausfinden, ob und warum die Quallen tatsächlich auf dem Vormarsch sind. Und zwar, bevor sie eines Tages vielleicht wirklich die Herrschaft über die Ozeane übernehmen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben