Extreme Unwetter: Hagel, größer als ein Handball
Unglaubliche 16 Zentimeter Durchmesser hatte ein Eisbrocken, den die Menschen in dem beschaulichen Örtchen Carmignano di Brenta vor anderthalb Wochen nach einem schweren Gewitter fanden: das größte Hagelkorn Europas. Doch der Rekord währte nicht lange – nach einem weiteren Unwetter am vergangenen Montagabend, eine Stunde vor Mitternacht, entdeckten Einwohner der Gemeinde Azzano Decimo ein Hagelkorn, größer als ein Handball. Mit einem Durchmesser von sagenhaften 19 Zentimetern war das Geschoss nur wenig kleiner als der 20,3 Zentimeter messende Hagelkorn-Weltrekordhalter aus Vivian, South Dakota.
Seit mehr als zwei Wochen zeigt Europas Sommer seine extreme Kehrseite. In einem breiten Streifen von Südostfrankreich über Norditalien bis zum Balkan wüteten heftige Unwetter. Einige Schwergewitter zogen auch über Deutschland – vergleichsweise harmlos, wie der Vergleich mit den italienischen Eisbrocken zeigt.
Dort bestand an vielen betroffenen Regionen Gefahr für Leib und Leben. Zwei Menschen starben in Italien, mehrere wurden Menschen verletzt. Sturm und Hagel haben zudem große Schäden verursacht. Unzählige Bäume wurden entwurzelt, Autos demoliert sowie Dächer und Fassaden von Häusern vom Hagel zerschossen. Schon bei tennisballgroßen Hagelkörnern wird der Aufenthalt im Freien gefährlich. Ein zweijähriges Mädchen wurde vergangenen Sommer von einem gewaltigen Hagelgeschoss in Katalonien erschlagen. Nicht zufällig listet die Bibel den Hagel als eine der zehn Plagen auf: Schwere Geschosse erschlugen in ganz Ägyptenland Mensch und Vieh, berichtet das Zweite Buch Mose. Große Hagelkörner entwickeln mit Sturzgeschwindigkeiten von weit über 120 Kilometern pro Stunde ein extremes Schadenspotenzial.
Alle Faktoren kamen zusammen
Ursache der Unwetterserie war eine spezielle Wetterlage, in der alle Zutaten für sehr heftige Unwetter zusammenkamen: eine starke Temperaturabnahme mit der Höhe, viel Feuchte, Hebung und Windscherung (Änderung des Windes in Stärke und Richtung mit der Höhe). An der Vorderseite eines beinahe ortsfesten Tiefdruckgebiets vor den Britischen Inseln wurden feuchtlabile Luftmassen aus Südwesten nach Süd- und Mitteleuropa gepumpt. Wasser, das vom im Durchschnitt mit 28,7 Grad rekordwarmen Mittelmeer verdunstete, lieferte beständig die Feuchte, die starke Sonneneinstrahlung im Juli sorgte für eine instabile atmosphärische Schichtung – Störungen in der Atmosphäre und die Orografie rissen die energiegeladene Luft wiederholt empor.
Auch die extreme Wetterzweiteilung über Europa spielte bei den Unwettern eine Rolle. Der Norden des Kontinents ist seit Wochen kühl und regnerisch, der Süden sehr heiß und trocken. Die starken Unwetter bildeten sich an der Grenze dieser äußerst unterschiedlichen Luftmassen, die viele Tage entlang der Alpen verlief. Eines davon ließ Anfang dieser Woche über dem Westschweizer Örtchen La Chaux-de-Fonds sogar eine gewaltige Fallböe mit 217 Kilometern pro Stunde entstehen, die enorme Schäden anrichtete.
Besonders betroffen war aber die Po-Ebene, und das ist kein Zufall, wie der Wiener Meteorologe Felix Welzenbach auf seinem Blog erklärt. Die weite Ebene ist ein Geburtsbecken für schwere Unwetter. Von drei Seiten von hohen Gebirgen umgeben, wird einmal eingeflossene schwüle Luft oft wochenlang nicht ausgeräumt, sondern von der Adria her ständig angefeuchtet, schreibt er. Die Folge: Die Luft kann sich extrem mit Energie aufladen. Dadurch entstehen sehr tiefe Wolkenuntergrenzen, und im Zusammenspiel von bodennah östlichen Winden mit darüber liegenden Westwinden eine starke Windscherung, die Superzellen und damit Großhagel und sogar Tornados begünstigt.
Die tagelange Unwetterserie in der Po-Ebene erstaunte durch ihre Heftigkeit auch erfahrene Meteorologen. Allein vom 11. bis 25. Juli sammelten sich fast 5400 Einträge in der europäischen Unwetterdatenbank ESWD des Europäischen Unwetterlabors ESSL – und die Zahl dürfte weiter steigen. Die meisten Meldungen finden sich vom Zentralmassiv bis zum nördlichen Balkan, die dominierenden Erscheinungen waren Hagel (fast 2700 Meldungen) und Wind (2400 Meldungen). An acht Tagen rief der Europäische Unwettervorhersagedienst Estofex in diesem Zeitraum die höchste Warnstufe 3 aus, eine so hohe Zahl höchster Warnmeldestufen gab es noch nie seit Bestehen der Estofex-Forschergruppe im Jahr 2002. Zum Vergleich: Im Mai gab es nur 268 Einträge, im gesamten Juni rund 1100 Einträge.
Enorm viele Unwetter
»Diese hohe Anzahl an Tagen mit Unwettern ist schon beeindruckend«, sagt Marcus Beyer, Meteorologe und Vorhersager bei Estofex. Das Ereignis könne durchaus als außergewöhnlich beschrieben werden, sagt er. Zwei Faktoren lassen die Unwetterserie hervorstechen: Der eine war der sehr hohe Cape-Wert (kurz für Convective Available Potential Energy), der die potenziell verfügbare Energie in der Atmosphäre angibt und mit teils mehr als 5000 Joule pro Kilogramm über Mailand rekordverdächtig hoch lag. Bei Unwetterlagen in Deutschland gelten Cape-Werte zwischen 2000 und 3000 Joule pro Kilogramm schon als hoch. Der andere Grund ist eben die Größe der Hagelkörner. Mehrfach wurden Exemplare mit mehr als zehn Zentimeter gemessen. Dabei gelten Hagelkörner in Tennisballgröße mit etwa sechs Zentimeter im Durchmesser schon als Naturgewalt. Da einige Hagelkörner mehr als ein Pfund wogen, könne man sich leicht vorstellen, wie viel Kraft notwendig ist, damit Hagelkörner nicht vorher aus dem Gewitter fallen, erläutert Marcus Beyer. Die Kraft, die das verhindert, ist der Aufwind, der wiederum von der Stärke der Gewitterenergie, sprich den Cape-Werten, abhängt.
Eine weitere wichtige Zutat für heftige Unwetter ist die Windscherung – wenn also der Wind in der Höhe eine andere Richtung und Stärke hat als am Boden. Erst das gewährt Gewittern ein langes Leben. Ohne die Änderung der Windrichtung und Windstärke mit der Höhe würden Gewitterwolken schon bald wieder in sich zusammenfallen, weil der Regen dann in den feuchtwarmen Aufwindbereich hineinfällt, der die Wolke am Leben erhält. Das Gewitter schneidet sich dann also selbst die Energiezufuhr ab. Langlebig werden Gewitterwolken nur, wenn der Aufwindbereich vom fallenden Niederschlag getrennt wird – das macht die vertikale Windscherung.
Das in Rotation versetzte Schwergewitter steigt dann aus der Höhenströmung aus und entwickelt ein Eigenleben. In diesem Fall sprechen Meteorologen von einer Superzelle, den heftigsten Gewittern, die es gibt. Große Hagelgeschosse bilden sich ausschließlich in solchen rotierenden Wolkentürmen, die starke Aufwinde erzeugen und viel Feuchtigkeit in sich tragen. Großer Hagel von mehr als fünf Zentimeter Korngröße ist überhaupt erst durch Superzellen möglich.
Doch noch immer herrschen große Wissenslücken im grundsätzlichen Verständnis dieser gefürchteten Naturkatastrophen. Kein Wetterphänomen verstehen die Meteorologen so schlecht wie Hagel und Tornados. Trotz hochmoderner Technik und leistungsstarker Großcomputer wissen Forscher noch erstaunlich wenig über das Innenleben einer Gewitterwolke, in denen sich die Eisklumpen bilden. Zudem fallen die kleinräumigen Wetterphänomene noch häufig durch das Raster der Wettermodelle, lassen sich also nur schwer vorhersagen. Daher können Meteorologen vor Hagelunwettern bislang nur sehr kurzfristig und ortsgenau warnen, wütende Superzellen lassen sich meist erst aufspüren, wenn sie schon durchs Land pflügen. Bevor man sich und sein Eigentum dann in Sicherheit bringen kann, ist es zu spät. Deshalb wird intensiv erforscht, wie Hagel in Gewitterwolken genau entsteht.
Vieles ist noch unbekannt
Ob mit dem Klimawandel Hagelschläge häufiger und Eisklumpen größer werden, darüber wird in der Forschung seit Jahren kontrovers diskutiert. Die extremen Hagelsteine und Orkanböen sind allerdings schon ein Hinweis darauf, dass die Gewitter in Europa stärker werden. »In der Literatur wird diskutiert, ob eine erhöhte Meeresoberflächentemperatur im Mittelmeer die Bildung von Superzellen begünstigt«, sagt Henning Rust, Meteorologe von der FU Berlin. Eindeutige Belege fehlen jedoch, weil Hagelschläge zu den kleinräumigen und kurzlebigen Ereignissen zählen, die vom Wetterstationsnetz weder systematisch erfasst noch mit geeigneten Instrumenten vermessen werden. Dadurch mangelt es schon an der Datengrundlage, mit der Trends sicher nachgewiesen werden könnten.
In der Theorie lässt der Klimawandel stärkere Gewitter erwarten, weil eine wärmere Atmosphäre mehr Wasserdampf halten kann. Dieser Effekt ist in der bekannten Gleichung von Clausius-Clapeyron formuliert, pro ein Grad Erwärmung nimmt der Wasserdampfgehalt um sieben Prozent zu. »Mehr Feuchtigkeit in der Luft bedeutet auch mehr Energie in der Atmosphäre, die bei einem Gewitter frei werden kann«, sagt Rust. Im Allgemeinen seien die Randbedingungen für Superzellen aber komplexer.
Und da beharken sich zwei gegenläufige Effekte: Zwar haben die Hagelsteine durch das Ansteigen der Nullgradgrenze infolge der Erderwärmung mehr Zeit, in der Wolke zu wachsen, aber eben auch mehr Zeit, zu Boden zu fallen, weshalb sie stärker schmelzen können. Die Versicherungswirtschaft registriert heute jedenfalls mehr Schäden als früher und rechnet mit einem weiteren Anstieg. Allerdings ist keineswegs klar, ob die Unwetter heftiger werden – oder einfach nur mehr und teurere Sachwerte in ihrem Pfad stehen.
Regional erkennen Meteorologen trotzdem gewisse Trends. Sie hängen im Wesentlichen von der künftigen Entwicklung der beiden Gewitterzutaten Cape-Wert und Windscherung ab. Mit Reanalysen können Meteorologen diesen beiden Parameter für die vergangenen Jahrzehnte untersuchen. Eine Studie der ESSL kam hierbei zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Demnach konnten die Unwetterforscher zeigen, dass es für Teile Südeuropas einen deutlichen Anstieg in der Zahl der Hagelereignisse und der Hagelgrößen gibt. Besonders stach dabei die Po-Ebene hervor, in der sich die Zahl der Großhagelereignisse im Vergleich zu den 1950er Jahren sogar glatt verdreifachte. »Studien haben gezeigt, dass die Hauptursache für die Zunahme die Veränderung der Gewitterenergie (Cape) ist«, sagt Marcus Beyer, genauer die Zunahme der bodennahen Feuchte in den vergangenen Jahrzehnten. Bei der Windscherung ließ sich hingegen kein Trend finden.
Doch Südeuropa ist wohl eine Ausnahme. Weltweit lasse sich keine Zunahme der Häufigkeit durch den Klimawandel feststellen, resümiert Beyer, in Südamerika, Teilen Afrikas und Südchina ist Großhagel sogar seltener geworden – Gewitter sind nun einmal eine sehr komplexe Angelegenheit. Auch in Deutschland ist Großhagel nicht häufiger geworden, legen Untersuchungen nahe. Das bisher größte Eisgeschoss hier zu Lande stürzte im August vor zehn Jahren in Undingen auf der Schwäbischen Alb zu Boden. Es war 14,1 Zentimeter groß und wog exakt 368 Gramm. Getroffen hat es glücklicherweise niemanden.
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