Verhaltensforschung: Trügerischer Fleck
Hat er geschummelt oder hat er nicht? Eines der berühmtesten Ergebnisse der Verhaltensforschung steht in der Diskussion. Dabei regt Nikolaas Tinbergens Verhaltensforschung mit Möwenküken, die gegen rote Schnabelflecken picken, um Nahrung zu bekommen, noch heute Forscher zur Nachahmung an.
Ein flauschiges Küken pickt gegen den Schnabel seiner Mutter oder seines Vaters, worauf das jeweilige Elternteil Futter aus seinem Magen hervorwürgt und sein Kleines füttert: Fast jedes Schulkind, das während seiner Bildungslaufbahn einmal mit Biologieunterricht in Kontakt kam, kennt dieses Musterbeispiel der Verhaltensforschung. Instinktiv steuert der winzige Möwenfederball bereits kurz nach dem Schlüpfen das entscheidende Signal am Mundwerkzeug an – den roten Fleck, den Silber- und verwandte Großmöwen am Schnabel präsentieren. Dieses Kennzeichen lässt die Küken offensichtlich reflexartig um Nahrung betteln; selbst ein entsprechender Farbtupfer auf einem Stock löst die gleiche Reaktion aus.
Im Lauf der Jahre kamen allerdings zunehmend Zweifel an dieser einst bahnbrechenden Arbeit auf, wie Carel ten Cate von der Universität Leiden schreibt [1]. Zusammen mit Kollegen hat er die früheren Versuche ihres niederländischen Kollegen nochmals unter die Lupe genommen – und dabei einige Widersprüche und Ungenauigkeiten entdeckt: In der ersten Arbeit von 1947 beispielsweise schreibt Tinbergen noch, dass die Küken häufiger gegen einen schwarzen Fleck als gegen einen roten pickten, wenn ihnen verschiedene Möglichkeiten geboten wurden. Ein paradoxes Ergebnis, da die Schnäbel der Elterntiere stets gelb und rot sind. Spielte die Farbe also doch keine Rolle, wie nun fälschlich in den Biologiebüchern behauptet wird?
Zwei Jahre später begründete der Wissenschaftler dieses scheinbar widersprüchliche Ergebnis: Er hatte den kleinen Silbermöwen (Larus argentatus) den natürlichen roten Fleck häufiger präsentiert als die alternativen gelben, blauen, grünen, weißen und schwarzen. Die Nestlinge hätten sich schlicht an das ursprüngliche Signal gewöhnt gehabt und sich stattdessen für das "aufregendere" schwarze entschieden: der Reiz des Neuen eben. Doch diese "Fehlprägung" untersuchte Tinbergen nie (zumindest publizierte er nicht darüber) und führte den Versuch nicht nochmals ohne ungleich gewichtete Farbvorgaben aus.
Die Wiederholung des ersten Versuchs durch ten Cates Team scheint dies nahezulegen [2], denn wie im ursprünglichen Experiment bevorzugten die Möwenküken schwarze gegenüber roten Flecken. Doch die Forscher führten auch jenen Test durch, den Tinbergen damals als unnötig erachtete, und präsentierten den frisch geschlüpften Tieren jede Farbe gleich oft. Und siehe da: Das Bettelpicken zielte tatsächlich auf das von den Eltern vorgetragene Rot. Alles gut also? Ten Cate bricht denn auch eine Lanze für seinen Vorgänger: "Mit heutigen Augen sieht die Arbeit recht schlampig aus. Doch diese Nachbetrachtung ist unzulässig. Zur damaligen Zeit war Tinbergens Vorgehen wirklich fortschrittlich."
Der 1988 verstorbene Tinbergen müsste sich wohl ohnehin nicht um seinen Ruhm sorgen, hat seine Forschung doch viele Nachahmer gefunden – Judith Morales von der Universidade de Vigo und ihre Kollegen beispielsweise [3]. Sie wollten wissen, ob der rote Schnabelfleck nicht nur ein Signal für die Küken, sondern ebenso für die Eltern ist – etwa als Paarungsanreiz oder Qualitätsmerkmal. Schließlich sorgen Karotinoide für die Farben, und je intensiver diese strahlen oder je mehr Fläche sie einnehmen, desto bessere Gene verspricht ihr Träger: Nur kräftige und gesunde Tiere können es sich leisten, besonders viel des Farbstoffs anderweitig zu intensivieren, denn Karotinoide spielen auch im Immunsystem eine wichtige Rolle als Antioxidationsmittel.
Den Nachwuchs juckte die Täuschung hingegen nicht, denn er reagierte völlig gleichgültig und pickte gleichermaßen häufig gegen jeden der ihm entgegengestreckten Schnäbel – Hauptsache sie lieferten Fisch oder Meeresfrüchte. Ein Ergebnis, das wiederum in Kontrast zu jenem von Tinbergen steht: In seinen Experimenten rief ein größerer roter Fleck ebenso eine stärkere Reaktion der Nachwuchsmöwen hervor. Zumindest in den Details dürfte es also auch zukünftig noch regen Diskussionsbedarf geben.
Mit diesem Versuch belegte der niederländische Forscher Nikolaas Tinbergen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dass Tiere viele Verhaltensweisen nicht nur erlernen – wie es damals gängige Lehrmeinung war –, sondern tatsächlich bereits einiges als Instinkt mit auf die Welt kommt. Unter anderem für diese Entdeckung "zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltensmustern" erhielt er 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zusammen mit Konrad Lorenz und Max von Frisch.
Im Lauf der Jahre kamen allerdings zunehmend Zweifel an dieser einst bahnbrechenden Arbeit auf, wie Carel ten Cate von der Universität Leiden schreibt [1]. Zusammen mit Kollegen hat er die früheren Versuche ihres niederländischen Kollegen nochmals unter die Lupe genommen – und dabei einige Widersprüche und Ungenauigkeiten entdeckt: In der ersten Arbeit von 1947 beispielsweise schreibt Tinbergen noch, dass die Küken häufiger gegen einen schwarzen Fleck als gegen einen roten pickten, wenn ihnen verschiedene Möglichkeiten geboten wurden. Ein paradoxes Ergebnis, da die Schnäbel der Elterntiere stets gelb und rot sind. Spielte die Farbe also doch keine Rolle, wie nun fälschlich in den Biologiebüchern behauptet wird?
Zwei Jahre später begründete der Wissenschaftler dieses scheinbar widersprüchliche Ergebnis: Er hatte den kleinen Silbermöwen (Larus argentatus) den natürlichen roten Fleck häufiger präsentiert als die alternativen gelben, blauen, grünen, weißen und schwarzen. Die Nestlinge hätten sich schlicht an das ursprüngliche Signal gewöhnt gehabt und sich stattdessen für das "aufregendere" schwarze entschieden: der Reiz des Neuen eben. Doch diese "Fehlprägung" untersuchte Tinbergen nie (zumindest publizierte er nicht darüber) und führte den Versuch nicht nochmals ohne ungleich gewichtete Farbvorgaben aus.
Stattdessen präsentierte er den nächsten Möwenprobanden jeweils die gleiche Anzahl an roten und schwarzen Punkten, von denen nun wiederum die elterliche Originalvariante bevorzugt wurde. Und mit diesem Ergebnis "frisierte" er dann die Ergebnisse des ursprünglichen Tests, der es schließlich in die Textbücher schaffte, ohne dass der Autor auf die Datenbereinigung hinwies. Bekam Tinbergen also die höchste Auszeichnung, welche die Wissenschaft zu vergeben hat, für eine mit Makeln behaftete Arbeit?
Die Wiederholung des ersten Versuchs durch ten Cates Team scheint dies nahezulegen [2], denn wie im ursprünglichen Experiment bevorzugten die Möwenküken schwarze gegenüber roten Flecken. Doch die Forscher führten auch jenen Test durch, den Tinbergen damals als unnötig erachtete, und präsentierten den frisch geschlüpften Tieren jede Farbe gleich oft. Und siehe da: Das Bettelpicken zielte tatsächlich auf das von den Eltern vorgetragene Rot. Alles gut also? Ten Cate bricht denn auch eine Lanze für seinen Vorgänger: "Mit heutigen Augen sieht die Arbeit recht schlampig aus. Doch diese Nachbetrachtung ist unzulässig. Zur damaligen Zeit war Tinbergens Vorgehen wirklich fortschrittlich."
Der 1988 verstorbene Tinbergen müsste sich wohl ohnehin nicht um seinen Ruhm sorgen, hat seine Forschung doch viele Nachahmer gefunden – Judith Morales von der Universidade de Vigo und ihre Kollegen beispielsweise [3]. Sie wollten wissen, ob der rote Schnabelfleck nicht nur ein Signal für die Küken, sondern ebenso für die Eltern ist – etwa als Paarungsanreiz oder Qualitätsmerkmal. Schließlich sorgen Karotinoide für die Farben, und je intensiver diese strahlen oder je mehr Fläche sie einnehmen, desto bessere Gene verspricht ihr Träger: Nur kräftige und gesunde Tiere können es sich leisten, besonders viel des Farbstoffs anderweitig zu intensivieren, denn Karotinoide spielen auch im Immunsystem eine wichtige Rolle als Antioxidationsmittel.
Morales' Team manipulierte deshalb bei einigen Mittelmeermöwen (Larus michahellis) in einer Brutkolonie vor der galizischen Küste den Schnabel: Pro Paar erhielt einer der Partner entweder einen kleineren oder einen größeren roten Punkt, um zu testen, ob die Dimensionen überhaupt etwas bedeuten. Bei den Eltern jedenfalls schon: Sie ließen sich von der Fleckgröße deutlich beeinflussen und verdoppelten ihre Fütterungsanstrengungen, wenn der Partner einen größeren roten Punkt zur Schau trug – obwohl er nicht weniger fütterte als Tiere aus den Vergleichsgruppen. Sie investierten also mehr in ihren Nachwuchs. Dieses Verhalten zeigen Tiere häufig, wenn sie sich mit einem augenscheinlich qualitativ hochwertigen Partner eingelassen haben, dessen Gene langzeitigen Erfolg für die eigenen Kinder versprechen. In den beiden anderen Gruppen verstärkte sich der Versorgungstrieb dagegen nur dann, wenn sich einer der beiden Erwachsenen gehen ließ und zu wenig Nahrung heranschaffte: Gehandelt wurde also nur, wenn es sein musste.
Den Nachwuchs juckte die Täuschung hingegen nicht, denn er reagierte völlig gleichgültig und pickte gleichermaßen häufig gegen jeden der ihm entgegengestreckten Schnäbel – Hauptsache sie lieferten Fisch oder Meeresfrüchte. Ein Ergebnis, das wiederum in Kontrast zu jenem von Tinbergen steht: In seinen Experimenten rief ein größerer roter Fleck ebenso eine stärkere Reaktion der Nachwuchsmöwen hervor. Zumindest in den Details dürfte es also auch zukünftig noch regen Diskussionsbedarf geben.
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